Die Wasserfee

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Astrid

Mitglied
Die Wasserfee


Es regnet. Im Zimmer ist es dunkel wie an einem Wintermorgen, dabei steht Juni auf dem Kalenderblatt. Sie schaut auf den Wecker, der sie mahnt, aufzustehen. Unwillig schiebt sie ihn ein Stück weiter, sodass sein Ziffernblatt nun das fleißige Lieschen anstarrt. Sie zieht die Bettdecke halb über ihren Kopf.
Der Regen pocht auf das Fensterblech, als wollte er nicht zulassen, dass sie weiterschläft. „Ist ja gut, hast gewonnen“ murrt sie in Richtung Fenster. Das Bett knarrt, als sie sich heraushebt.

Im Bad holt sie sich feuchte Füße, als sie in eine Pfütze tritt – der Traps am Waschbecken ist undicht.
Als sie in den Spiegel sieht, ärgert sie sich über die Neonlampe, deren Licht ihr Gesicht so unbarmherzig erfasst. Tränensäcke hängen unter ihren Augen. Ihre Hand greift zum Lichtschalter.

Dabei fällt ihr Blick auf das mit Muscheln verzierte Kästchen. Sie hat es von der Ostsee mitgebracht. Es ist lange her. Die Muscheln sind bereits angegraut vom Staub, der im Bad ohne Fenster täglich mehr zu werden scheint.

Sie liebt es doch eigentlich, das Wasser, das Meer; liebt es, wenn ihre Füße im feuchten Sand Spuren hinterlassen, den Geruch, die Weite und sogar die Salzränder an den Schuhen vom Lecken der Wellen daran.
Sie betätigt den Schalter, steht im Dunkeln, drückt erneut. Das Licht flackert auf, erlischt, wirft sich auf ihr Gesicht. Dann steht sie wieder im Dunkeln, das Kästchen in der Hand. Die Neonröhre glimmt nach, als wäre sie bereit, sofort wieder zu leuchten.
Durch die Lüftungsanlage hört sie den Regen rauschen. Die Finger tasten über die Muscheln.

Das Glimmen hat aufgehört. Ihre Finger bewegen sich noch immer auf den Muscheln und es ist ihr, als würden auch sie rauschen, als würde sie das Meer wieder hören und sie hört ein Summen und sie folgt diesem Summen.

Sie zieht sich an und verlässt die Wohnung. Sie nimmt das Kästchen mit und hält es wie etwas sehr Wertvolles dicht vor ihrem Körper. Sie hat keinen Schirm dabei. Ihre Füße treten in dicke Pfützen – sie achtet nicht darauf.
Die harten Regentropfen hämmern auf ihren Kopf, doch es schmerzt nicht. Es ist vielmehr, als würde er durchflutet; als würden ihr Kopf und ihre Gedanken vom Staub befreit.
Sie ist nass bis auf die Haut. In der Hand, dicht vor ihrem Körper, hält sie noch immer das Kästchen mit den Muscheln, die nun feucht glänzen.

Sie geht weiter. Wasser tropft ihr von den schulterlangen Haaren, von dem Kästchen; verfängt sich in ihren Wimpern, tränkt die nasse Kleidung und lässt sie schwer werden.
Menschen hasten an ihr vorbei, unter Schirmen versteckt. Nur eine alte Frau, die sich mit einer Regenhaube schützt, bleibt stehen und schüttelt den Kopf: „Mädchen, du holst dir eine Erkältung!“ Doch sie ist schon vorbei.

Da reißt der Himmel auf. Die Muscheln funkeln in der Sonne wie kleine Diamanten.

Nein, sie ist nicht krank und sie wird nicht krank.
 
H

Henry Lehmann

Gast
Doch Astrid, sie ist krank und zwar sehr.

Sie leidet unter der gefährlichen Meeres-Klischee-Sentimentitis. Diese bösartige Erkrankung, die zum größten Teil Frauen im Alter von 16 bis 56 befällt, führt zu einem unkontrollierten Muschelsammeltrieb (die häufig in kleinen Gläschen mit Sand und Perlen auf diversen häuslichen Ablagen zu finden sind) und geht nicht selten einher mit rhythmischem Ohren-Rauschen und Gischt in den Fingerknochen.

Männer sind in der Regel dagegen immun, wenn auch hier und da Abwehrreaktionen wie z. B. Schaumbildung im Mund/Rachenraum auftreten können.

*schäumend*

Henry
 



 
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