Die Witwe des Trompeters

Orgelbeben

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Die Witwe des Trompeters

Claire Baudouin, die im Viertel nur die Heilige genannt wurde, saß in einem stillen Moment der Trauer an ihrem Küchenfenster. Vor ihr auf dem Tisch dampfte eine heiße Schokolade ihr unbeachtetes Aroma in den Raum und trübte mit leicht wallendem Schleier die angegilbte Schwarzweiß-Photographie eines elegant wirkenden Mannes. Das Bild hing in einem schlichten, leicht angestoßenen Rahmen an der Wand und dominierte den kleinen, komfortlos eingerichteten Raum mit still vorgetragener Würde. Der Mann war in den besten Jahren. Seine dunklen, streng nach hinten gekämmten Haare glänzten mit den Zähnen um die Wette, der schmale Mund gefiel sich in der Abrundung seiner Freude verheißenden Pose. Das Portrait bildete ihn bis zum Bauch ab. Vor seinem Brustkorb hielt er mit zärtlich zufassenden Händen eine Trompete, als wiege er ein Baby im Arm. Claire Baudouin weinte eine leise Tränenflut die Wangen hinab, als sie seinem leuchtenden Blick begegnete.

Charles, ihr Ehemann, die einzige Liebe ihres Lebens, war vor fünfundzwanzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. In den raren Augenblicken der Ruhe, die sie sich zugestand, wurde ihr die ganze Wucht des Verlustes bewußt, sengten heiß zustechende Messer mit solcher Gewalt in ihr Herz hinein, daß es sie vor Schmerz fast umwarf. Selbst mit mit den Jahren gewann Claire keinen Abstand zur Trauer. Auch wenn ihr Kopf begriffen hatte, daß er nicht mehr da war, erschien es ihr bei jeder Wiederkehr ihrer Tränen, als wäre der Unfall gestern geschehen, als ereignete er sich jetzt. Ihr war, als spürte sie den Zauber seines letzten, süßen Kusses noch auf ihren Lippen. In Momenten wie diesen lief sie Gefahr, daß aller Schmerz sie in der nächsten Sekunde verschlang.

Charles, der Trompeter. Jeder im Viertel kannte ihn, viele riefen grüßend seinen Namen, wenn sie ihn, der stets seinen Trompetenkoffer bei sich trug, auf der Straße antrafen, die Leute luden ihn spontan zu einem Kaffee ein, was Charles jedoch meistens ausschlug, weil er üben mußte. Zu dieser Zeit, es muß vor etwa fünfunddreißig Jahren gewesen sein, war Charles bereits eine nationale Größe und einer der hochverehrten Mitglieder des Modern Jazz-Quintetts Les Domptoirs de la Nuit. Es war die Zeit der frischen Melodie, der Experimentierfreude, der Überwindung vorgegebener Grenzen. Es war kurz vor der Zeit, als Charles bei einem Gig von einem der weltbekannten amerikanischen Jazzmusiker entdeckt und prompt für eine Europatournee engagiert wurde. In diesen verheißungsvollen Tagen verliebte er sich in die blutjunge Erzieherin Claire Ragneaux, die wenige Meter von seiner Wohnung entfernt in einem städtischen Kindergarten arbeitete. Die ruhige, in bescheidener Einfachheit lebende Claire, eine hübsche Person von damals knapp zwanzig Jahren, erwiderte seine Liebe, deren heftiger, romantischer Sturmwind ihr den Atem nahm. Mittags, wenn die Kinder für eine Stunde ruhten, trafen sich Charles und Claire unter der Kastanie in dem kleinen Garten, der zum Kindergarten gehörte.

Errötend genoß sie den zarten Wohlklang seiner Komplimente, erlaubte ihm einen flüchtigen Kuß, wenn sie sicher war, daß niemand sie beobachtete, und lauschte ergriffen seinen Erzählungen von der Musik, von den Proben mit den anderen Jungs und von seinem Traum, eines Tages zusammen mit den schwarzen Jazzkoryphäen Amerikas auf der Bühne zu stehen und wenigstens einen Hauch ihres Glanzes mit nach Hause zu nehmen. Sie bewunderte Charles für die schwärmerische Art, mit der er seine Träume vortrug. Claire fühlte, daß er genug Energie besaß, um aus seiner Phantasie Wirklichkeit werden zu lassen. In der rosaroten Welt ihres Verliebtseins entging ihr, daß Charles von sich redete, daß ihre gemeinsame Zukunft und seine eigene identisch waren. Er war so sehr durchdrungen von seiner Idee von sich selbst, daß er alles andere darüber vergaß. Natürlich war seine Liebe zu Claire aufrichtig, aber sie war es auf seine Weise. Er wurde nicht müde, ihr zu erzählen, was er ihr alles kaufen würde, wenn er erst einmal berühmt war. In den buntesten Farben beschrieb er das Haus, in dem sie wohnen würden, erfand Namen und Kosewörter für ihre Kinder.

Seiner Begeisterung entging Claires abwartendes Schweigen. Sie wartete geduldig auf den Moment, an dem er endete, um ihre eigenen Wünsche auszusprechen, doch kaum hob sie an, war ihm bereits die nächste Vision gekommen. Für ihn stand fest, daß Claire die Rolle zukam, die Gattin eines berühmten Jazztrompeters zu sein. Seine Sicht der Welt, die jeden Mittag unter dem Kastanienbaum ein Stück heranwuchs, entsprach der Vollkommenheit ihres gemeinsamen Glücks. Charles war so sehr von seiner Bestimmung vereinnahmt, daß er Claire niemals die Gelegenheit zum Erzählen gab, wie sie sich ihr Leben mit ihm vorstellte. Er ging einfach davon aus, daß seine Welt für sie beide reichte, womit er in den ersten Jahren Recht behielt.

In ihrer Bewunderung für Charles Baudouin, den Mann, dem alles, wovon er träumte, zu gelingen schien, ließ Claire eigene Wünsche und Bedürfnisse ruhen. Sie gab sich mit ihrer Arbeit im Kindergarten zufrieden, begnügte sich unter Freundinnen und Nachbarn mit ungezwungenen Plaudereien über das Alltägliche und bügelte Charles sorgfältig die weißen Hemden, die er für seine Auftritte bevorzugte. Ein Jahr nach dem ersten Treffen im Garten des Kinderhorts heirateten sie. Claire brauchte einige Zeit, bis sie sich daran gewöhnt hatte, daß sie von nun an von jedem Mme Baudouin genannt wurde. Es befremdete sie, wenn Burschen, die sie ein paar Tage zuvor bei einem Gig gesehen hatte, sie freimütig auf das Konzert ansprachen und über Charles’ unverwechselbaren Stil zu philosophieren begannen. Sie war peinlich berührt, als sie bei der Frage, ob Charles der europäische Miles Davis sei, ins Stocken geriet, weil sie nicht genau wußte, was dieser Davis mit ihrem Mann zu tun hatte. Seit sie Mme Baudouin war, lernte sie, in den Blicken der Leute zu lesen. Für diejenigen, die sie seit ihrer Kindheit kannten, blieb sie die kleine Claire, deren Papa vor dem Krieg der Drogerieladen neben dem Postamt gehört hatte. Es gab alte Leute, die sie immer noch fragten, wie es ihm ging, obwohl im Viertel allgemein bekannt war, daß er als Mitglied der Widerstandsbewegung verhaftet und erschossen worden war, nur drei Wochen, bevor die Alliierten die Nazis vertrieben. Mit diesen Menschen hatte Claire gelernt zu leben.

Es waren die Neider, vor allem unter den Frauen, deren falsch lächelnde Blicke sie beunruhigten. Es waren spitze Bemerkungen beim Friseur, unangenehme Andeutungen wie die über den liederlichen Lebenswandel, den besonders die Jazzmusiker zu pflegen schienen. Einmal fragte die Frau des Grundschulleiters, eine mißgünstige Person, die sich gern am Unglück anderer weidete und mit Sicherheit 102 Jahre alt werden würde, um ihre Häme voll auskosten zu können, ganz beiläufig, welche Drogen Charles denn nähme, um solch eine komische Musik zustande zu bringen. Die amerikanischen Jazzmusiker würden alle Drogen nehmen, aber das seien ja auch alles Schwarze. Claire war empört. Charles trank nicht einmal im Übermaß, und was Drogen mit Schwarzen zu tun hatten, wollte ihr auch nicht in den Kopf. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, daß die anderen Damen, die an diesem Vormittag beim Friseur saßen, entweder nickten oder schwiegen. Keine von ihnen erweckte den Eindruck, etwas gegen die Behauptung zu haben, daß Jazzmusiker Drogen konsumierten. Ihr Mann nehme keine Drogen, schleuderte sie außer sich in die hämischen Gesichter und verließ mit zornesroten Wangen den Salon. Den Einwurf des Barbiers, daß er die Musik ihres Mannes ganz entzückend fände, hatte sie überhört.

Charles und Drogen! Claire prägte sich die Blicke ein, hinter denen sie Häme vermutete, und zu ihrer Bestürzung waren sie plötzlich überall. Jeder, der sie ansprach und auf Charles zu sprechen kam, schien in Wirklichkeit nach Drogen zu fragen. Jeder, der Charles’ Musikstil lobte, war in ihren Ohren davon begeistert, daß man als Drogenkonsument zu solch künstlerischen Höhen gelangen konnte. Überall, hinter jedem Gesicht sah sie die Frau des Grundschulleiters, ihre Bigotterie, ihren den Schlagzeilen der Boulevardpresse nachgeplapperten Vorwurf und den daraus abgeleiteten Schuldspruch. Claire sagte sich, daß sie unter Verfolgungswahn litt, da ihr die unverschämte Behauptung und die plumpe Gemeinheit, mit der sie vorgetragen worden war, so sehr zusetzte, daß sie in ihrem Schock über das Gesagte wohlmeinende Worte nicht mehr von den hämischen unterschied.

Charles lachte nur, als sie ihn über die Verletzungen aufklärte, die man ihrem und seinem Ruf mit diesen abscheulichen Phrasen beigebracht hatte. Das schlimmste an allem war, das Claire wußte, daß es unsinnig war, sich deswegen angegriffen zu fühlen, aber sie tat es nun mal. Charles nahm sie in den Arm, küßte sie auf die Stirn und meinte nur, dies sei eben die Kehrseite des Ruhms. Da er trotz seines hohen Bekanntheitsgrads und der vielen Auftritte noch keine nennenswerten Einkünfte gemacht hatte, die den Neid anderer rechtfertigten, kamen die bösen Worte auch ihm seltsam vor, aber für ihn waren die Leute, wie sie waren. Mit Menschen, die keinen Zugang zu seiner Musik hatten, pflegte Charles ohnehin wenig Kontakt, ihre Meinungen und Vorbehalte waren ohne Wert für ihn. Claire, die den Menschen des Alltags und ihren Äußerungen in größerem Umfang ausgesetzt war, nahm sich die Häme jedoch zu Herzen, zumal sie kein direktes oder indirektes Wort gegen sich erinnerte, seit sie als Kind damit begonnen hatte, ihre Umgebung mitsamt den Menschen darin als ihren Lebensraum wahrzunehmen und zu akzeptieren. Charles zuliebe beschloß sie, für sich einen Weg zu finden, der ihr dabei half, die Anfeindungen des Alltags zu ertragen. Mit der Zeit faßte sie den Mut, gehässige Bemerkungen mit einer treffenden, aber stets sachlichen Antwort zu parieren, und verschaffte sich damit einigen Respekt.

Die Monate verstrichen. Charles’ Engagements wurden immer zahlreicher, seit neuestem spielte er sehr oft außerhalb der Stadt, einige Male sogar im angrenzenden Ausland. Das hatte den Vorteil, daß er allmählich richtiges Geld verdiente, aber dafür der gemeinsamen Wohnung über Tage und manchmal über Wochen fernblieb. Claire weigerte sich trotz seines Drängens, die Stelle im Kindergarten aufzugeben, um ihn die ganze Zeit begleiten zu können. Die vielen Auftritte, die plötzlich ihr gemeinsames Leben bestimmten, die Journalisten, deren Fragedurst unstillbar nach Löschung verlangte, der endlos tanzende Rummel um Charles’ Person, den er vollkommen auskostete, waren ihr zuviel. Sie schätzte ein Leben, das in geordneten Bahnen verlief, doch im Sog ihres Gatten fühlte sie sich jeden Tag aufs Neue überrumpelt, ohne das Gefühl zu haben, auf ihren eigenen Beinen zu stehen.

Natürlich war Claire stolz auf ihren Mann, sie freute sich für ihn, wenn er, euphorisch wie eh und jeh, den Ruhm des Auftritts in sich tragend, die jüngst verklungene Magie eines Jazzkonzerts für sie noch einmal heraufbeschwor. Sie liebte es, wenn er zu den Klängen einer kurz zuvor erdachten Melodie zur Trompete griff und das frische Werk für sie intonierte, nur um das Instrument im selben Augenblick auf den Tisch gleiten zu lassen und sie, zärtlich ihren Namen summend, mit leuchtender Leidenschaft an sich zu ziehen. Die daraufhin unvermeidlich, aber taktvoll knarrenden Bettfedern jener Abende gedachten der gebotenen Elastizität, welche die junge Ehe im Angesicht des brodelnden Erfolges zu meistern hatte. Doch mit den Monaten veränderte sich die Gunst des Augenblicks. Die enorme Anstrengung, welche den Erfolg unweigerlich begleitete, forderte ihren Tribut ein. Charles’ Begeisterung, bis dahin eine seiner am meisten bewunderten Charaktereigenschaften, wirkte, besonders nach Auftritten, die in der Kritik schlecht abgeschnitten hatten, immer häufiger inszeniert. Seiner Frau zeigte er bis dahin unbekannte Zustände körperlicher und geistiger Erschöpfung, die ihn an der Aufmerksamkeit, die ihr eheliches Leben verdiente, nachdrücklich hinderte. Die knapp bemessene Zeit, in der sie sich sahen, ohne die Gegenwart anderer berücksichtigen zu müssen, wurde zu Momenten stumpf verlebter Lethargie, in denen Charles und Claire es versäumten, einander nahe zu sein. Die Kluft zwischen den verschiedenen Welten, in denen sie lebten, begann mit unterschwelligem Knacken, sich zu einem schwer überbrückbaren Abgrund zu öffnen. Zwei Hände, zuvor im festen Griff der Partnerschaft vereint, lösten sich in Anbetracht einer unaufhaltsam hereinbrechenden Naturgewalt.

Es kam vor, daß Charles auf die Erzählungen seiner Frau mit ungewohnt heftiger Gereiztheit reagierte, weil er für die Anhörung alltäglicher Erlebnisse, wie seine Frau sie berichtete, kein Ohr besaß. Sie sollre ihn besser inspirieren, herrschte er sie an, als irgendeinen Quatsch vom Friseur von sich zu geben. Sein scharfer Ton tat ihm der derselben Sekunde leid, doch entgegen seiner Absicht häuften sich Ausbrüche, die ihr schmerzvolle Tränen in die Augen zwangen. Zunächst schob sie es auf seine fortwährende Überlastung, auf den Erfolgsdruck, dem er sich ausgesetzt sah und verzieh ihm rasch, da ihr Gemüt inzwischen gelernt hatte, das Gift hämisch geäußerter Worte zu verwässern. Anfangs schämte sie sich noch dafür, in dem Gesagten ihres Mannes insgeheim etwas Böswilliges zu erkennen, später, als fortwährender Streit die dünn gewordene Sehne ihrer Ehe überdehnte, konfrontierte sie ihn damit, und brachte die Schnur zum Reißen. Den Nachbarn war der Hader im Hause Baudouin nicht verborgen geblieben, was dazu führte, daß durch einen Streit geschürte Gerüchte schon bald auf der Straße und schließlich in der Abendausgabe der Boulevardblätter die Runde machten. Die Damen des Viertels diskutierten beim Friseur eifrig darüber, ob diese Ehe noch zu retten sei, die Frau des Grundschullehrers fühlte sich in ihrer Auffassung bestätigt, daß Drogen und Alkohol den berühmten Musiker in den Wahnsinn getrieben hätten, weil diese Musik einen solchen Lebenswandel nun einmal herausfordere. Niemand widersprach ihr. Die Männer in den Cafes schlossen Wetten ab, wie lange die Ehe zwischen Charles und Claire Baudouin noch halten würde. Einige fragten mit böser Zunge, wer am Ende wen aus dem Fenster beförderte. Eine Nachbarin aus dem Erdgeschoß behauptete, Claire eines frühen Morgens mit unordentlicher Bekleidung und betrunken im Hausflur angetroffen zu haben, was ihr im Kindergarten, wo ihre Beziehung zu Charles immer aufmerksamer verfolgt wurde, zusätzlichen Ärger einbrachte. Sie hatte große Schwierigkeiten damit, zu belegen, daß sie im Windschatten ihres Mannes keinen lästerlichen Lebenswandel führte und mußte schließlich einen Bluttest machen, um ihren selbsternannten Kritikern zu beweisen, daß sie nicht trank. Nur mit Mühe und unter Berufung auf den Bonus vergangener Tage schaffte sie es, ihren Job zu behalten. Die Nachbarin, der üblen Nachrede ertappt, tat von nun an so, als sehe sie Claire nicht, wenn sie ihr im Hausflur begegnete. Noch Jahre später, als niemand ihr gegenüber diese Zeit nochr zum Thema machte, fragte sich Claire, wie es so weit hatte kommen können. Die Antwort war einfach.

Der Streit zwischen ihr und Charles eskalierte, als sie herausfand, daß er Drogen nahm. Während sie den Mutmaßungen aus Nachbarschaft und Presse abweisend gegenüberstand und ihren Mann trotz seiner Wutanfälle vor den Anfeindungen von außen in Schutz genommen hatte, hielt Charles in Musikerkreisen bereits den unrühmlichen Ruf eines ernstzunehmenden Drogenabhängigen. Man betrachtete dort seine Sucht nicht mit der üblichen moralischen Abscheu, solange sein Spiel immer schnellere, immer faszinierendere Modulationen hervorbrachte, die wiederum seine Partner zu musikalischen Höchstleistungen trieben. Doch jenseits der Bühne galt der ursprünglich friedfertige Charles mittlerweile als unberechenbar. Mal schrie er den Bassisten wegen einer falschen Note zusammen, mal warf er mit Flaschen nach einem der privilegierten Probenzuhörer, weil ihm dessen Gesicht nicht paßte. Zum endgültigen Eklat kam es, als er während eines Auftrittes Zuschauer beleidigte, die ihm seiner getrübten Auffassung nach zu wenig Aufmerksamkeit erwiesen. Um seine groben Worte zu unterstreichen, ließ er die Hosen runter und präsentierte dem brüskierten Publikum sein Hinterteil. Als ihn die übrigen Bandmitglieder von der Bühne ziehen wollten, fing er eine wüste Schlägerei an, bei der er dem Bassisten eine Kieferfraktur zufügte. Erst der Schlagstockeinsatz der eilends herbeigerufenen Polizei vermochte dem grotesken Spektakel ein Ende zu setzen. Charles verbrachte die Nacht im Gefängnis. Er hatte eindrucksvoll dafür gesorgt, die Jazzmusik in der Öffentlichkeit in Verruf zu bringen.

Claire erfuhr von dem Vorfall von einem der Bandmitglieder. Sie wollte immer noch nicht glauben, das Charles drogensüchtig war, doch das jüngste Ereignis entfachte ihren Zweifel. Sie untersuchte seine Kleidungsstücke, um Gewißheit zu erlangen und erschrak, als sie in einem seiner Jacketts das kleine Tütchen entdeckte, in dem sich der winzige Rest eines weißlichen Pulvers befand. Zorn schwoll ihren Hals hinauf, sie warf das Jackett in eine Ecke und riß in ihrer Wut die Bücher aus dem Regal. Dann weinte sie, denn ihr wurde klar, wie naiv sie gewesen war. Sie sah nun ein, daß ihr Mann, entgegen ihres Vertrauens, daß sie bei allem Streit in ihn gesetzt hatte, Drogen nahm.
Sie beschloß, zum Gefängnis zu fahren, um ihn zur Rede zu stellen. Dort ließ man sie wissen, daß ihr Mann wegen seines Drogenmißbrauchs in eine geschlossene Klinik geschickt worden sei, wo er bis zu seiner vollständigen Genesung verbleiben müsse. Danach würde ihm wegen einer Reihe von Delikten der Prozeß gemacht. Vor Ablauf einer Behandlungsfrist von vier Wochen dürfe ihn niemand besuchen, auch nicht seine Frau. Die Polizisten waren nicht sonderlich auskunftswillig und ihre abschätzenden Blicke verrieten Claire, daß man sie ebenfalls für eine Süchtige hielt. Sie verzichtete darauf, sich zu beschweren, daß man sie über die Verbringung ihres Mannes nicht benachrichtigt hatte, und ging. Sie war fest entschlossen, Charles zu sehen.

Das Krankenhaus, die einzige Einrichtung ihrer Art in der näheren Umgebung, war in einem ehemals herrschaftlichen Landsitz untergebracht. Sie fuhr mit dem Taxi vor und mußte beim Durchschreiten des Eingangsportals voller Schrecken feststellen, daß diese Einrichtung für Kranke gedacht war, denen man keine Hoffnung auf Genesung mehr zumaß. Bereits auf den ersten Blick sah diese Klinik wie eine Irrenanstalt aus, in der man schwerste Fälle kasernierte, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Am Empfang verlangte sie mit dem behandelnden Arzt ihres Mannes zu sprechen. Nach anderthalb Stunden Wartezeit ließ man sie vor. Der Doktor war freundlich. Er klärte sie über den Zustand ihres Mannes auf, bezeichnete diesen wiederholt als sehr ernst, da sich seine Sucht im fortschreitenden Stadium befinden würde, und eine Chance auf Heilung nur durch die strikte Einhaltung medizinischer Disziplin zu erreichen wäre. Vier Monate sei das Minimum für einen Entzug, wie der Doktor die angestrebte Kur betitelte. Arglos fragte er nach Claires persönlichen Erfahrungen mit Drogen, deren Vorhandensein sie verneinte. Sie nehme keine Drogen und habe sich mit diesem Thema bislang kaum auseinandergesetzt. Der Arzt sah ihr an, daß sie nur eine vage Ahnung von dem besaß, was mit ihrem Mann geschehen war. Er offerierte ihr, in der nächsten Woche zur selben Zeit wiederzukommen. Wenn sie es wünschte, würde er ihr eine Vorstellung davon vermitteln, was Drogen mit ihren Konsumenten anrichteten. Unter der Voraussetzung, daß sie ihren Mann sehen dürfe, sagte Claire zu.

Was sie in der folgenden Woche zu hören und zu sehen bekam, verschlug ihr den Atem. Rückblickend betrachtet trafen viele der genannten Symptome auf ihren Mann zu. Claire machte sich Vorwürfe, wie sie all dies hatte übersehen können, sie sagte sich, daß sie Charles von seinem Drogenkonsum hätte abhalten können, wenn sie nur die Augen geöffnet hätte, anstatt sich von seiner aufbrausenden Art verletzen zu lassen. Als sie nach der Aufklärung seitens des Arztes schließlich einen Blick durch das schmale, vergitterte Türfenster in das Krankenzimmer ihres Mannes werfen durfte, erblickte sie das, was von dem berühmten Trompeter Charles Baudouin übrig geblieben war: ein zusammengekauerter, zitternder Mann mit ausgezehrtem, leer starrenden Blick, der von blauen Flecken und Schürfwunden übersät war und geistesabwesend Sabberbläschen aus seinem Mund blies. Claire bedeckte vor Entsetzen mit beiden Händen ihr Gesicht. Sie konnte es nicht fassen, daß dieses Häufchen Elend ihr Mann war, wandte sich unter Tränen von der Tür ab und verließ die Klinik nach einer knappen Verabschiedung vom Doktor. Doch bereits am nächsten Tag kam sie wieder, bestand darauf, ihren Mann zu sehen und erreichte, daß der Doktor den Besuch gestattete. In der vorangegangenen, schlaflosen Nacht hatte Claire sich entschlossen, für ihren Mann zu kämpfen. Der Doktor hatte sie darauf vorbereitet, daß Charles, je nach momentaner Verfassung, schwierig sein könnte und stellte zu ihrer Sicherheit einen kräftig gebauten Pfleger ab, der im Falle einer Notsituation eingreifen sollte. Doch entgegen der Befürchtungen zeigte Charles seiner Frau gegenüber keine Spur von Aggressivität oder Verweigerung, wie er es bei den Pflegern getan hatte. Ungläubig betrachtete er Claire, die plötzlich, mit zittrigen Knien und einem Kloß im Hals vor ihm stehend, in seine von Qualen gezeichnete Welt hineinbrach. Er hatte in irgendeiner Ecke des Raumes vor sich hingedämmert, was er grundsätzlich tat, wenn er nicht wild tobend die Tür mit seinen Fäusten bombardierte. Das Klacken des Schlosses und die eintretende Person ignorierte er, bis eine zaghafte, sanfte Stimme aus weiter Ferne seinen Namen rief. Charles.

Seine Augen erkannten sie, füllten sich mit salziger Traurigkeit und entließen die plötzliche Empfindung in dick kullernden Tränen auf die verwüsteten, rötlich geäderten Wangen. Charles stolperte unbeholfen auf die Beine, näherte sich Claire demütig wie einer unbeschreiblich göttlichen Erscheinung, fiel zweimal hin und rappelte sich schließlich, in schwerfälligen Zügen den Duft ihrer seidenweichen Kleidung kostend, vor ihrem erstarrten Körper hoch. Claires Herz drohte in seiner Nähe zu Bersten. Sie blickte in das Gesicht eines Aussätzigen. Charles begann zu stammeln, blickte zu Boden, bat um Vergebung dafür, daß er es so weit hatte kommen lassen. Er bedauerte, daß wegen seiner fanatischen Hingabe an die Musik ihre Partnerschaft gelitten hatte, daß er, bei alledem, was ihn belastet hatte, nicht imstande gewesen war, sich ihr mitzuteilen. Seine Hand suchte zittrig die Geborgenheit der Ihrigen. Er versprach, seine Sucht zu überwinden, neu anzufangen, mit der Musik, mit ihr. Sie glaubte ihm, nahm sein Versprechen an und kehrte in den folgenden Wochen regelmäßig wieder, um ihm den Neubeginn mit ihrer Anwesenheit zu erleichtern. Sie wußte, daß Charles auf sich allein gestellt, ohne den Anreiz, den eine andere Person ihm gab, ein zielloser, wankelmütiger Mensch war, der am Anspruch seiner noblen Absichten zu scheitern drohte. In ihrer Gegenwart besserte sich sein desolater Zustand in kleinen, aber stets nach vorne gerichteten Schritten. Charles aß wieder regelmäßig, und schon bald erlaubte der Doktor Spaziergänge im Park, bei denen ein Pfleger dem Ehepaar Baudouin in gebührendem Abstand folgte, um trotz der strengen Aufsichtspflicht die Privatsphäre zu wahren. Sechs Monate später wurde Charles entlassen.

Die stationäre Entgiftung hatte unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden, was Claire in der trügerischen Sicherheit wog, daß das Schlimmste ohne weitere Katastrophen überstanden war. Doch bereits wenige Stunden nach ihrer Rückkehr schellte das Telephon, und eine forsche Stimme am anderen Ende forderte ein Interview mit dem Heimgekehrten. Charles müsse erklären, wie er sich die Zukunft seiner Musik vorstelle, nachdem ihr Ruf durch seine Eskapaden gelitten habe. Eine Reihe solcher Anrufe folgten, Claire hatte einige Mühe, die bisweilen unverschämten Reporter abzuwimmeln. Es war ihr ein Rätsel, woher die Presse wußte, daß Charles wieder zu Hause war. Claire hatte Wert darauf gelegt, die Rückkehr so unauffällig wie möglich zu vollziehen, weshalb sie die Mittagszeit als Termin auserkoren hatte. In der Tat war alles ruhig, als sie aus dem Taxi stiegen, kaum Leute auf der Straße, niemand, der den Eindruck machte, stehenden Fußes die Presse zu alarmieren. Der Fahrer war ein alter Bekannter ihres Vaters, dem sie vertraute. Sie erinnerte sich nur, daß hinter der Wohnungstür im Erdgeschoß, wo die Verleumderin wohnte, Geräusche zu hören gewesen waren. Claire stieg die kalte Wut ins Gesicht. Natürlich hatte diese alte Schnepfe sie verraten. Wieder klingelte das Telephon, Claire meldete sich gereizt. Es war die Polizei. Charles hätte morgen früh acht Uhr im Polizeipräsidium vorstellig zu werden. Willkommen im Alltag, dachte Claire, ging leise ins Schalfzimmer und beobachtete ihren schlafenden Mann. Dünn war er geworden, sein entspanntes Gesicht zeigte eine ungewohnte Blässe. Er atmete ruhig und regelmäßig.

Am nächsten Morgen konfrontierte ihn die Polizei ungeachtet seines geschwächten Zustandes mit den von ihm begangenen Rechtsbrüchen. Mehrfache Erregung öffentlichen Ärgernisses, schwere Körperverletzung, Drogenmißbrauch und- Drogenhandel. Eines seiner Bandmitglieder behauptete, regelmäßig Drogen von ihm erhalten zu haben. Es war der Bassist. Der Beamte erklärte Charles, daß man Anklage gegen ihn erheben würde und daß die Betrauung eines Rechtsbeistandes ratsam sei. Charles besaß nicht die Kraft, den Vorwürfen etwas entgegenzusetzen. Er nickte nur ab, was der Beamte sagte, erhob sich und ging. Auf dem Heimweg mußte er Claire eingestehen, daß er tatsächlich hin und wieder Kokain für die Jungs besorgt hatte. Er sagte, es täte ihm leid.

Die meisten Leute, denen sie begegneten, und die Charles fast alle kannten, nahmen keine Notiz von ihnen. Claire fröstelte unter den eisigen, starr an ihnen vorbei gerichteten Blicken. Nur Jules, der den Zeitungskiosk hatte, fragte Charles ohne Hintergedanken, wie es ihm gehe. Charles lächelte nur, ohne zu antworten. In den folgenden Tagen nahm der Druck auf ihn zu. Reporter riefen nicht nur an, sondern belagerten sogar den Hausflur, bedrängten Claire, wenn sie morgens zur Arbeit ging, versuchten sie mit falschen Anschuldigungen zu provozieren. Es kam so weit, daß die Polizei den Hausflur räumen mußte, weil die Nachbarn sich über den andauernden Lärm beschwerten. Am Ende hatte außer Charles jeder Hausbewohner seine Meinung über den Fall zum Besten gegeben. Keiner ergriff für den gescholtenen Trompeter Partei. Auch von Seiten der Polizei nahm der Druck zu. Charles wurde laufend zu Verhören bestellt, immer neuen Vorwürfen ausgesetzt, mit schwerwiegender Bestrafung bedroht, falls er nicht kooperierte. Sein Anwalt, der ein großer Jazzfreund war und der die Verteidigung des Musikers als Verteidigung der Musik an sich verstand, hatte alle Mühe, die vielen in die Gespräche eingestreuten Gerüchte und Halbwahrheiten zu entkräften. Fürsprecher hatte Charles kaum. Seine Bandmitglieder, denen ebenfalls eine strafrechtliche Verfolgung wegen ihrer Drogendelikte drohte, hielten sich bedeckt, um nicht selbst in die Schußlinie zu geraten. Es hatte den Anschein, als sollte an ihm ein Exempel statuiert werden.

Das einzig Gute an der unerfreulichen Auseinandersetzung war, daß sie Charles und Claire zusammenschmolz wie nie zuvor. Sie achteten einander auf eine ganz andere Art als in den Tagen des Ruhms. Sie gaben einander Rückhalt und Geborgenheit, wenn eines ihrer vier Augen erschöpfte Tränen der Verzweiflung beschrieb. Claire hatte das Gefühl, daß Charles ihr aufrichtig zuhörte, sich ihrer Sorgen annahm und sich nicht, wie so oft, ihrer Beurteilung des Alltags durch eine sarkastische Bemerkung entzog. Er hatte inzwischen begriffen, daß es jenseits des Jazz noch eine andere Welt gab, deren Regeln für seine Person Geltung besaßen. Ihre Liebe blühte im Angesicht einer den Horizont vernebelnden Haftstrafe und setzte den Anfeindungen des Tages sinnliche Momente nächtlicher Leidenschaft entgegen. Durchdrungen von ihrem Liebesgefühl und der rosigen Vision eines Neubeginns waren sie entschlossen, die ihnen auferlegten Hürden zu überwinden. Bis zu jenem Dienstag. Charles war früh aus dem Haus gegangen, um sich mit seinem Anwalt zu treffen.

Bisher hatte die Polizei aus irgendwelchen Gründen darauf verzichtet, ihn in Haft zu nehmen. Vielleicht hielt man Charles aufgrund der Zeugenaussagen für einen dicken Fisch im Drogengeschäft und wollte über ihn an seine Hintermänner herankommen. Charles hatte gelacht, als ihm sein Rechtsbeistand diese These unterbreitete, doch dessen eingefroren ernste Miene hatte ihn flugs verstummen lassen. In Konfrontationen wie diesen begriff er allmählich, daß er sich in einer ernsten Lage befand. Der neuerliche Termin hatte sich ergeben, weil der Anwalt unter Berufung auf zahlreiche Formfehler beim Verhör seitens der Polizei und die erwiesenen Falschaussagen einiger als verfahrensrelevant betrachteter Zeugen den schwerwiegendsten Anklagepunkt, den mutmaßlichen Drogenhandel, aus der Anklageschrift entfernt wissen wollte. Charles sollte als Justizopfer dargestellt werden, was bei Gelingen die Vollstreckung eines strengen Urteils äußerst unwahrscheinlich machen würde. Mit diesem Wissen im Hinterkopf verließ Charles nach einem langen, zärtlichen Abschiedskuß in zuversichtlicher Stimmung das Haus. Er kam genau zwei Querstraßen weit. An der großen Kreuzung, wo der Boulevard St.Michel in die Obere Ringstraße mündete, wurde er von einem Lastwagen erfaßt, der die rote Ampel übersehen hatte. Jede Hilfe, die von den aufgeregten Passanten angestrengt wurde, kam zu spät. Charles starb, zunächst unerkannt, noch am Unfallort. Claire war drauf und dran, ihrem Gatten zu folgen, als sie von seinem Unfall erfuhr. Nur das beherzte Eingreifen der beiden Polizisten, die ihr die Nachricht überbrachten, verhinderte, daß sie sich in ihrem ersten Schmerz vor ihren Augen die Pulsadern aufschnitt. Die folgenden Nächte verbrachte sie im Städtischen Krankenhaus, nahm apathisch an der Beerdigung Teil, die an einem regnerischen Herbsttag im engsten Kreis auf dem kleinen Kirchhof in der Nähe des Kindergartens stattfand und zog sich danach für Wochen in die Einsamkeit zurück.

Sie lebte vom bescheidenen Vermögen ihres Mannes, daß nach der Entziehungskur, den Schmerzens-und Bußgeldern, auf deren Zahlung sich Anwalt und Ankläger nach Charles’ Tod überraschend schnell geeinigt hatten, gerade zur Deckung ihrer monatlichen Aufwendungen ausreichte. Sie ging nicht mehr in den Kindergarten zurück. Nach einigen Jahren, in denen sie vorwiegend den Nachlaß ihres Mannes verwaltete und ansonsten zurückgezogen in ihrer Wohnung lebte, faßte sie die Entscheidung, mit dem verbliebenen Geld und einem ihrer Bank beschwerlich abgetrotzten Kredit ein kleines Cafe einzurichten. Dort spielte sie Jazzmusik, um die Erinnerung an ihren Mann wachzuhalten, schmückte die Wände mit Schwarzweißphotographien berühmter drogensüchtiger Musiker und bot den Süchtigen, die weit über die Künstlerzirkel hinausgewachsen waren und von ihrer Sucht loskommen wollten, eine Anlaufstation. Anfangs kamen Dealer, die sich darüber freuten, daß ihre Kunden alle auf einem Haufen vesammelt waren und andere zwielichtige Personen, die den Sinn und Zweck des Cafe Baudouin mißverstanden.

Doch Claire sorgte dafür, daß ihre eigentliche Zielgruppe auf sie aufmerksam wurde. Sie arbeitete mit dem Arzt zusammen, der ihren Mann behandelt hatte, gewann die beiden Polizisten für sich, die sie am schlimmsten Tag ihres Lebens vom Selbstmord abgehalten hatten und arrangierte sich mit den Nachbarn, die ihrer Idee einer Begegnungsstätte für Drogensüchtige bestenfalls skeptisch gegenüberstanden. Als die ersten Schwierigkeiten überwunden waren und der Kreis ihrer Unterstützer wuchs, weil Claire Erfolge präsentieren konnte, die darin bestanden, daß dank ihrer Einrichtung junge Menschen von ihrem Drogenmißbrauch entwöhnt wurden, verminderte sich der Argwohn ihrer Kritiker. Durch ihre Kontakte zur Polizei verbannte sie die Dealer aus ihrem Laden und sorgte dafür, daß sie wegblieben. Dank ihrer unerschütterlichen Geduld mit den Süchtigen, die sie um Unterstützung ersuchten, machte sie sich einen Namen in der Szene: man nannte sie wegen ihres selbstlosen Eintretens für das Wohlergehen ihrer Schützlinge bald die Heilige, einen Titel, den sie selbst nie führte und mit dem sie niemand ansprach. Nach den ersten Erfolgen folgten die ersten Rückschläge, die Claire dazu veranlaßten, ihre Hilfe auszubauen, ihr Angebot professioneller zugestalten. In den folgenden Jahren war sie durch Spenden in der Lage, Aufklärungsseminare anzubieten, Kuren zu vermitteln, Mitarbeiter zu beschäftigen, die den Süchtigen halfen, bei formalen Dingen, bei anstehenden Gefängnisaufenthalten, aber auch bei Alltäglichkeiten ihre Würde zu bewahren.

Natürlich beseitigte Claire Baudouin die Drogen nicht aus der Stadt oder auch nur aus dem Viertel, aber sie sorgte dafür, daß die Süchtigen eine Chance erhielten, sich wieder ins bürgerliche Leben einzugliedern. Durch Charles hatte sie gelernt, daß es wichtig war, jemanden bei dieser Art Kampf nicht sich selbst zu überlassen. Zu ihrer späten Genugtuung wurde Charles nach Jahren des Stillschweigens als Künstler rehabilitiert, seine Stücke von anderen Musikern neu aufgelegt, sein Name in der Fachpresse geehrt. Jetzt, fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod war sogar ein jährliches Festival im Gespräch, daß seinen Namen tragen sollte. Seine Eskapaden und seine Drogensucht wurden nur am Rande erwähnt und als zeittypische Jugendsünden behandelt.
Die Arbeit half Claire, den Schmerz über den Verlust ihres Mannes im Zaum zu halten, doch an trüben, regnerischen Sonntagen, wenn sie nachmittags sinnend bei einem heißen Kakao in der Küche saß, führte sie sich vor, daß alle Fürsorge, daß alles Engagement für die Belange ihrer Schützlinge Charles nicht wieder ins Leben zurückbringen konnte. Wenn die Stille eines ruhigen Nachmittages ihr Herz umschlang, erkannte Claire Baudouin, daß sie die Witwe des Trompeters war, dessen Abbild ihrem Schmerz mit unbedarfter Heiterkeit entgegenlachte.
 



 
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