Die blaue Boje

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HFleiss

Gast
Die blaue Boje
Die Fähre über den Wannsee schaukelte unter den Tritten der Einsteigenden. Vorsichtig, nie konnte die Greisin wissen, ob sie nicht daneben treten würde, betrat sie das Brett zwischen Steg und Fähre. Der junge stiernackige Mann im blauen Overall, der am Einstieg die Passagiere mit zusammengekniffenen Augen beobachtete, bequemte sich, ihr mit komischer Grandezza die Hand zu reichen.

„Danke, junger Mann“, sagte sie höflich und ernsthaft, ohne ihn anzublicken. Mit unsicheren Schritten durchquerte sie die bis auf den letzten Platz besetzte Dampferfähre, vorbei an einer Gruppe wie Spatzen zwitschernder Touristinnen, offensichtlich Engländerinnen, dösenden älteren Herren und auf ihre Fahrräder gestützten jungen Leuten. Unwillig sah sie sich um: Kein Sitzplatz mehr frei, sie war zu spät gekommen. Schweratmend kämpfte sie sich bis zum offenen Bug vor, ließ sich auf der einzigen freien, der hintersten Bank nieder und musterte verärgert die vor ihr sitzende Kindergartengruppe, die bis zur Bugspitze allen Platz einnahm. Ein Junge, sah sie mit schnellem und strengem Blick, ganz offensichtlich kein deutscher mit seinem dunklen Haar, saß abseits von den anderen allein mit ihr auf der Bank, eng an die Reling gedrückt.

Die Fähre nach Kladow schob sich langsam vom Steg weg, der Motor begann zu stampfen. Dösend unter der Junisonne lag der Wannsee, in dunklem Türkisgrün, das in der Ferne beinahe schwarz wirkte, Baumstreifen säumten das Ufer, weiß schimmerten Einfamilienhäuser und Villen durch das Laub. Die Fähre war vollbesetzt, jugendliche Stimmen drangen vom Oberdeck, jemand kreischte, ein Lachen flog über den See. Vergnügt wiesen die Kinder mit Fingern auf alles, was sich bewegte: ein Segelboot, ein Ausflugsdampfer, eine schaukelnde Boje, ein Flugzeug hochoben, Möwen über dem Wasser. Die Kinder hielten sich die Ohren zu und duckten sich. „Huh, die Möwen fressen uns, sie fressen uns!“ Die Kindergärtnerin saß breit und unbeweglich auf dem Platz vor der alten Frau und wies die Lärmenden, wie es sich doch wohl gehört hätte, nicht zurecht. Unwillig starrte die Greisin über die Köpfe hinweg auf das ferne Ufer.

Sie kürzte sich gern mit der Fähre den Weg ab, immer wenn sie in die Stadt wollte, die Fahrt mit dem Bus um den ganzen Wannsee herum war ihr zu langwierig. Doch heute war ihr die Freude genommen, denn schon früh am Morgen, halb ausgeschlafen, war sie aufgebrochen, von Kladow quer über den See, zur Schwiegertochter in der Stadt, und vergeblich hatte sie den Sohn an sein Versprechen erinnert, ihr die Enkelin jeden Monat für ein paar Stunden in den Garten mitzugeben. Aber Sohn und Schwiegertochter, das Kind war nicht gefragt worden, hatten abgewehrt: Nicht heute, Schularbeiten. In den Ferien! Ach, nichts als Ärger, der Tag war verdorben.

Die Luft roch nach Tang, der Wind hatte auf einmal aufgefrischt, das gierige Gekreisch der Möwen, die um die Fähre herumjagten, klang unangenehm in den Ohren, der Blick über den See hin zum Ufer war allzu gewohnt.

Sie kramte einen Seidenschal aus der Tasche, steckte ihn tief in den Halsausschnitt, wie schnell konnte sie sich hier auf dem Dampfer, bei diesem Wind, etwas holen.

Das Kind, das neben ihr auf der Bank saß, noch immer eng an die Reling gedrückt, ein Junge mit ausdrucksvollen dunklen Augen, hatte sie aufmerksam beobachtet: wie sie den Schal hervorholte, wie sie ihn sich umband und dabei erschauerte, nur ganz leicht, aber das Kind hatte es bemerkt.

Von dem Blick des Jungen verunsichert, fragte sie: „Willst du das Tuch? Ist dir auch kalt?“ Sie musste sich zu ihm hinüberbeugen, das Stampfen des Bootsmotors und der Fahrtwind zerrissen die Worte, der Junge verstand sie wohl nicht.

„Ist dir kalt?“, fragte sie noch einmal. Das Kind sah sie mit großen Augen an, senkte den Kopf und sagte etwas, was sie nicht verstand.

„Sprich lauter“, sagte sie, „zuviel Lärm, ich verstehe dich nicht.“

Abschätzig und misstrauisch musterte der Junge sie. „Wie heißt du?“, fragte er unvermittelt.

Die alte Frau lächelte, noch immer kannten die Kinder nur das Du für Erwachsene. „Ich bin Anna“, sagte sie, „und du, wer bist du?“

„Arkan, ich bin Arkan“, sagte er und verzog das Gesicht zu einem schwachen Lächeln.

Steif richtete sie sich auf, übergangslos, und presste sich mit dem ganzen Leib an die Rückwand.

„Du bist Türke“, sagte sie frostig.

Arkan nickte, das Lächeln war verflogen. Er rutschte noch näher an die Reling heran.

„Und wie alt bist du?“, fragte sie und sah auf den See hinaus, keine Antwort erwartend. Es war dumm von ihr, dass sie weiter mit ihm sprach, sie müsste dem Gespräch ein Ende machen. Nicht, dass der Junge mit den schönen Augen ihr unsympathisch war. Aber Türke, nein, mit Türken wollte sie nichts zu tun haben, egal, ob mit Erwachsenen oder Kindern. Was wollten all die vielen Türken in Berlin? In den vergangenen Jahrzehnten waren allzu viele von ihnen mit ihren von Kopf bis Fuß verhüllten Frauen nach Berlin gekommen; sogar bis hierher, auf die Fähre über den Wannsee, weitab von Kreuzberg und Wedding, waren sie also gelangt. Abschätzig sah sie den Jungen an: Auch er würde einmal einer dieser Machos werden, die ihre Frauen verprügelten und sie zwangen, sich zu verhüllen, dass sie wandelnden Litfasssäulen glichen. Und dazu noch dieses türkische Kauderwelsch, warum lernten sie nicht Deutsch, das Menschen wie sie auch verstehen konnten?

„Zwei, zwei Jahre“, sagte der Junge stotternd und so leise, dass sie ihn kaum verstand und die Hand ans Ohr legen musste, „ich bin zwei Jahre.“

„Nein!“ Sie lachte auf. „Das glaube ich nicht, du bist doch älter, mindestens fünf Jahre bist du alt. Du schwindelst ja!“
Das Gespräch begann sie zu amüsieren.

„Was ist schwindelst?“

„Schwindeln ist“, sagte sie, und sie zupfte den Schal zurecht, als müsse sie sich auf eine lange Erklärung vorbereiten, „Schwindeln ist, wenn man sagt, man ist zwei, aber in Wirklichkeit ist man schon fünf. So wie du. Du schwindelst.“

„Ich weiß nicht, was ist fünf. Sag es.“

Viel Platz war zwischen ihnen, beide saßen an den Enden der Bank, sie noch immer starr und aufrecht, an die Rückwand gepresst, als bewahrte sie nur so ihre Autorität, er klammerte sich an die Reling, als könne sie ihn beschützen.

„Komm, Kind, ich erklär es dir“, sagte die Frau. Der Junge ließ die Reling los. Zögernd erhob er sich, eingeschüchtert von dem befehlenden Ton, und blieb abwartend vor ihr stehen, gespannt und gewärtig, sofort zurückzuspringen.

„Gib mir deine Hand“, forderte sie ihn auf. Halb widerwillig, halb gespannt auf das Kommende, ließ er es geschehen, dass sie die gebräunte Kinderhand nahm und den Daumen herabbog.

„Eins, das ist eins“, sagte sie. „Und jetzt“, sie bog den Zeigefinger herab, „jetzt kommt zwei, der Mittelfinger drei, der Ringfinger vier, und fünf, fünf, Junge, das ist der kleine Finger. Du hast fünf Finger an der Hand. Und du bist fünf Jahre alt, nicht wahr?“

„Ich nicht schwindelst“, sagte Arkan. Er entriss ihr seine Hand, stürzte an seinen Platz zurück und barg den Kopf an der Reling. Misstrauisch sah er sie aus dem Augenwinkel an.

Eine Boje kam in Sicht, blassgrün schaukelte sie im Wasser.

„Das ist blau“, sagte Arkan, „was ist das?“

„Das“, sie sah hinüber zur Boje, „ach, das ist eine Boje für die Fähre. Damit der Kapitän weiß, wo er fahren darf. Aber sie ist nicht blau. Sie ist grün.“

„Nein!“ Empört sah Arkan ihr ins Gesicht. „Blau!“

Nun musste sie doch lächeln. „Meinst du?“, fragte sie und beugte sich Arkan entgegen. „Die Boje ist blau?“

„Ja, blau! Blau!“ Arkan war auf die Bank geklettert und beugte sich weit über die Reling. „Blau!“, rief er den Möwen zu, „blau, blau!“

Ehe sie sich ihr Tun erklären konnte, hatte sie seine Beine umklammert und ihn zurückgerissen, in ihre Arme, die sich um den Jungenkörper krampften, als wolle sie ihn nie mehr loslassen.

„Aber Junge!“ Sie keuchte, der Schreck ließ sie zittern. Niemand, auch nicht die vor ihr sitzende Kindergärtnerin, schien etwas bemerkt zu haben.

Das Ufer kam immer näher. Ein Paddler rief den Kindern etwas zu, hob sein Paddel und tat, als wolle er sie vollspritzen. Alles juchzte und schrie, nur Arkan starrte beschämt auf das Wasser.

„Sie ist grün, Arkan, die Boje ist grün“, sagte die alte Frau in das Geschrei hinein und mehr zu sich selbst, und ihr Blick verlor alle Strenge, „glaub es mir.“ Sie war gekränkt. Noch immer zitterte ihre Stimme.

Einen Augenblick lang musterte Arkan sie nachdenklich und verharrte an seinem Platz. Bedächtig rückte er dann von der Reling ab und schob sich näher an die alte Frau heran. Dann hob er den Kopf und griff schüchtern nach ihrer Hand.

Warum, mein Gott, wurde ihr plötzlich so warm? So warm, als säße die Enkelin neben ihr? Sie spürte, dass ihre Augen feucht wurden. „Was für ein schrecklicher Wind heute auf dem Wannsee“, sagte sie und nestelte mit einer Hand ihr Taschentuch hervor.

„Grün“, sagte Arkan, „grün.“ Er spitzte den Mund, als wolle er das Ü ausprobieren. „Das“, er wies mit dem Finger auf die Boje, die jetzt schon weit hinter ihnen im Wasser schaukelte und kaum noch zu erkennen war, „das ist grün.“ Er strahlte, er war von der Bank heruntergeglitten. „Nicht blau“, sagte er, „grün.“ Er schmiegte sich an die Greisin und drückte ihre Hand. „Anna“, sagte er.

Die Fähre stampfte unversehens, begann zu wenden und legte am Steg an.

„Schon Kladow“, sagte die alte Frau, und sie war ein bisschen enttäuscht, „wir sind da, Kind.“

Arkan riss sich los, lächelte sie wie entschuldigend an und verschwand blitzschnell im Gedränge der Aussteigenden. Einen Moment lang glaubte sie seinen schwarzen Haarschopf noch inmitten der Kindergruppe auf dem Steg ausmachen zu können.

Sie lächelte nachsichtig und ging nach vorn zum Bug, sie mochte das Geschubse und Geschiebe beim Aussteigen nicht. Blinzelnd sah sie hinaus auf den Wannsee, der wie ein riesiger Türkis in der Sonne schimmerte. Die Möwen umflogen noch immer die Fähre. Sie blinzelte, als sie ihnen nachblickte. Alles wie sonst auch. Trotzdem, etwas war anders als auf allen bisherigen Fahrten über den See. Plötzlich begriff sie: Anna. Der Junge hatte Anna gesagt.
 

herb

Mitglied
Hallo HFleiss,

deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Sie ist einfach anständig erzählt und kommt ohne Effekthascherei aus.

lieben Gruß

herb
 

Rainer

Mitglied
Hallo HFleiss,

ein wirklich schönes Stückchen Literatur.
Vielleicht ein ganz kleines (!!!) bißchen weniger Atmosphäre...
...aber das ist nur mein persönlicher Geschmack.
Bitte mehr davon :).

Viele Grüße

Rainer
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo HFleiss,

eine wirklich liebevoll geschriebene Alltagsgeschichte, aber eben nicht alltäglich.

Mir gefällt vor allem am Schluss, dass die Dame so gerührt ist, mit ihrem Vornamen angesprochen worden zu sein. Das passiert tatsächlich in manchen Lebenssituationen nur noch selten, wenn man zurückgezogen lebt, Freunde oder Lebenspartner fehlen, oder ein anderer Name (Oma, Mama, Frau Sowieso) den eigentlichen ersetzt hat. Dann wird so ein Wiederhören zu einer ganz besonderen Begegnung.
Plötzlich begriff sie: Anna. Der Junge hatte Anna gesagt
Das hast Du sehr gut in Szene gesetzt.

Ein nachträgliches "Willkommen hier"
und herzliche Grüße

Elke
 

Inu

Mitglied
Hallo Hannah

Eine anrührende und w a h r e Geschichte bei der meines Erachtens alles stimmt. Und sie ist sehr gut erzählt.
Nur ... woher weiß der Junge, dass sie Anna heißt. :)
Hab ich da was übersehen?

Liebe Grüße
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Ja, Inu, leider, du hast es überlesen. Das passiert am Computer. Danke dennoch für deine wohlwollenden Worte. Hanna
 

Inu

Mitglied
Nein es gibt keine Entschuldigung, das war eine Fehlfunktion meines Gehirns.
Ich hab den Satz tatsächlich glatt überlesen. Hatte den Jungen auch so wortkarg und gehemmt vor meinem inneren Auge stehen, dass ich gar nicht auf den Gedanken kam, er könnte sich so schnell für den Namen der alten Frau interessiert haben.

Verzeih.:)

Dabei ist sein langsames Vertrauen-Gewinnen gerade der Kern der Geschichte.
 
B

Burana

Gast
...

Hat mir auch gut gefallen. Erinnert mich an den Fuchs im Kleinen Prinzen... Liebe Grüße! Burana
 
H

HFleiss

Gast
Nein, davon bin ich weit entfernt, mir in der Literatur ein Vorbild zu suchen. Ich blick ins Leben, und da finde ich genug Themen und Typen, über die ich schreiben kann.
Vielen Dank aber für deine Äußerung.

Lieben Gruß
Hanna
 

noel

Mitglied
eine inhaltlich hervorragend aufgebaute geschichte. von der entnervten greisin, mit den unreflektierten vorurteilen, zur im herz berührten anna
& das über den kniff mit der reling.
nein nicht nur über diesen.
feine andeutungen, wie der stolze widersinns arkans (fingerzählereien/farbbetrachtungen), weisen schon in diese richtung.

& gerade weil mir der text so augt, würde ich ihn überarbeiten. er enthält teilweise sperrige wortwendungen, verschachtelte satzlängen (wobei manchmal sogar der faden verloren geht) & wortwiederholungen auf kürzestem raum.

bsp.: „Vorsichtig, nie konnte die Greisin wissen, ob sie nicht daneben treten würde, betrat sie das Brett zwischen Steg und Fähre“

die beiden einfügungen sind fast unnötig. Greisin impliziert schon etwas tattergreisiges -->

vorsichtig betrat die greisin das brett zwischen steg und fähre.

„Mit unsicheren Schritten durchquerte sie die bis auf den letzten Platz besetzte Dampferfähre, vorbei an einer Gruppe wie Spatzen zwitschernder Touristinnen, offensichtlich Engländerinnen, dösenden älteren Herren und auf ihre Fahrräder gestützten jungen Leuten.“

vier zeilen EIN satz

„Schweratmend kämpfte sie sich bis zum offenen Bug vor, ließ sich auf der einzigen freien, der hintersten Bank nieder und musterte verärgert die vor ihr sitzende Kindergartengruppe, die bis zur Bugspitze allen Platz einnahm.“

auch hier schachtelungen, die differenzieren JA, aber manchmal ist weniger mehr & zu dem nimmt der satzbau das lesevergnügen.


„Doch heute war ihr die Freude genommen, denn schon früh am Morgen, halb ausgeschlafen, war sie aufgebrochen, von Kladow quer über den See, zur Schwiegertochter in der Stadt, und vergeblich hatte sie den Sohn an sein Versprechen erinnert, ihr die Enkelin jeden Monat für ein paar Stunden in den Garten mitzugeben“

spannt sich über 5 zeilen. warum nicht punkte & mehrere sätze daraus gemacht?

„Die Luft roch nach Tang, der Wind hatte ([strike]auf einmal[/strike]) aufgefrischt, das gierige Gekreisch der Möwen, ([strike]die um die Fähre herumjagten[/strike],) klang unangenehm in den Ohren, der Blick über den See ([strike]hin zum Ufer[/strike]) war allzu gewohnt.“

--> die luft roch nach tang, der wind hatte aufgefrischt, das gierige gekreisch der möwen klang unangenehm in ihren ohren & der blick über den see war allzu gewohnt.

genug genoelt
 
H

HFleiss

Gast
Danke, Noel, für die Vorschläge. Ich werde sie überdenken.
So wünsche ich mir die Auseinandersetzungen mit unseren Texten.

Lieben Gruß
Hanna
 



 
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