Die Zeit

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Holomino

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Die Zeit...

Herbert Benninger verkauft Blumen. Nicht im großen Stil, nein, er steht an der Straßenecke mit einem kleinen Stand und wartet darauf, dass seine Kundinnen ihn besuchen. Es ist der beglückende Augenblick, auf den er wartet, wenn eine junge Frau an seinem Stand stehen bleibt und die schönste Blume des Tages aus den Vasen sucht. Wenn sie diese gefunden hat, zieht sie sie aus der Vase und zeigt sie ihm mit einem Lächeln. Diesen Augenblick des Blickkontaktes friert Herbert Benninger ein. Er lässt die Zeit für einen Moment still stehen und betrachtet die Szene. Die Augen strahlen, das Lächeln ist rein, eine bildhübsche Frau, figurbetont gekleidet im allerschönsten Sonnenschein. Im nächsten Augenblick wird sie ihn fragen, was die Blume kosten soll. Aber das kann warten, er hat ja die Zeit angehalten.
Herr Benninger betrachtet dann die Frauen, wie ein Künstler sein Modell, von allen Seiten. Er kann sich ja frei bewegen, während die Frau dort steht. Er kann sie sogar berühren, wobei er das nur ein einziges mal getan hat. Er hatte nicht wiederstehen können. Ein so schönes Bildnis hatte er bis damals noch nie gesehen. Es war das schönste Lächeln seines Lebens gewesen, die Augen hatten so intensiv gestrahlt, nie hatte ihn eine Frau so angesehen, er musste sie einfach berühren. So streckte er verstohlen einen Finger aus, um die Frau leicht anzutippen. Als seine Fingerspitze ihre warme, lustvoll weiche Wange traf, hatte ihn das so überrascht, das er zurücksprang und fast vergessen hätte, die Zeit weiter anzuhalten. Nein, das durfte er nicht tun. Er wäre fast vor Scham gestorben. Er fühlte sich unrein, als hätte er etwas zerstört, das nicht mehr zu reparieren war. Als hätte er Farbe auf dieses so perfekte Bildnis geschmiert.

So beschränkt sich Herr Benninger mittlerweile wieder auf das Betrachten. Das tut er bisweilen so intensiv, dass er darin richtig versinken kann. Still steht er so da und lässt seine Zeit, die nichts gemein hat mit dem Rest der Welt, in stiller Andacht verrinnen. Oder er umstreicht seinen Akt, betrachtet ihn von der Seite, von oben, von unten, aus allen erdenklichen Perspektiven. "Frauen sind schön", denkt er dann. "Seltsam, dass unser Schöpfer nicht mehr so schöne Wesen auf der Welt erschaffen hat".

So kann Herr Benninger stundenlang über die Schönheit meditieren, bis Frau Benninger kommt. Frau Margret Benninger hatte Herrn Benninger in jungen Jahren geheiratet und so glücklich gemacht, dass Herr Benninger ihr ein Stückchen seines Geheimnisses anvertraute. Nachdem Herr Benninger einige Jahre das heimliche Vergnügen ausgekostet hatte, seine schöne, junge Frau im stillen zu betrachten, entschloss er sich schließlich, ihr die Fähigkeit zu geben, an seinem Glück teilzuhaben: Er hielt die Zeit an und nahm sie dabei mit.

Frau Benninger war spontan begeistert. Tagelang konnten sie bei schönem Wetter durch die Straßen flanieren und die Menschen betrachten, die still und verloren in ihrem Augenblick der Zeit verharrten. Frau Benninger war dabei etwas anders veranlagt, das aber auf eine sehr humorvolle Art. Während Herr Benninger sich stundenlang in die Betrachtung einer Szene vertiefte, fand Frau Benninger ihren schon fast morbiden Reiz in den täglichen Details. Der winzige Tropfen Spucke, der in seinem Weg von einem Gesprächspartner zum anderen verharrte, der Fuß des Kindes, der direkt über dem Haufen Hundekot hing. Der Ladendieb, der sich verstohlen umdrehte, während er sich eine Kamera in die Tasche steckte. Manchmal missbilligte Herr Benninger die Betrachtungsweise seiner Frau, aber oftmals musste auch er schallend darüber lachen, wenn seine Frau ihn auf eines dieser Details hinwies.

Wenn Herr Benninger also zu lange über einen seiner schönen Akte meditierte, kam schließlich Frau Benninger, um nach ihm zu sehen. "Herbert, ich sitze schon seit zwei Stunden in der Küche, und versuche, den Eintopf für heute Abend zu kochen, aber wenn Du die Zeit anhältst, kommt kein müdes Elektron mehr durch die Leitung. Die Suppe wird nicht gar und langsam fange ich an zu verhungern." "Schön, nicht wahr?", entgegnet Herr Benninger dann meist etwas benommen von der Tatsache, dass er wieder einmal die Zeit vergessen hat. Frau Benninger nimmt sich dann etwas von ihrer Zeit, die Szene zu betrachten und Worte zu wählen, die ihrer Betrachtungsweise entsprechen "Der Pulli ist von C&A, die Hose hat Sie aus dem Marktkauf, ich kann etwas riechen, warte, ähhhh Poison soundso, ein teurer Duft." Sie zeigt dann meist auf die Blume in der Hand der stillen Schönheit und sagt "Außerdem hat sie eine gute Wahl getroffen, bringst Du mir heute Abend auch so eine schöne Rose mit". Dann küsst Sie Herr Benninger zum Abschied, nicht ohne ihn noch einmal zu ermahnen, die Zeit nicht mehr zu lange anzuhalten.

Als Frau Benninger schwanger wurde, war alles eine Zeit lang ziemlich durcheinander geraten. Herr und Frau Benninger waren so glücklich gewesen, dass sie die Welt um sie herum völlig vergaßen. Sie hielten für eine lange Zeit die Zeit an, um zu beraten und Pläne zu schmieden. Sie nahmen sich dazu alle Zeit der Welt, denn so ein Kind ist ja etwas völlig Neues. Aus der glücklichen Zweisamkeit sollte nun etwas Neues werden: Ein Familie. Damals hatten sich Herr und Frau Benninger auch ausführlich über das Anhalten der Zeit beraten. "Herbert, wenn Du Blumen verkaufst und ich hier mit dem Kind alleine bin, möchte ich auch die Zeit anhalten können. Ich möchte jeden glücklichen Augenblick des Kindes festhalten. Ich möchte die Zeit auch festhalten können, um diese Augenblicke mit Dir zu teilen. Ich halte die Zeit dann an und warte, bis Du kommst. Dann kann ich es Dir erzählen und Du kannst es Dir anschauen. So können wir die glücklichen Augenblicke teilen."

Nach reiflicher Überlegung übertrug Herr Benninger einen Teil seiner spezielle Fähigkeit an seine Frau. Nur manchmal vergaß sie zu Anfang, Herr Benninger vom Stillstand der Zeit auszunehmen. "Jetzt habe ich doch glatt vergessen, Dir Bescheid zu geben!", sagte sie dann meist etwas verwirrt. Aber sie lernte schnell.

Schließlich kam ein kleines Mädchen namens Katrin zur Welt. Jetzt, wo das Kind da war, genossen die Benningers das Leben noch mehr. Sooft sich das Glück des Augenblickes festhalten ließ, besuchten sich Herr und Frau Benninger gegenseitig. Immer noch betrachtete Herr Benninger am Blumenstand an der Straße die für ihn so kunstvollen Momentaufnahmen, die ihn so faszinierten. Wenn für ihn plötzlich ohne Vorsatz die Zeit stehen blieb, machte er sich schnell auf den Heimweg und fand dort seine Frau, teilweise immer noch lachend oder strahlend vor Glück. Sie zeigte ihm dann die wichtigen Augenblicke im Dasein des Kindes, die er so verstohlen betrachteten konnte. Es waren so viele neue aufregende und lustige Dinge, die durch das Kind in ihr Leben traten. Herr Benninger konnte so das Glück seiner Frau und seiner Tochter fassen. Auch er wurde dadurch noch glücklicher.

Nichts hätte das Glück der Benningers gestört, wenn Frau Benninger nicht plötzlich schwer krank geworden wäre. Herr Benninger war verzweifelt.
"Margret, was soll ich tun? Möchtest Du weiterleben? Dann halte ich die Zeit für immer an."
Sie lächelte müde und unter Schmerzen "Herbert, wir haben so viel Glück in uns aufgesogen. Ich bin voll davon. Das Glück hat mich nicht verlassen. Ich habe noch die Erinnerung. Selbst wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest, der Schmerz wäre größer, wenn ich auf eine dieser Erinnerungen verzichten müsste. Aber Du kannst die Zeit ja nicht zurückdrehen."
Herbert Benninger überlegte, dann lächelte er. "In mir wirst Du nicht sterben, das verspreche ich Dir. In mir lebst Du weiter."

Herr Benninger ließ seine Frau gehen. Dann tat er, was immer schon alle seine Vorfahren getan hatten. Er zeigte seiner Tochter seine besonderen Fähigkeiten. Katrin lernte, die Zeit anzuhalten. Nachdem sie die beherrschte, zeigte Herr Benninger Ihr die Dinge, die seine Frau nie erahnt hatte. Er reiste zurück mit seiner Tochter in all die Zeiten, die auch er mit seiner Frau besucht hatte. So sah Katrin die glücklichen Augenblicke seiner Eltern. "In stiller Betrachtung kannst Du alle Zeiten besuchen, die Du willst.", erklärte er ihr. "Du kannst nichts ändern, nichts bereuen, aber alles sehen. Du kannst Deine Vergangenheit ergründen oder die Zukunft, in der Du schon lange gestorben bist. Du wirst in Deiner Zeit viel älter werden als andere Menschen. Aber auch Dein Leben ist in gewissem Maße endlich, denn immer, wenn Du einen Teil Deines Lebens leben willst, dann wirst Du altern. Du kannst auch zuerst betrachten, was Du erleben wirst. Aber wenn Du es wirklich leben willst, musst Du es tun. Dann wirst Du älter, bis Du stirbst."

Schau mal an Deiner Straßenecke, steht dort ein Blumenstand? Steht dahinter eine junge Frau? Eine besonders hübsche, nein schöne junge Frau? Kauf ihr eine Blume ab! Aber treffe Deine Wahl gut und sorgfältig. Sie nimmt sich die Zeit, Dir zu begegnen.

...denn Zeit ist die Erinnerung an das Vergangene und die Ahnung in die Zukunft. Dazwischen liegt der Augenblick der Wahrheit...
 

petrasmiles

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Der letzte kursiv gesetzte Satz hätte mich fast vom Lesen abgehalten; ich bin froh, dass ich mir diese poetische kleine Geschichte nicht habe entgehen lassen.
Aber der letzte Satz zerstört die Stimmung, nicht nur, weil ich ihm nicht zustimme, denn Zeit ist (m.E.) eine vom Menschen erschaffene Krücke, etwas Unermessliches (scheinbar) messbar zu machen, nein, weil er aus der Geschichte selbst herausragt und statt des Angebots einer durch die Geschichte angedeuteten Interpretation so 'autoritär' daher kommt, im Sinne von 'so isses'.
Ausserdem regt die Geschichte ja an, sich selbst so seine Gedanken zu machen und mit diesem Satz wird man so in eine Richtung geschickt ...
Eine hübsche Geschichte ...!
Viele Grüße
Petra
 

Holomino

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Es ist der Pulli mit Rollkragen, den Du im Laden ausprobierst. Die Farbe. Das Muster. Die Form. Alles stimmt.

Aber Mist. Als Du drin steckst, merkst Du, Dein Kopf passt nicht durch.

Du bist enttäuscht, frustriert, stocksauer.

Er passt nicht. Er erfüllt nicht seine Funktion. Und es wird dich auch nicht trösten, wenn die Verkäuferin mit einem freundlichen und ehrlichen Lächeln dir sagt: "Er erfüllt seine Funktion. Es gibt Menschen, die haben kleinere Köpfe"

P.S.: Vergiss den letzten Satz, schneid den Kragen ab, wenn er Dir nicht gefällt. Es gibt auch Pullis ohne Rollkragen. Nimm ihn so mit, wenn er Dir gefällt.

Mich freut's wenn Du's gelesen hast

Gruß Horst
 

Meckie Pilar

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Warum so lang?

Hallo Holomino,
der Anfang deiner Geschichte hat mich fanziniert.
Als dann die Ehefrau auftrat, spätestens als sie schwanger war, war der Text nicht mehr so anschaulich. Es kam für mich dann eigentlich auch nichts Neues mehr.
Der Anfang hätte mir genügt und hat mir richtig gut gefallen.
Gruß
Meckie
 

Holomino

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Der linke Ärmel???

Dir gefällt der linke Ärmel? Nimm ihn, Du kannst den Rest dranstricken. Dann wird er wieder zum Pullover!

Schade nur. Der Produzent kratzt sich am Kopf und fragt sich "Wieso nehmen die Kunden dieses Jahr nur den linken Ärmel mit? Sonst haben sie sich nicht die Mühe gemacht. Sie haben doch sonst den ganzen Pullover gekauft!"

Also, habt Ihr konstruktive Verbesserungsvorschläge?
Ist das Ende zu fest geschrieben? Was wird aus dem Anfang ohne Ende? Habt Ihr eine bessere Idee für das, was ich wollte?

Denn die Aussage der Geschichte ist für mich klar definiert:
a) Zeit ist endlich!
b) Du kannst in der Vergangenheit leben (Kindheit, die gute alte Zeit,...)
c) dito gilt für die Zukunft (Abrackern für den Job, die Kinder, die Rente...)
d) Du kannst darüber die Gegenwart vergessen

All das spiegelt sich für mich im Schlusssatz wieder. Die Geschichte läuft darauf hinaus.
- Das Verhalten des Herrn Benninger, wie er seine Zeit mit dem Halten der Gegenwart verbringt. Er, als weise Person, reist nicht in die Zukunft oder die Vergangenheit, und wenn er es jemals getan hat (was er zweifellos einmal getan hat), ist er über dieses Stadium hinweg. Er kostet seine Zeit aus. Er ist weiser geworden.
- Frau Benninger als Person des Mutterinstinktes merkt schnell, dass das Halten der Zeit ein so wichtiges Gut wie "das Halten der schönen und vergänglichen Gegenwart" ist.
- Die Tochter zeigt die gleichen Verhaltensweisen, wie der Vater. Nach Ihrer Lehrphase taucht sie auch an Deiner Straßenecke wieder auf. Was hätte sie alles tun können in der Vergangenheit oder in der Zukunft? Ihr wurden alle Wünsche, alle Möglichkeiten offenbar, von denen wir nur träumen. Sie aber steht an der Ecke und verkauft Blumen!?! Sie wählt die Realität!!!

Also, geführt an dieser Kernaussage.
- Geschichte falsch gewählt?
- Anfang falsch?
- Ende falsch?
- Mitte falsch?
- Fazit falsch?

Sagt's mir
 



 
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