Die Zeitreise der Archäologin

3,00 Stern(e) 1 Stimme

MunaGermann

Mitglied
„Das ist sie!“ rief Maryam, mit ihrer Schaufel in der Hand. Sie wischte mit dem Handrücken den Schweiß aus ihrem Gesicht unter ihrer roten Baseballkappe. Ihr afrikanisches Gewand passte farblich dazu, mit den roten Blumen auf buttergelbem Hintergrund. Dazu trug sie goldfarbene Flipflops.
Marc, der die Grabung leitete, kam angelaufen.
Ja, hier, an dieser Stelle, lag die schmale kleine Tür aus der Legende, auf der Nordseite der zehn Meter dicken Stadtmauern. Heute kannte sie jeder aus dem Lied, doch damals kannte sie wohl nicht ein Mal der König von Laguusch.
„Mein erster wichtiger Fund“, freute sich Maryam. Bisher hatte sie immer irgendwie an der falschen Stelle gegraben, und den Tempelaltar, das Amulett und den Unterkiefer hatten andere gefunden.
Marc ging in die Hocke, während Maryam zurück wich. Mit gerunzelter Stirn betastete er die blanke Schwelle, die Reste des steinernen Türrahmens, der gerade mal für einen schmalen Mann breit genug war. „Es könnte noch mehr Türen geben“, murmelte Marc. „Lass uns erst den Abend abwarten.“ Dabei sah er sie nicht an. Irgendetwas störte ihn an ihr. Ob er etwas gegen Afrikaner hatte? Eigentlich war er zu allen Leuten nett, auch zu den anderen Dunkelhäutigen. Nur nicht zu ihr. Sie versuchte ständig ein wenig, ihn durch ihr Wissen und ihren Eifer zu beeindrucken. Doch er reagierte nur unwirsch und spielte alles herunter, was sie tat. Er war fünf Jahre älter als sie und sah trotz der Sommerbräune immer irgendwie ätherisch und bleich aus. Maryam hätte gerne mit ihm gefachsimpelt, denn er musste ja so viel mehr wissen als sie, die trotz ihres Archäologie-Diploms ein Küken war im Vergleich zu ihm. Aber nun sah er sie wieder nicht an, sondern wandte sich ab und nahm seine Schaufel in die Hand, um mit gesenktem Kopf weiterzuarbeiten.
Maryam seufzte und schippte den Wüstensand vor der Türschwelle fort, um herauszufinden, wie tief die Mauer nach unten reichte. Dabei stieß sie sogar auf so etwas wie Stufen. Die Türschwelle lag damals also etwas unter dem Bodenniveau, vielleicht sogar hinter einem Busch verborgen, den es inzwischen nicht mehr gab. Maryam näherte sich der Tür, deren Rahmen wie die gesamte Stadtmauer nur noch kniehoch erhalten war, und ließ die Hand über den glatten Stein gleiten. Hier also waren die Feinde eingedrungen, um Laguusch für immer zu zerstören. Von Laguusch waren nichts als die eingestürzten Keller übrig geblieben, nachdem die Feuer der Feinde alles zerstört hatten, was brennbar war, und spätere Generationen aus den Steinen der Stadt eine neue Siedlung etwas näher am Wadi angelegt hatten. Dieser Ort hier galt als verflucht, die Geister der Toten irrten anscheinend noch rachsüchtig umher. Nur als Legende war diese Stadt jahretausendelang lebendig geblieben. Sogar Maryam hatte während ihrer Kindheit in Somalia das Lied gelernt. Doch niemand glaubte, dass ein wirklicher Ort dahinter steckte. Bis vor zweihundert Jahren Archäologen in Marib eine Keilschrift fanden: genau dieses Lied, und eine Fußnote erklärte, es handle sich um Laguusch am Wadi Hadramaut. Diese Schrift war und blieb die einzige namentliche Erwähnung Laguuschs. In Archäologenkreisen hatte man sogar diesen sachlichen Bericht für eine Legende gehalten. Darum war es erst nun gelungen, Forschungsgelder einzuwerben für eine Grabung hier im Jemen, um die Stadt zu suchen, die zweitausend vor Christus die Hauptstadt des Sabäerreiches war, bevor sie von den Handelsstädten Sirwah und dann Marib abgelöst wurde.
Durch diese winzige Tür wie die Vernichtung also hereingeschlichen und hatte eine Kultur ausgelöscht. Maryam fühlte sich etwas schwindelig, sie sollte wohl etwas trinken. Sie lehnte ihre Schaufel gegen die kniehohe Stadtmauer und sah sich um. Über dem Wüstensand flimmerte die Luft in der Nachmittagshitze und es sah aus als würden sich in der Ferne Reiter auf der Straße nähern. Vermutlich irgendeine Polizeistreife im Jeep, die mal wieder nach dem Rechten sehen wollte.
Ja, sie sollte etwas trinken gehen. Sie trat durch die Tür hinein in den Schatten. Schön kühl war es hier. Doch dann kniff sie die Augen zusammen. Das konnte nicht sein! Die Mauer hinter ihr… reichte nun in den Himmel. Sie selbst stand in einer schmalen Gasse zwischen zwei riesigen Gebäuden aus gigantischen Steinquadern. Als sie sich erschreckt umwandte, war die Tür hinter ihr geschlossen und zwei Soldaten standen dort in weißen Gewändern und mit Speer und Schwert bewaffnet. Halluzinierte sie? Die beiden Männer blickten sie an wie ein Gespenst und ihr Gesicht sah bestimmt nicht viel gefasster aus.
Auf Arabisch fragte sie: „Wo bin ich hier?“
Die beiden blickten einander an. Sie schienen nicht zu wissen, ob sie sie verhaften oder schreiend davon laufen sollten. Schließlich wandten sie sich ab und taten so als sei sie nicht da. Maryam nutzte diese Gelegenheit und machte, dass sie davon kam. Der Rückweg war verschlossen und sie hatte Durst. Die berühmten Quellen Laguuschs musste doch jede Frau aufsuchen. Maryam bog aus dem schmalen Gang auf eine breite mit Steinen gepflasterte Straße. Richtig: eine Frau mit Wasserkrug auf dem Kopf.
Maryam fragte sich, ob es besser wäre, die Kappe verschwinden zu lassen und barhäuptig herumzulaufen, was hochgradig unanständig wäre. Sie ließ die Kappe auf. Vermutlich wäre es klüger gewesen, sich unauffällig zu verhalten und so bald wie möglich diese hermetisch bewachte Stadt wieder zu verlassen. Doch wie konnte sie das? Sie hatte es mit echten Mauern und echten Menschen zu tun, nicht mit Geistern. Sie war nicht durstig genug, um zu halluzinieren! Sie erinnerte sich mühsam an ihr Sabäisch und versuchte es mit einem freundlichen „Guten Tag!“
Die junge Frau blickte erstaunt, aber nur so wie man eine Fremde ansieht, sie eine seltsame Kopfbedeckung trägt und undeutlich spricht. Sie war schwarz wie Maryam. Natürlich, die Araber kamen erst später ins Land. Sie grüßte mit denselben Worten zurück.
„Darf ich mit dir zur Quelle gehen?“ fragte Maryam schwerfällig. Sie hatte diese Sprache nur zwei Semester lang belegt und hatte immer gewitzelt, dass ihre mageren Sprachkenntnisse immerhin „zum Überleben“ reichen würden. Das würde sich nun herausstellen!
„Gerne“, sagte die Fremde und lächelte. Maryam ging also neben ihr diese wunderbar kühle Straße entlang zwischen den mehrstöckigen Gebäuden. Diese gar nicht so große Stadt bestand aus lauter antiken Wolkenkratzern. Natürlich, wenn die Einwohnerzahl wuchs, musste man in die Höhe bauen.
Hier also war es gewesen. Maryam verband eine Familienlegende mit dieser Stadt, denn zu Hause glaubten sie, die weiße Frau aus der Legende sei ihre Vorfahrin gewesen. Eine Art Göttin oder Priesterin, die wusste, was geschehen würde. Sie war aus der Zukunft in die Vergangenheit gereist, um den König zu warnen. Doch er hörte nicht auf sie. Sie war eine weißhäutige Fremde und sprach die Sprache nur sehr schlecht, sie prahlte mit unglaublichem Wissen. Und sie widersprach dem Versprechen der Götter, diese Stadt zu schützen, die widersprach auch den Beratern des Königs, die die Stadt als uneinnehmbar bezeichneten. Der König bestrafte den Hochmut der fremden Frau mit Folter und Blendung. Und so saß sie blind und lahm im Kerker, als die Feinde durch die schmale Tür eindrangen. Die Häuser wurden verbrannt, die Einwohner ermordet oder als Sklaven verkauft. So gelangte die weiße Frau als Sklavin nach Somalia. Das erzählte jedenfalls die Großmutter, die viel wirres Zeug redete. Mit sieben kam Maryam nach Deutschland, machte ihr Abitur und studierte Archäologie. Und nun… war sie an dem Ort, an dem ihre Familienlegende begann. An dem Ort, wo das was man später wehmütig besang, noch nicht geschehen war.
Das Plätschern der Quelle klang so lebendig und frisch. Maryam lachte auf, als sie die Brunnen sah, drei nebeneinander. Drei Blöcke aus Marmor, durch die das Wasser in weite Becken plätscherte. Vier Frauen saßen an den beiden rechten Brunnen. Was nicht mit Krügen aufgefangen wurde, versickerte unterirdisch. Maryam wandte sich an den linken Brunnen, kniete hin und trank. Nichts hatte je frischer geschmeckt. Sie hörte Tuscheln. Die Frauen blickten auf ihre Schuhe. Maryam lächelte. Sie sagte: „Diese Schuhe möchte ich der Königin schenken. Kann mich jemand zu ihr bringen?“
Eine der älteren Frauen zeigte auf Maryams Kappe und erklärte, wenn sie ihr die gäbe, wäre es wohl möglich. Und so kniete Maryam nach wenigen Minuten Fußmarsch, einem längeren Palaver am Palasttor, bei dem sie noch ihre Ohrringe opfern musste, und mehreren Stunden Wartens in einem Vorzimmer tatsächlich vor der Königin von Laguusch.
„Ehrwürdige Mutter von Laguusch“, begann sie mit den Titeln, die sie kannte. „Himmelstochter, Segensbringerin, Herrin über Leben und Tod…“ Ihre Stirn lag auf dem Boden, die Hände mit den Flächen nach unten, so wie die der alten Frau neben ihr. Die goldfarbenen Flipflops präsentierte sie vor ich.
Vorsichtig erklärte Maryam, dass sie der Königin ein Geschenk mitbringe. Die Schuhe. Und eine Geschichte. Die Königin verzog ein wenig das Gesicht, wohl weil Maryams Sabäisch so schauderhaft stockte. „Eine kurze Geschichte“, berichtigte Maryam darum.
Die Königin ließ sich von einer ihrer zahlreichen Dienerinnen die Schuhe bringen. Voller Erstaunen bemerkte sie die Biegsamkeit der Sohlen und den seltsamen Geruch, der sie erst zurück zucken ließ, dann aber schnüffelte sie daran und konnte sich wohl nicht entscheiden, ob sie ihn widerwärtig oder einmalig finden wollte. Die Dienerin tauschte kniend die bestickten Pantoffeln der Königin gegen die Flipflops. Die Königin machte einige wenige Schritte. Sie schien zufrieden, soweit das ihre Würde zuließ.
Dann setzte sie sich wieder. „Eine Gefahr“, sagte Maryam vorsichtig. „Feinde reiten nach Laguusch. Es gibt eine kleine Türe in der Stadtmauer und durch diese kommen sie. Sie werden euch alle töten.“
Die Königin hatte mit regloser Miene zugehört. „Woher“, fragte sie mit gepresster Stimme als stünde sie kurz davor, Maryams Blendung zu befehlen, „weißt du das, Fremde?“
„Ich komme aus der Zukunft.“ Die Königin runzelte die Stirn. Maryam fuhr schnell fort: „Ehrwürdige Mutter. Wenn die Feinde eindringen, wird diese Stadt dem Erdboden gleich gemacht und jahrtausendelang wird niemand mehr von ihr wissen.“
„In den Kerker mit ihr“, befahl die Königin. „Bis wir wissen, ob sie verrückt ist oder von unseren Feinden geschickt wurde.“


„Nein!“ schrie Maryam und schlug mit der Faust gegen die Wand neben ihrem Strohlager. Diese verfluchten Mauern! Sie lag schon so lange in diesem Kerker gefangen! Wo niemand hinein kam, kam auch keiner heraus. Sie musste hier bleiben, bis ihre eigene Prophezeiung sich bewahrheitete.
„Maryam?“ Jemand hielt ihre Handgelenke fest und sie wachte auf. Marcs Gesicht über ihr, die Sonne ging eben auf und schien in ihre helle Wohnung. Frankfurt am Main, natürlich. Pah, Jemen!
Als sie am Frühstückstisch saß, die goldenen Flipflops an den Füßen, fiel ihr auf, dass Träume doch immer nur aus dem bestanden, was man tags zuvor gesehen und gehört hatte. Marc erzählte ihr erneut begeistert von seinen Reisevorbereitungen nach Laguusch, dieser riesigen Metropole im Jemen, mit ihren Wolkenkratzern und mitten drin immer noch diese drei heiligen Quellen, um die herum man eine muslimische Moschee gebaut hatte.
„Aber natürlich weiß ich das noch von gestern“, schmollte Maryam. „Hältst du mich für ein Dummerchen?“
„Ja“, lachte er. „Genau deshalb liebe ich dich doch so!“
Sie zuckte zusammen. Sie hatten einander beim Archäologiestudium kennen gelernt, und er hatte ihr schnell klar gemacht, dass sie dieses Studium niemals schaffen würde. Ihre Versuche, die sabäische Grammatik zu lernen, endeten zu jämmerlich, und Zahlen konnte sie sich schon gar nicht merken. Nun arbeitete sie als Sekretärin an Marcs Universität. Er flog heute nach Laguusch, um die große Bibliothek dort zu besuchen, was nie zuvor einem westlichen Wissenschaftler erlaubt worden war.
„Zum Überleben reicht mein Sabäisch“, das hatte er ihr nie geglaubt.

Muna Germann
 
Hallo Muna!

Mir hat deine Geschichte gut gefallen (ich mag solche Traum im Traum Geschichten) und ich hätte gerne gewusst, wie es mit Maryam in Laguusch weitergeht. Ein bischen traurig bin ich über die Auflösung, aber irgendwie erklärt sie auch den Anfang, wo Maryam das Gefühl hat, sich Marc gegenüber beweisen zu müssen.


Hier noch ein paar Anmerkungen (Fehlendes steht in Klammern):

„Das ist sie!“ rief Maryam, mit ihrer Schaufel in der Hand. Sie wischte mit dem Handrücken den Schweiß aus ihrem Gesicht unter ihrer roten Baseballkappe. Ihr afrikanisches Gewand passte farblich dazu, mit den roten Blumen auf buttergelbem Hintergrund. Dazu trug sie goldfarbene Flipflops.
Sind Flip flops nicht eher unpraktisch bei einer Grabung?

Maryam seufzte und schippte den Wüstensand vor der Türschwelle fort, um herauszufinden, wie tief die Mauer nach unten reichte.
Ich hab keine Ahnung, wie so eine Grabung abläuft, aber irgendwie finde ich es komisch, dass Maryam den Sand wegschnippte und nicht vorsichtig mit einem Pinsel wegwischte.

Durch diese winzige Tür (war) die Vernichtung also hereingeschlichen und hatte eine Kultur ausgelöscht.
Maryam fühlte sich etwas schwindelig, sie sollte wohl etwas trinken.
Zwei etwas finde ich ein wenig fiel für einen Satz. Wie wär's mit Maryam fühlte sich leicht schwindelig oder einfach Maryam fühlte sich schwindelig? Vielleicht fällt dir ja auch noch etwas besseres ein ;)

Ja, sie sollte etwas trinken gehen. Sie trat durch die Tür hinein in den Schatten. Schön kühl war es hier. Doch dann kniff sie die Augen zusammen. Das konnte nicht sein! Die Mauer hinter ihr… reichte nun in den Himmel.
Die Stelle liest sich für mich so, als ob Maryam durch die Tür gegangen ist, die sie gerade erst ausgegraben hat.

Die junge Frau blickte erstaunt, aber nur so wie man eine Fremde ansieht, (d)ie eine seltsame Kopfbedeckung trägt und undeutlich spricht.
Und sie widersprach dem Versprechen der Götter, diese Stadt zu schützen, (s)ie widersprach auch den Beratern des Königs, die die Stadt als uneinnehmbar bezeichneten.
An dem Ort, wo das(,) was man später wehmütig besang, noch nicht geschehen war.
Ich hoffe, ich konnte dir weiterhelfen :D

Herzliche Grüße
Drachenprinzessin
 

MunaGermann

Mitglied
Danke, Drachenprinzessin. Hast ja Recht mit allem. :)
Das mit den Flipflops ist wohl so ein Tick von mir. Mir fällt auf, wie viele Leute diese unbequemen Dinger tragen, sogar bei Wanderungen im Wald. War so eine Art Insiderwitz mit mir selbst. Aber es könnten ja auch andere Schuhe sein.

Ich denke, beim Ausbuddeln einer massiven Mauer wird man erstmal mit groben Spaten graben. Der weggeschippte Sand kann dann ja immer noch gesiebt werden, falls man Knöpfe oder Goldmünzen findet.

Ja, genau. Maryam tritt durch diese Türöffnung hindurch hinter die Mauer und befindet sich plötzlich innerhalb der Stadt, aber auch in einer anderen Zeit.
 



 
Oben Unten