Die drei Rentiere und der Engel

Die drei Rentiere und der Engel

Die Schneedecke, die über dem Land lag, war so dick, dass die drei Rentiere nur langsam voran kamen. Zudem waren sie erschöpft, denn seit Tagen schon hatten sie nicht mehr als einige trockene, geschmacklose Wurzeln und Rindenstücke zu fressen gefunden. Ein Schneerutsch hatte sie von ihrer Herde getrennt.
Immer wieder lauschten sie aufmerksam und witterten, doch noch schienen keine Wölfe sie bemerkt zu haben. Aber auch wenn die Wölfe sie nicht fanden, so hatten sie zu dritt kaum eine Überlebenschance. Noch dazu bei diesem Wetter.
Der Schneefall verstärkte sich und die Nacht brach herein. Keuchend blieben die erschöpften Tiere stehen, um sich eine Pause zu gönnen. Es gab keine Bäume, die groß genug waren, ihnen Schutz zu bieten, so dass sie sich dicht aneinander drängten.
Unter ihrem weichen, rötlichbraunen Fell, waren deutlich die Knochen zu erkennen. Sie standen mit gesenkten Köpfen und dösten, doch ihre Sinne waren dabei immer noch so hellwach, dass sie sofort auseinander stoben, als sie das schwach silbrige Licht bemerkten, das wenige Schritte vor ihnen erschien.
Sie dachten nicht darüber nach, was es war, sondern nur, dass es eine mögliche Gefahr für sie darstellte. Um weit oder gar schnell weg zu laufen, waren sie zu erschöpft, so dass sie nach wenigen Schritten stehen blieben und zu dem Licht sahen, dass sich nicht vom Fleck bewegt hatte.
Das größte der Rentiere wagte sich einen Schritt vor und reckte schnuppernd den Kopf. In dem Licht konnte es deutlich eine Gestalt sehen, aber diese Gestalt war viel, viel kleiner als die Jäger, die im Herbst so viele seiner Herde getötet hatten.
Auch die beiden anderen kamen nun näher und guckten neugierig, was das für ein seltsames kleines Menschlein war, dass da im Schnee stand. Es trug nicht mal eine Kopfbedeckung und sein goldenes Haar leuchtete in dem Schein, der es nach wie vor umgab. Und es schien gar nicht zu frieren.
„Wer bist du?“, fragte das große Rentier. Natürlich glaubte es nicht, dass das Wesen seine Sprache verstand, denn kein Mensch und auch kein anderes Tier verstand sie.
„Ich bin ein Engel“, antwortete das seltsame Geschöpf.
Die drei Rentiere hatten verstanden, was es gesagt hatte, obwohl es nicht ihre Sprache gewesen war. Doch waren sie über das Gehörte viel zu verwundert, als dass sie sich Gedanken darüber machten, dass sie es verstanden hatten. Was ein Engel war, wussten sie aus Geschichten, die in ihrer Herde und vielen anderen Herde von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Aber gesehen hatte keiner von ihnen und auch niemand den sie kannten, schon mal einen Engel.
„Wollt ihr mit mir kommen?“, fragte der Engel.
„Wohin?“ Der große Rentierbulle sah zu seinen Gefährten, die sich ebenso wie er selbst wünschten endlich aus dieser kargen und eisig kalten Umgebung zu kommen.
„Zum Weihnachtsmann. Er hat mich ausgesandt, neue Rentiere für sein Gespann zu suchen“, erklärte der Engel.
Den Dreien klopfte das Herz schneller; den Schlitten des Weihnachtsmanns zu ziehen war der geheime Wunsch eines jeden Rentieres. Dann jedoch senkte der Große seinen Kopf. „Aber keiner von uns kann fliegen.“
„Oh, das ist kein Problem, das werdet ihr schnell lernen.“ Der Engel ging zu ihm und legte seine bloße, kleine Hand auf den Hals des Tieres. „Darf ich mich auf deinen Rücken setzten?“
„Natürlich“, antwortete der Bulle und sah erstaunt zu, wie die kleinen goldenen Flügel am Rücken des Engels zu flattern begannen und es in die Luft empor hoben. Im nächsten Augenblick schon saß es auf seinem Rücken, doch war es so leicht, dass er es kaum spürte.
Der Engel streckte die Hand aus und ein silbrig glitzernder Streif legte sich erst um den Hals des einen und dann um den des anderen Rentieres. Dann legte es seine beiden Hände an den Hals des Rentieres, auf dem es saß. „Ihr könnt nun alle drei fliegen. Probiert es.“
„Wie denn?“, fragte der Bulle und schielte zu dem Engel auf seinem Rücken.
„Lauf einfach los“, sagte der Engel.
Der Bulle gehorchte und merkte schon nach den ersten Schritten, wie leicht ihm plötzlich das Laufen im tiefen Schnee fiel. Dann spürte er keinen Boden mehr unter seinen Hufen und registrierte voller Erstaunen und Glück, dass er wirklich durch die Luft trabte. Ein rascher Seitenblick zeigte ihm, dass auch die beiden anderen rentiere fliegen konnten.
„Das ist herrlich“, jubelte das jüngste der drei und flog voller Übermut einen Salto.
„Mach du das aber bitte nicht nach“, sagte der Engel zu dem Bullen, auf dem er saß.
„Keine Sorge“, versprach er, „aber es wäre wohl ganz gut, wenn du mir sagst, wohin ich fliegen soll.“
„Einfach erstmal nur geradeaus“, sagte der Engel. „Wir haben eine ziemlich lange Reise vor uns.“
„Das macht nichts“, sagte der Bulle, der überrascht war, dass er weder Hunger noch Müdigkeit verspürte. Auch seine Gefährten wirkten munter und ausgeruht.
Sie flogen durch die sternenklare Nacht und erreichten gegen morgen erst das Hauptquartier des Weihnachtsmannes, das einsam an einem geheimen Ort am Nordpol liegt.
Der kleine Engel brachte sie in einen warmen Stall, in dem bereits viele andere Rentiere standen. Bei frischem Wasser und gutem Futter machten sie sich miteinander bekannt.
„Arbeitet ihr alle für den Weihnachtsmann?“ fragte der große Bulle. Mindestens zwei Dutzend Rentiere standen im Stall und so viele waren in den Erzählungen nicht vor den Schlitten gespannt gewesen.
„Ja“, antwortete eines, dass durch seine rote Nase hervor stach. „Wir wechseln uns ab damit, du musst also nicht fürchten, dass du immer nur den Schlitten ziehen musst, Nacht für Nacht.“
„Und was macht ihr im Sommer?“, wollte der Bulle wissen, der mit leiser Sehnsucht an die wenigen warmen Tage im Jahr zurück dachte.
„Wir haben auch dann genug zu tun; Weihnachten ist schließlich etwas ganz besonderes und dafür gibt es das ganze Jahr über etwas vorzubereiten und zu erledigen“, erklärte das Rotnasige.
„Also bleibt ihr immer hier?“
„Ja, das ist unsere Heimat.“ Rotnase musterte ihn prüfend. „Möchtest du lieber zu deiner Herde zurück?“
Wie seine beiden Gefährten schüttelte der Bulle verneinend den Kopf. „Nein, ich möchte auch ein Rentier des Weihnachtsmannes sein.“
Rotnase nickte verstehend. „Dann komm, ich werde dir und den beiden anderen neuen erklären, worauf es beim Schlittenziehen ankommt.“

Ende
 



 
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