Die falsche Anrede

Raniero

Textablader
Die falsche Anrede

Reginald Naps befand sich in seinem Wagen auf der Autobahn in Richtung Norden der Republik, zu einem Kurbad an der See, in welchem seine bessere Hälfte seit zwei Wochen eine sogenannte gesundheitliche Heilbehandlung, auch Kur genannt, durchführte.
Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß seine halbwüchsige Tochter; gemeinsam wollten sie der Mutter resp. Ehefrau einen Besuch abstatten, zur Halbzeit dieser Kur, auf dass diese die restliche Zeit trotz Heimweh noch einigermaßen über die Runden brächte. Darauf hatten sie sich verständigt, Reginald und sein Weib, und Vater und Tochter freuten sich auf das Wiedersehen.
Die gut fünfhundert Kilometer lange Strecke führte bis auf die An- und Abfahrt ausschließlich über ein gut ausgebautes Autobahnnetz, und Reginald hatte sich zuvor die optimale Fahrroute mithilfe seines Heimcomputers berechnen lassen. Darüber hinaus hatte er bei Antritt der Reise sofort das Autoradio eingeschaltet, um sich über eventuelle Verkehrsdurchsagen der entsprechenden Rundfunksender auf dem Laufenden zu halten.
Mit diesen Sendern war das jedoch so eine Sache; da diese nun nicht immerwährend und am laufenden Band, sondern nur bei Bedarf die neuesten Nachrichten über die Zustände auf dem Straßennetz durchgaben, blieb entsprechend viel Zeit und Raum für andere, in der Mehrzahl musikalische Beiträge.
Hierbei aber zeigte sich das eigentliche Problem für beide, für den Vater wie auch für die Tochter.
Da sie rein vom Alter her verschiedenen Generationen angehörten, hatten sie in Bezug auf diese musikalischen Intermezzi doch recht unterschiedliche Ansichten, und dieses führte bald zu einem mehr oder weniger amüsanten Kampf, der sich am Autoradio austobte. Hatte die Tochter ‚ihren Sender‘ eingeschaltet, der mit einem entsprechend progressivem Programm aufwartete, verdrehte der Vater die Augen und konnte diesen ‚blöden Sprechgesang‘, wie er diese Musik nannte, schon nach wenigen Takten nicht mehr aushalten.
Ebenso erging es der Tochter; schaltete der Vater ‚seinen Sender‘ ein und lauschte verzückt den Klängen aus einer Epoche, als Musik noch richtige Musik war, wie er seiner Tochter zu verstehen gab‚ langweilte diese sich zu Tode und schaltete das Gerät blitzschnell um, wenn ihr Erzeuger beide Hände am Steuer brauchte und dieses nicht verhindern konnte.
Auf diese Weise ging es ständig hin und her, wie bei einem erzwungenen Wunschkonzert; ein Unterhaltungsredakteur, der ein Programm für eine gemischte Gesellschaft suchte, hätte seine helle Freude an dieser abwechselungsreichen Musik gehabt.
Das Einzige, worüber sich Vater und Tochter bei dieser Art Kleinkrieg einigen konnten, waren die Verkehrsnachrichten, die sie beide als notwendig erachteten; zum Glück wurden diese nicht auch noch musikalisch untermalt oder gar gesungen.

Es sollte aber noch schlimmer kommen.
Nachdem sie sich darüber verständigt hatten, diese Nachrichten, von welcher Sendeanstalt auch immer diese ausgestrahlt würden, nicht zu unterbrechen, erfolgte nach einer Weile erneut eine Verkehrsdurchsage, diesmal vom Sender der Tochter, in welcher neben der Schilderung der aktuellen Situation noch der abschließenden Hinweis gegeben wurde:
„Also, Leute, um dem Stau auf der A3 auszuweichen, folgt bitte den mit U 3.1 gekennzeichneten Hinweisschildern.“
Reginald war außer sich.
„Hast du das gehört? Der hat mich geduzt! Der hat mich einfach geduzt, ohne mich zu kennen. Unerhört!“
Die Tochter versuchte, ihrem Vater verständlich zu machen, dass die Verkehrsnachrichten von diesem Sender stets in einer derartigen Art und Weise durchgegeben würden, weil es eben ein Programm für junge Leute sei, doch der Vater schenkte ihr kein Gehör.
Bebend vor Zorn schaltete er seinen Sender ein, um sich in einer der Höflichkeit gebotenen Form, wie er sich ausdrückte, über die Zustände auf den Autobahnen des Landes informieren zu lassen.
„Aber der hat dich noch nicht persönlich gemeint, Papa“, fügte die Tochter noch an, doch Reginald hörte ihr wiederum nicht zu, dafür aber strahlte er nun übers ganze Gesicht, als er aus dem Äther von seinem Sender das Folgende zu hören bekam:
„Folgen Sie bitte den mit U 3.2 gekennzeichneten Hinweisschildern!“
„Siehst du, mein Kind“, gab sich Reginald generös, „das ist doch ganz etwas anderes. So und nicht anders geht man unter zivilisierten Menschen miteinander um. Daran sollte sich dein Krawallsender ein Beispiel nehmen“.
Schon betätigte er den Winker, um die Autobahn zu verlassen und dieser zivilisierten Aufforderung Folge zu leisten.
Die Tochter war einmal mehr erstaunt über ihren Vater; so kannte sie ihn gar nicht, dass er, ohne zu Fluchen, einem Verkehrhinweis gefolgt wäre.
„Komisch, dass du auf eine Durchsage aus meinem Krawallsender so abweisend reagierst, Papa, Verkehrsfunk ist doch Verkehrsfunk.“
„Solange mich dein Sender duzt, folge ich dem in hundert Jahren nicht, und wenn ich tausend Kilometer Umweg fahren müsste.“

Schmollend zog sich die Tochter zurück und setze sich den Kopfhörer ihres Walkmans, den sie vorsorglich mitgenommen hatte, auf, um sich ungestört ohne die ständigen Unterbrechungen ihres Vater der Musik hinzugeben; er steuerte das Auto, dachte sie, sollte er doch glücklich werden, mit seinen höflichen Verkehrs-durchsagen, ihr war es vollkommen egal, und wenn die ihn mit Majestät oder Eminenz angeredet hätten, einen Stau konnten die auch nicht verhindern oder schneller beseitigen.
In diesem Punkt lag sie bei ihrer Einschätzung gar nicht so falsch; auch ein noch so seriöser Sender war nicht in der Lage, freie Fahrt herbeizuzaubern, auf den Straßen des Landes, doch zum Glück kam es während der weiteren Fahrt zu keinem Stau mehr, dafür aber zu einer faustdicken Überraschung.

Da Reginald zu sehr auf die Art und Weise der Durchsage statt auf deren Inhalt geachtet hatte, war ihm entgangen, dass sich die formvollendete letzte Ansage nicht auf den Autobahnabschnitt, den er gerade befuhr, bezogen, sondern auf die Gegenrichtung.
Auf diese Weise fuhr er, nachdem er den falschen Umleitungsschildern bis auf die Autobahn gefolgt war, die gleiche Strecke zurück, die er gekommen war.
Seine Tochter, die sich gänzlich in ihre Musik vertieft und die Augen geschlossen hatte, merkte von all dem nichts, und auch ihm selbst fiel weiter nichts auf, da er von dem letzten ihm ganz persönlich gewidmeten Verkehrshinweis noch ganz aus dem Häuschen war und daher kaum auf die Strecke achtete.
Erst ungefähr fünf Kilometer vor der Ausfahrt ihrer Heimatstadt bemerkten Vater und auch die Tochter, welche ihren Walkman abgelegt hatte, weil sie ein plötzliches menschliches Bedürfnis verspürte, dass sie fast zu Hause waren.
Die Tochter fiel vor Lachen fast aus dem Wagen.
„Das hast du nun davon, dass du deinem Sender gefolgt bist!“

Reginald hätte am liebsten im ersten Moment vor lauter Wut das gesamte Autoradio aus seiner Verankerung gerissen und aus dem Fenster geworfen, bei laufender Fahrt, doch dann besann er sich eines Besseren und gewann der Situation noch eine positive Seite ab:
„Dann kannst du wenigstens zu hause auf’s Klo gehen und ich auch, und danach rufen wir Mama an.
Übrigens, heute abend gibt’s einen Superfilm im Fernsehen!“
 



 
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