Die Zeit heilt keine Wunden...

Botschafter

Mitglied
Die Zeit heilt keine Wunden. Sie vergibt auch keine Sünden. Ich bin die Sünde des vergangenen Jahrhunderts, bin eine häßliche Wunde auf dem Körper Europas. Ich bin ein Teil, ein Stück, ein Rädchen im Getriebe, wie ich es damals war; wie ich es immer war.
Verlieren wir nicht oft die Beherrschung über uns selbst? Tun wir nicht in der größten Freude Dinge, die wir danach bereuen? Ist nicht die Tat im Rausch diejenige, die wir ungeschehen wünschen? Kennen wir nicht alle die Qualen, beim Gedanken daran, wie wenig einmal nötig gewesen wäre, damit dies und jenes nicht geschehen wären?
Ich erlebte Jahre im Rausch. Der Schmerz, den ich seither ertrage, übersteigt meinen Verstand. Bisher ertrug ich ihn.

Die Kinder in der Nachbarschaft nennen mich „Opa Heinen“. Es sind gute Kinder. Die Ältesten werden wohl um die 16 sein; wie ich es damals war, als es begann.
„Wir arbeiten an einem Internet-Projekt, Opa Heinen.“ „Schön“, sagte ich. „Siehst du es dir an, wenn wir fertig sind?“ „Natürlich“, sagte ich.
Heute habe ich es mir angesehen. Die Aula war bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf der Bühne standen ein Computer und eine Art Kamera, welche die Texte und Bilder vom Computer auf eine Leinwand strahlte.
Die Rektorin begrüßte die Anwesenden und erklärte das Projekt. Ich konnte vieles nicht verstehen.
Dann begann die Vorführung. Nacheinander setzten sich die Schüler an den Computer und manipulierten daran, so daß auf der Leinwand ein weiteres betiteltes Bild erschien, zu welchem das Kind auf der Bühne jeweils einen kurzen Vortrag hielt.
Die jungen Menschen sprachen frei von jeder Rührung. Nannten Dinge beim Namen, die so furchtbar einfach klangen. Bild um Bild, Titel um Titel führten sie mir meinen Rausch vor. Ich fühlte, wie Blei durch meine Adern zu fließen begann. Hörte die Schreie wieder. Sah die leblosen Körper. Roch das brennende Fleisch. Schmeckte das Blut der genommenen Frauen. Ich fühlte meine Hand an der Zange, am Knüppel.
Da, ich erkannte Wilhelm, Wilhem Meister aus Distelhofen. Ich erinnerte mich an das Foto. Auf dem nächsten Foto Peter „Gogo“ Affels. Dann das Bild von dem Jungen, den wir aus dem Stacheldraht lösen mussten.
Auf der Bühne sass Antje. Das Mädchen der Hausers aus der Wohnung unter mir. Ich wusste, welches Bild das nächste sein würde. Ich kenne die Serie. Ich habe sie geschossen; bis auf ein Bild... Ich fotografierte das Lagerleben. Auch einige Schnappschüsse von Kameraden waren dabei entstanden. An diesem wunderschönen Tag im August. Das Licht war ideal. Die Bilder müssen beschlagnahmt worden sein. Ich hatte sie noch verbrennen wollen, als sie anrückten, doch es blieb keine Zeit dafür.

Heute hat mich die Zeit eingeholt.

Erst geschah nichts. Dann drehten sich die ersten Kinder um. Danach die Hausers...
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
es

tut mir leid, aber zu der geschichte brauch ich ne erklärung. erzähl mal die geschichte mit anderen worten von vorn, damit ich sie verstehe. lg
 

Botschafter

Mitglied
Hallo flammarion

Es braucht dir nicht leid zu tun, dass du eine Erklärung wünschst.

Der Erzähler der Geschichte war "Wärter" in einem KZ im 2. Weltkrieg. Er entging nach dem Krieg der Gerichtsbarkeit der Sieger. Er lebte also seit dem Ende des Krieges unentdeckt und "ungestraft" sein Leben.
Bei dem Schulprojekt handelt es sich um einen Vortrag über die Verbrechen der Nazis in den Konzentrationslagern. Der Erzähler erkennt die vorgeführten Fotos als Bilder, die er selbst gemacht hat. Die Anspielung darauf, dass er alle Fotos "bis auf eines..." selbst geschossen hat, zielt darauf, dass er auf dem einzigen Foto, auf dem er nicht hinter der Kamera stand, selbst vor der Linse war.
Die letzten drei kurzen Sätze deuten an, dass er auf dem Bild von vielen der Anwesenden erkannt wird.

Ich habe die Geschichte absichtlich lose geschrieben. Ich stellte mir den Mann vor, wie er z.B. am Abend dieses Tages (vielleicht dem letzten Abend vor dem Sturm der Entrüstung oder gar dem letzten Abend seines Lebens) alleine in seiner Wohnung sitzt und schreibt (z.B. einen Brief an einen alten Kameraden). Ich nahm an, dass ein Mensch in einer solchen Situation nicht sauber chronologisch schreibt, sondern eher wirr seine Gedanken auf's Papier wirft.

Wie es scheint, bin ich dabei etwas über das Ziel hinaus geschossen.
Danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast.

Gruss

Botschafter

PS: man vergebe mir meine Unwissenheit, aber wofür steht "lg"?
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
auaaua,

daß es auf so etwas hiausläuft, hätte ich nie gedacht. da es am anfang etwas mit internet zu tun hatte, fürchtete ich, es geht in die kinderpornoszene und der alte mann hat sich da als täter entpuppt. glaubst du wirklich, daß einer - egal, ob porno oder kz - sich, wenn auch am lebensende, der öffentlichkeit stellt, nachdem er so lange untergetaucht war? wer die greuel auch noch fotografiert hat, der war doch gewiß stark involviert? oder war ihm befohlen worden, die fotos zu machen? die geschichte hat auf alle fälle potenzial, sonst hätt ich nämlich gar nichts erst gesagt.
lg bedeutet "lieben Gruß". also ganz lieb grüßt
 

Botschafter

Mitglied
Hallo flammarion

Die Sache ist eigentlich schon so gedacht, dass der "ehrenwerte Herr" in die Greueltaten "involviert" war. Dass er dies bereut und er sich seiner Verbrechen bewusst ist, versuchte ich im ersten Abschnitt zum Ausdruck zu bringen.
Dem Gedanken, dass er sich selbst "geoutet" hat und die Fotos selbst veröffentlichen wollte, versuchte ich eigentlich durch den Satz "Die Bilder müssen beschlagnahmt worden sein. Ich hatte sie noch verbrennen wollen, als sie anrückten, doch es blieb keine Zeit dafür" entgegenzuwirken.
Zudem hätte ich die ganze Situation bei einer bewussten "Demaskierung" eher dahingehend geschildert, dass der Mann die Veröffentlichung der Bilder trotz allem als erlösenden Moment empfunden hätte (Ende des Versteckens, Ende der Lüge etc.).

Die Parallelen zur Kinderpornoszene fallen mir erst jetzt auf. Du hast vollkommen Recht, die Doppelspurigkeiten sind absolut vorhanden.

Viele Grüsse

Botschafter
 

lara_star

Mitglied
Hallo!
Also ich hatte den Text auch ohne Erklärung verstanden, (für mich war in dem Moment klar, daß es was mit Krieg zu tun hat, als er sagt, so alt war ich damals und später wird er ja explizit, der Stacheldraht, das brennende Fleisch, das Lagerleben usw) das einzige was ich unlogisch fand: Die Kinder, die etwas dazu vortragen haben die Bilder ja schon gesehen, oder nicht? Sonst könnten sie sich ja nicht adäquat darauf vorbereiten.
Und wenn Opa Heinen damals so jung war, wie kommt es, daß ihn dann alle so gut erkennen? Nach 50 und mehr Jahren?
Ansonsten finde ich die Geschichte echt super.

So long,
Lara
 

Botschafter

Mitglied
Hallo lara_star

Hoppla! Vollkommen richtig.

Ich versuche mich da jetzt gar nicht rauszureden. Das ist mir absolut nicht aufgefallen.

Die Sache mit dem Wiedererkennen habe ich mir natürlich überlegt und kam zum Schluss, dass es theoretisch sein könnte, dass sich jemand in den Jahren so wenig verändert, dass man ihn wiedererkennt (ist zugegeben etwas wage). Aber dass die Kinder ihn bereits vorher hätten erkennen müssen, das habe ich nicht bedacht.

Vielen Dank für den Hinweis. Das wird mir eine Lehre sein.

Dank auch für dein Lob (hilft mir etwas über die Schmach hinweg ;-) )

Liebe Grüsse

Botschafter
 

visco

Mitglied
Hallo Botschafter!

Ich finde den Text richtig klasse! Jede Erklärung überflüssig. Auch sehe ich keine Unstimmigkeiten.

@Lara:
Das Projekt wurde von mehreren Kindern vorbereitet, und nur die ältesten sind so um die 16 Jahre alt. Jedes Kind hat sich vermutlich nur mit einem Teil beschäftigt. Stolz auf das, was daraus entstanden ist, achten sie zunächst auf ganz andere Dinge. Während der Vorführung - so stelle ich es mir vor - fällt wem auch immer die Ähnlichkeit zum alten Heinen auf. Dieser bemerkt das einsetzende Getuschel nicht, das sich in Windeseile ausbreitet, während ihn die schmerzhafte Erinnerung kurz abtauchen läßt.
Die Frage nach dem Wiedererkennen ergibt sich analog.

@flammarion: Sorry, aber nach dem einleitenden "Ich bin die Sünde des vergangenen Jahrhunderts, bin eine häßliche Wunde auf dem Körper Europas." halte ich einen Bezug zur Kinderpornographieszene für ziemlich weit her geholt.


Viele liebe Grüße
und ein riesengroßes Lob,
Viktoria
 

Chinasky

Mitglied
Ein gelungener Text! Und wirklich sehr gut ohne Erklärung verständlich. Allerdings wäre es doch zu schön, wenn Menschen zu solch einem Bereuen imstande wären... Ich warte immer noch auf Texte, die einmal den wirklichen, natürlichen Umgang mit der Schuld zeigen: das Verdrängen, Sichherausreden, das Verweisen auf die anderen, das Beharren darauf, nicht anders gekonnt zu haben... Und zwar aus der Perspektive der Täter. Ist das vielleicht gar nicht möglich?
Aber daß gerade Opa Heinen so ein Kinderfreund ist, das finde ich schon eine sehr gute Idee, denn es weist darauf hin, daß es eben gerade die netten Nachbarn von nebenan waren, die für all das verantwortlich waren. Die Biederkeit des Bösen, um mal eine Phrase leicht abzuändern...
 

Botschafter

Mitglied
Hallo Chinasky

Ich stellte mir vor, dass der "Sünder" es nicht ertragen hätte, über seine Taten zu sprechen. Dass er sehr wohl die Wahrheit herbeisehnte, vielleicht sogar bestraft werden wollte, dass er sich aber nicht selbst zu seinen Verbrechen bekennen konnte. Man weiss von Mödern, die ihre Verhaftung als erlösenden Moment empfanden, weil die Zeit des Versteckens und der Ungewissheit zu Ende war. Trotzdem gibt es sehr wenige Mörder, die sich selbst stellen.

Aber es ist tatsächlich, wie du sagst: Texte, in welchen z.B. ein Wärter einer KZs seine Taten zu verteidigen versucht oder sich herausreden will, sind wohl selten.
Ein Grund dafür könnte sein, dass man vermutlich sehr schlechte Erfahrungen mit der Leserschaft macht, wenn man eine Person schafft (schreibt), welche die Verbrechen der Nazis im 2. Weltkried rechtfertigen will.

Vielleicht sollte man es trotzdem mal ausprobieren...

Viele Grüsse

Botschafter
 



 
Oben Unten