Die Zeiger des Schicksals

Steve strahlte über das ganze Gesicht, endlich hatte er die Einrichtung seines neuen Computers abgeschlossen und die Tatsache, dass schließlich keine kryptische Fehlermeldung mehr über den Bildschirm flackerte, die nur aus wirren Buchstaben- und Zahlenkolonnen zu bestehen schien, ließ seine zuvor dauerverkrampften Gesichtszüge merklich entspannen. Er schritt in die Küche, um sich ein wenig Nachschub eisgekühlten Wassers zu holen, mit dem sich diese schwüle Sommernacht einigermaßen angenehm gestalten lassen könnte. Mit einem Glas in der Hand, das überproportional viele klimpernde Eiswürfel enthielt, kehrte er zurück in das Bürozimmer seines Appartements. Die ALF – Wanduhr, die er zu seinem 11. Geburtstag von seinen Großeltern geschenkt bekommen hatte, ließ Steve wissen, dass es mittlerweile bereits 03:30 Uhr war. Als er seinen Blick von der deplatziert anmutenden Wanduhr nahm und sich wieder dem Computer zuwendete, huschte ein Stirnrunzeln über sein Gesicht. Auf seinem Bildschirm wurde eine Videosequenz abgespielt, obwohl er doch wenige Augenblicke zuvor erst die Windows – Installation abgeschlossen und zwischenzeitlich keine Datei aufgerufen hatte.

Steve machte einige vorsichtige Schritte auf den Monitor zu. Seine zuvor zu einem Schlitz verengten Augen weiteten sich, als die schemenhaften Konturen der Videosequenz allmählich Gestalt annahmen und er erkannte, dass der Clip sein Bürozimmer zeigte mit Steve, der vor dem Monitor saß. Steve genehmigte sich fasziniert einen großen Schluck des kalten Wassers und behielt einen Eiswürfel im Mund, den er von der linken Wangenseite zur rechten und wieder zurück wandern ließ. Eine Kamera? Diese war zum einen nicht im Lieferumfang enthalten und zum anderen hatte er zu keiner Zeit eine derartige Kamera in seinem Bürozimmer installiert. Aufmerksam durchstreiften seine Augen den Raum, versuchten den Ort zu lokalisieren, von dem die Aufnahme gemacht worden sein musste. Die Stelle, an der sich die Kamera befunden haben müsste, lag direkt an seiner mit weißer Tapete verzierten Wand, linkerhand der Eingangstür zum Bürozimmer. Behutsam strich Steve über die Tapete und tastete nach irgendetwas, das ihn hätte auf eine Kamera schließen lassen können, doch er konnte nichts dergleichen aufspüren. Plötzlich überlagerte ein markerschütternder Schrei die nächtliche Stille.

Steve ließ vor Schreck das Wasserglas fallen, welches sogleich in seine Einzelteile zersplitterte und die Eiswürfel über das Parkett schlittern ließ. Er verlor infolge des Schocks den Boden unter den Füßen und fiel auf sein Gesäß. Stoßweise versuchte sein Körper Sauerstoff in die Lungen zu pressen, sein Herz raste vor nahezu panischer Anspannung. Bei dem Schrei, den er soeben vernommen hatte, handelte es sich um seinen eigenen Schrei. Und er war direkt aus seinen Lautsprecherboxen gedrungen. Eine Gänsehaut zog sich quer über seinen Nacken und erstreckte sich über seine Arme. Was zum Teufel ging hier vor? Wollte ihm irgendjemand einen Scherz spielen, der die Grenzen des Humors und guten Geschmacks bei weitem überschritt? Trotz seiner Gänsehaut spürte er kalte Schweißtropfen seine Schläfen herunter rinnen. Apathisch starrte er auf das Parkett, er hatte es noch nicht gewagt, seinen Blick zu erheben um auf den Monitor zu blicken und zu sehen, was er wohl nach diesem furchtbaren Schrei zeigte. Nervös biss er sich auf die Unterlippe und zählte gedanklich bis drei, dann richtete er seinen Blick auf. Der Monitor zeigte wieder das gleiche Bild, wie zu Beginn, als er die Videosequenz zum ersten Mal betrachtete. Offenbar lief die Sequenz in einer Schleife ab, so dass sich der Clip ständig automatisch wiederholte. Doch dies bedeutete zugleich, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis er wieder diesen durchdringenden Schrei vernehmen konnte, der ihm direkt in seine Seele zu stechen schien. Der einzige Unterschied bestand dieses Mal darin, dass er zugleich Augenzeuge der Ereignisse werden würde.

Angsterfüllt umklammerte Steve die Lehne seines Drehstuhls. Das rasende Pochen seines Herzens hatte sich bislang nicht annähernd beruhigt, im Gegenteil es intensivierte sich, je näher der Zeitpunkt kam, zu dem sich irgend etwas auf dem Monitor ereignen musste, dass seinen Aufschrei verursachte. Noch immer hatte Steve keinen blassen Schimmer davon, wer oder was diese Videosequenz auf welche Art auch immer aufgezeichnet haben und diese nun in einer Schleife abspielen lassen könnte, doch diese Frage beschäftigte ihn in diesem Moment nur nebensächlich. Der Videoclip zeigte ihn, wie er in seinem blauen Pyjama, den er auch heute Nacht trug, vor seinem Monitor saß, sich mit seinen Ellenbogen auf dem Schreibtisch abstützte und sein Gesicht scheinbar hinter seinen Händen vergrub. Er war dabei nur von hinten zu sehen. Plötzlich schreckte er hoch und als er seinen Blick auf die linke Wand lenkte, scheinbar auf die Wanduhr gerichtet, weiteten sich seine Augen und füllten sich mit Tränen. Der Clip zeigte, wie er seinen geöffneten Mund mit seiner zitternden Hand bedeckte. Plötzlich gruben sich Steves Fingernägel in die Lehne seines Drehstuhls, als der Videoclip offenbarte, wie die Zimmertür geöffnet wurde und ein langer, dunkler Schatten in den Raum fiel. Eine schwarz gekleidete Person trat in den Raum. Auch sie war lediglich von hinten zu sehen. Steve wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und verfolgte angespannt das Geschehen auf seinem Monitor.

Die Person, die den Raum betreten hatte hinterließ auf Steve den Eindruck, als handele sich um einen Einbrecher. „Oh Gott“, flüsterte Steve, als er beobachtete, wie der Eindringling eine Machete zog und damit auf sein Konterfei zulief. „Dreh Dich um, verdammt“, schrie er und umfasste mit seinen Händen den Monitor. Unaufhaltsam schritt der Videoclip voran. Der Unbekannte steuerte langsamen Schrittes auf Steve zu. Steve hatte mit einemmal das Verlangen, seinen Blick abzuwenden, insgeheim mutmaßend, die nächsten Bilder konnten ihn emotional überfordern, doch er konnte nicht anders, als weiterhin gebannt auf den Bildschirm zu starren. In der nächsten Sekunde zog der Unbekannte Steve an seinem Haarschopf nach oben und rammte ihm seine Machete mehrmals in den Hals. Jetzt tönte auch wieder dieser grauenvolle Schrei aus den Lautsprecherboxen, dieses Mal kam er Steve noch widerlicher vor, da er mit einer Art blutigem Gurgeln vermengt war. Steves letzter Todesschrei drang in seine eigenen Ohren und schien sich dort unauflöslich festzubrennen. Der Unbekannte wandte sich von Steve ab und marschierte wieder auf die Tür zu, um den Raum zu verlassen. Steve wischte sich die Tränen aus den Augen. Desperat versuchte er das Gesicht des Unbekannten zu erfassen, doch es schien, als hätte diese Person kein Gesicht. „Was ist das?“ jammerte er verzweifelt. So sehr er sich auch bemühte, er konnte keine Gesichtszüge erkennen, keine Augen, keinen Mund, ähnlich einer Schaufensterpuppe. Sein alter Ego auf dem Bildschirm glitt unterdessen vom Drehstuhl und fiel dumpf auf das Parkett. Ein Schwall roten Blutes sickerte stoßweise aus seinen klaffenden Wunden. Die toten Augen blickten vor Schreck geweitet direkt in die Kamera.

Nun setzte die Wiederholungsschleife wieder ein und der Clip wurde neuerlich abgespielt. Jetzt erst gelang es Steve, den Blick von der Videosequenz abzuwenden. Die perfide Mischung aus Schock, Abscheu und Angst versetzte seinen Magen in Aufruhr, so dass er sich unmittelbar übergab. Verzweifelt sank er zu Boden und atmete tief durch. „Was soll das!“ fragte er sich mit weinerlicher Stimme und fuhr sich durch sein nasses Haar. Er rappelte sich schließlich auf und zog den Stecker seiner Lautsprecher, den Stecker seines Monitors und auch noch den Stecker seines Computers selbst aus der Steckdose. Unter keinen Umständen würde er sich dieses Zerrbild des Entsetzens noch einmal antun. Er begriff nicht, was das alles zu bedeuten hatte und je mehr er versuchte, Klarheit in die irrealen Ereignisse dieser Nacht zu bringen versuchte, desto erschöpfter fühlte er sich. Entkräftet schlurfte er erneut in die Küche und nahm sich ein frisches Glas aus dem Schrank. Seine Hände zitterten derart stark, dass ein Großteil des Wassers, das er aus der Flasche eingoss, sein Ziel verfehlte. Entnervt stellte er das Glas in die Spüle und nahm hastige Schlücke aus der Flasche. Seine Übelkeit wich ein wenig. Er drehte den Wasserhahn auf und ließ das kalte klare Nass über sein Gesicht wandern. Mit halb geöffneten Augen atmete er kräftig aus, fast so, als ob all die aufgestaute Bürde, die sich wie ein stählernes Korsett um sein Herz geschlossen hatte mit einem kräftigen Pusten gesprengt werden könnte. Tatsächlich kam er allmählich zur Ruhe. Gleich morgen früh würde er der Sache auf den Grund gehen und den Urheber dieses schlechten Scherzes ausfindig machen, um ihn zur Rede zu stellen. Er hatte zwar keine Ahnung, wer dahinter stecken könnte, doch der Verdacht lag auf Trevor, einem alten Studienkollegen von ihm, der mittlerweile als IT – Berater tätig war und über ausreichend Fachkenntnisse verfügte, um solch einen Videoclip zu gestalten. Aber wozu dieser ganze Aufwand? Trevor hätte das Geschäft, in dem er den PC bestellt hatte, aufsuchen und den Techniker überreden müssen, den Clip irgendwie auf die Festplatte zu spielen, um ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt automatisch abspielen zu lassen. Je mehr Steve darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher wurde es wieder, dass jemand wie Trevor dahinter stecken könnte. Vielleicht hatte Trevor ja auch einfach…Seine Gedanken froren plötzlich ein, als ein Schrei durch die Wohnung hallte. Es war der gleiche Klageton. Die gleiche gellende Art, dem Augenblick des Todes entgegen zu schreien.

Steve schüttelte den Kopf. „Das muss ein Traum sein“, lachte er ein wenig wirr und kratzte sich am Kopf. „Das muss ein gottverdammter Traum sein!“ Wieder flimmerten seine Augen, da sie sich mit Tränen zu füllen begannen. Ängstlich schleppte er sich in Richtung seines Bürozimmers. Hilfesuchend stützte er sich an der Wand ab, da er ansonsten den Boden unter den Füßen verloren hätte. An der Tür zu seinem Bürozimmer hielt er kurz inne, dann drückte er die Klinke herunter. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Der Computer spielte die gleiche grausige Videosequenz ab. Steve sank auf die Knie und krabbelte auf seinen Computer zu. Salzige Flüssigkeit rann seine glühenden Wangen herab, als er sah, dass die Stecker nach wie vor herausgezogen waren. „Das ist unmöglich, das kann nicht sein, das kann nicht geschehen“, heulte er und zog sich an seinem Schreibtisch hoch. Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Schreibtisch ab. Er weinte in seine Hände herein und massierte sich dabei die Stirn. Plötzlich ertönte ein Warnsignal aus dem Lautsprecher und die Windows - Uhr erschien. Die Uhrzeit stand auf 03:48 Uhr. Steve blickte nach links auf seine ALF – Uhr, die genau auf halb vier stand. Mit den Fingerkuppen strich er über seine trockenen Lippen. Allmählich keimte in ihm die Vorstellung auf, dass all dies eine Warnung war. Ein Hinweis auf Ereignisse, die sich in dieser Nacht, genauer gesagt in 18 Minuten, noch zutragen sollten. Obgleich er ein bodenständiger Mann war, der stets jeglichen Glauben in das Paranormale und Metaphysische ablehnte und versuchte sämtliche Sachverhalte mit seinem rationalen Sachverstand zu analysieren, so warfen die illusorischen Geschehnisse dieser Nacht jegliche seiner Prinzipien über Bord. Er beschloss, die Polizei zu rufen und schilderte der freundlich klingenden Dame am anderen Ende der Leitung, er habe jemanden beobachtet, der in seinem Vorgarten herumschlich, um den Gesetzeshütern einen Grund zu geben, auszurücken. Die Geschichte mit dem Videoclip zu erzählen erschien ihm nicht angemessen.

Etwa eine Viertelstunde später erreichte die Polizei den Einsatzort. Als Steve seine Jalousien zur Seite zog, um einen Blick in seinen Vorgarten zu werfen, gefror ihm einmal mehr das Blut in den Adern, als er sah, dass zwei Polizisten tatsächlich einen dunkel gekleideten Mann ergriffen hatten und ihn entgegen seines Widerstandes zum Polizeiwagen führten. Das rhythmische kalte Blau der Polizeilichter leuchtete den Flur sekundenweise aus, um ihn dann wieder der Dunkelheit zu überlassen. Der dritte Polizist klingelte und Steve öffnete die Tür. „Sind Sie Mr. Smith?“ fragte der Polizist. Steve nickte sprachlos mit dem Kopf. „Wir haben soeben ihren Nachbarn festgenommen, der sich durch die Vorgärten der Nachbarschaft geschlichen hatte.“ Steve lugte an dem Polizisten vorbei. Harry Hutchinson wehrte sich, als die Polizisten ihn in den Streifenwagen drücken wollten. „Steve, ich bin unschuldig, verdammt, warum buchten die mich ein? Du weißt doch, dass ich kein Verbrecher bin!“ brüllte er. Steve war fassungslos. Ausgerechnet Hutchinson, der farbloseste und biederste all seiner Nachbarn. Ein kleinkarierter Versicherungsvertreter, der jeden Sonntagvormittag penibel seinen Rasen mähte. Um ein Haar hätte Steve heute Nacht sein Leben lassen müssen, hätte sich sein Computer nicht im wahrsten Sinne des Wortes eingeschaltet. „Wir danken Ihnen Mr. Smith“, versicherte der Polizist und schüttelte Steve die Hand. „Aufmerksame und couragierte Mitbürger wie Sie leisten einen maßgeblichen Beitrag, um die Sicherheit in unserer Stadt zu gewährleisten. Ich wünsche Ihnen trotz allem noch eine angenehme Nacht.“ Steve nickte wieder lediglich mit dem Kopf und schloss die Tür. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und warf den Kopf in den Nacken. Müde, ausgelaugt, entkräftet und erleichtert zugleich fühlte er sich. Er hatte diese Nacht überlebt, indem er zum ersten Mal in seinem Leben nicht seinem Verstand folgte. Zurück in dem stickigen Bürozimmer stellte er zufrieden fest, dass der Computer immer noch ausgeschaltet war. Er schloss die Tür. Ermattet ließ er sich in seinen Drehstuhl sinken, stützte sich mit den Ellbogen auf dem Schreibtisch ab und vergrub sein Gesicht hinter seinen Händen. Plötzlich schallte ein klirrendes Geräusch durch das Appartement, als ob jemand ein Fenster eingeworfen hatte. Steve fuhr erschrocken auf und blickte nach links auf seine ALF - Wanduhr. Die Zeiger standen immer noch auf halb vier, sie war stehen geblieben, vielleicht sogar schon Nächte zuvor, vielleicht auch eines Mittags um halb vier. Seine zitternde Hand bedeckte seinen vor entsetzten Schrecken aufgesperrten Mund. Die Tür hinter Steve öffnete sich und ein langer Schatten fiel in den Raum…
 



 
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