Die Würstchenbude

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Rakun

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Die Würstchenbude

Ohne Ziel war sie durch die Straßen gelaufen, Stunden um Stunden. Sie wollte die Stadt, für die sie sich entschieden hatte, kennen lernen. Nein, lieben lernen. Eine Stadt muss man sich erlaufen, mit langsamen Schritten die Schnelllebig keit aufhalten, sonst wird man sie nie mögen. Sie schlängelte sich an fremden Körpern vorbei, immer darauf bedacht, nie berührt zu werden. Die Steine gaben das unaufhörliche Klopfen von Absätzen wider. Das rhythmische Klappern kroch an den Wänden der Häuserblöcke hoch, verkroch sich für einen Moment in Schnitzereien schwerer Holzportale, glitt über kunstvoll geformte Steindämonen und Engelsgesichter, bis sich jedes Geräusch in der Unendlichkeit des Abendhimmels verloren hatte.

Schritt für Schritt kämpfte sie sich vorwärts, wich immer wieder entgegenkommenden Passanten aus. Alle
U-Bahnstationen und Straßennamen in der näheren Umgebung hatte sie auswendig gelernt in der Hoffnung, ein Fremder würde sie nach dem Weg fragen. Aber niemand brauchte ihre Hilfe. Die Brücke unter ihr vibrierte. Ohren betäubender Lärm rüttelte sie wach: du bist dort, wo du sein willst! Wie in Trance trat sie an das Geländer. Ein Schnellzug ratterte unter ihr in die Nacht. Plötzlich streichelte der Geruch von frisch Gebratenem ihre Nase. Dieser Geschmacksverführung wollte sie nicht widerstehen. Warmes Willkommensein strömte ihr entgegen, nur ihre Schüchternheit stand ihr im Weg.
Wie viele Menschen würden dort sein?
Ein einziger Mann nur, in hellbraunem Mantel mit großer Brille stand vor der Bude. Ihr Hunger hatte Überhand gewonnen, sie gab ihre Bestellung auf.

„Nee, Kleene, jibt nur Würstchen oder Buletten, aber alles von Muttern.“, war die Antwort. „Probiernse mal.“
Der Mann hinter dem Bratrost reichte ihr eine richtige Gabel mit einem Stück Wurst. Hier war alles echt, kein Plastik, keine Pappe. Blaue Augen. Über den Brillenrand wurde sie prüfend gemustert. Zögernd nahm sie das Geschenk zur späten Stunde. Niemals Bonbons von Fremden annehmen hieß es immer, bevor der Zug abfuhr, sie in Kindertagen in die Ferien brachte. Soweit ist es nun mit mir gekommen, dachte sie, kurz vor Mitternacht lasse ich mich hinreißen, von einem Stück Wurst.
Blaue Augen. Sie war überredet.

Für besondere Gäste gab es heimliche Zwiebelringe, frisch gebraten und für die Stammkundschaft wurde eine bauchige Flasche Bier, gut gekühlt, hervor gezaubert, „det jibt jute Träume.“
Die wackelige Holztheke bot ihr alles, wegen ihrer großen fragenden Augen, erfuhr sie später, so braun in einem offenen Gesicht. Keine Extras hatte sie verlangt.
„Riesigen Hunger habe ich und’n Bier wär nicht schlecht“, sagte sie.
Blaue Augen zwinkerten ihr zu. Unter seiner Schläfe bildete sich ein winziger Fächer aus Hautfalten.
Sie hielt seinem Blick stand.

„Wollta ma sehn, ick bin jetzt erleuchtet“, der Wirt schwang seine Wurstzange, zog seine weiße Halbschürze zurecht und trat heraus. Die drei standen eng neben-einander und sahen nach oben. ‚Bei Muttern’ Braune Buchstaben blinkten im Herzschlagrhythmus über der
Holzbude, links von einer Wurst, rechts von einer dampfenden Bulette eingerahmt. Ein Nachtzug donnerte unter der Brücke.
„Ist von Werbe-Willi“, sagte der Wirt stolz, „das Regendach macht Ziegel-Otto!“
Wie sie denn überhaupt hieße wollten die beiden wissen, Wurstpaule und die blauen Augen. Keiner lachte sie aus, als sie ihn verriet, den halb verstaubten, veralteten Namen.
„Dann haste ja’n Platz um die Ecke. Da geh’n wir hin.“
Die drei gingen los, blieben kurz andächtig stehen und begossen mit ein paar Tropfen Bier die schwarzen Stützpfeiler des Schildes: Henriettenplatz. Auf Oma wurde angestoßen, zufällig hatte sie denselben Namen getragen, und auf ihr Würstchen- und Bulettenrezept, „Ick wusste, du bist watt besonderes.“

Der Satz hallte in den Sternenhimmel, kein Autolärm störte, selbst die Bahngleise schienen wie ausgestorben. Für einen Moment war kein Laut zu hören. Die Schwingungen der Worte nahmen sie in dieser Stadt auf. Jetzt gehörte sie hierhin.
Blaue Augen ließen sie nicht los.
Zum ersten Mal nahm sie den Geruch der Metropole richtig wahr, konnte die Musik hören, eine eigenwillige Komposition, lebendig und gleichmäßig im Takt. Sie bemerkte das Licht, das überall im Dunkeln über der Stadt lag, spürte ihre Grenzen ohne Angst, fühlte sich nicht mehr bedroht von den mächtigen Steinbauten und den vielen fremden Menschen. Sie fürchtete sich nicht mehr vor den Männern, die zugedeckt mit Tageszeitungen auf Parkbänken
schliefen.

Sie ekelte sich nicht mehr, wenn sie aus Versehen in Hundedreck getreten war. Eine ruhige Toleranz breitete sich aus. Neue Bauwerke, schlank, modern, stahlkalt empfand sie nicht mehr als störenden Stilbruch. War sie mit einem Absatz in den Fugen vom Kopfsteinpflaster stecken geblieben, lachte sie einfach darüber.

Sie wusste, irgendwann würde sie mit Freunden in einer urigen Eckkneipe an einem runden Tisch sitzen, Backgammon spielen, reden bis tief in die Nacht und die Welt verbessern. Bei Sonnenaufgang die übrig gebliebenen ‚Nachteulen’ in einem Frühstücksbistro treffen, druckfrische Nachrichten lesen.
Im Sommer draußen auf dem breiten Bürgersteig vor einem Café sitzen, hinter vorgehaltener Hand Wetten abschließen, welcher touristische Falschparker als erster ein Knöllchen verpasst bekommt.

Sie hatte ihre Würstchenbude gefunden und die blauen Augen. Ziegel-Otto hatte das Regendach noch nicht angebracht und sie wusste, außer ihr würde heute niemand mehr kommen. Sie hielt den Regenschirm mit beiden Händen fest, damit der Wind, der durch die Häuserschluchten tobte, ihn nicht fortriss.
Sie traute sich nicht nach den blauen Augen zu fragen. Abend für Abend aß sie langsamer, trank eine um die andere Flasche Bier, um Zeit zu gewinnen. Von Wurstpaule erfuhr sie alles, nur nicht das. Diskretion war sein oberstes Gebot.
Am liebsten hätte sie mit Farbdosen alle Häuserwände besprüht: Wo bist du?, eine Annonce in allen Zeitung aufgeben.
Nein, diese blaue Augen lesen solche Rubriken nicht!

Kilometer um Kilometer hatte sie zurück gelegt. Menschen getroffen, die ihm ähnlich sahen. In wie viele blaue Augen hatte sie seitdem geschaut? Wie oft hatte sie den falschen hellbraunen Mantel erblickt. Ein Fahrrad hatte sie sich gekauft, um schneller längere Wege zu bewältigen. Zwei extra starke Stahlketten, resistent gegen Seitenschneider hatte man ihr empfohlen. Sie musste sie in einem Rucksack mit sich herumschleppen.
Sie liebte den Altbau, der ihr neues Zuhause geworden war. Im Hauseingang des Vorderhauses hing ein unübersehbares Schild: ‚Fahrräder und Kinderwagen dürfen nicht im Hausflur abgestellt werden. Der Hausmeister.’ Sie war zu
Hause angekommen.

Gleich musste sie ihr Rad wieder bis in die dritte Etage tragen. Ihr graute davor und sie ärgerte sich. Morgen verkaufe ich es, dachte sie. Was habe ich mir da bloß auf-geladen? Der Regen wurde heftiger. Nein, bitte nicht, wünschte sie. Ihr Schüssel war mit Sicherheit ganz unten im Rucksack.
Wie immer. Sie wurde ungeduldig, kramte zwischen den Sicherheitsketten nach dem Schlüssel. Ein Schatten bewegte sich auf sie zu. Sie bemerkte ihn nicht. Sie hörte nur wie die schwere hölzerne Eingangstür aufgeschlossen wurde.
„Bitte warten sie, ich möchte ...“
Mitten im Satz verstummte sie. Ihr Fahrrad war umgefallen und lag nun auf dem nassen Bürgersteig. Sie wollte es aufheben, doch ihr schwerer Rucksack behinderte sie. Sie bückte sich und sah zwei Hände, die nach dem Lenker griffen. Sie steckten in Ärmeln eines hellbraunen langen Mantels.
Das fahle Licht der Straßenlaterne ließ Regentropfen auf Brillengläsern glitzern. Ein verschmitztes Lächeln traf sie aus den blauen Augen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
also

mir ist sie nicht zu lang. wäre sie kürzer, würde die pointe früher zu erkennen sein, das wäre nicht gut.
lg
 

egotrip

Mitglied
Würstchen

na gut. Habs nochmal durchgelesen. Irgendwie herzig und erwärmend. Nur der Schluss erscheint mir nicht als Pointe. Trotzdem gut geschrieben.
 



 
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