Die fremde Dame

Bilbo

Mitglied
Die fremde Dame


Der Mann, der im dritten Stock wohnte, hieß Herr Schmitz. G. Schmitz, so stand es auf dem Klingelschild. Er hatte nicht viel Kontakt zu den anderen Bewohner des Hauses Fürstenstraße Nr. 31.
„Guten Tag“, grüßte ihn Frau Handoch, als sie ihm mit ihren Einkaufstüten im Treppenhaus begegnete.
Herr Schmitz, in einen grauen Mantel gehüllt und mit Hut, das Gesicht schon leicht faltig, erwiderte den Gruß lakonisch. Dann ging er weiter nach unten. Frau Handoch stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf und packte ihre Einkäufe aus.
Vor dem Haus setzte Herr Schmitz sich auf eine der Bänke, die in der Fußgängerzone standen. Ein Stück weiter die Straße hinauf schien eine neue Partei eines der Häuser zu beziehen; ein Möbelwagen stand davor. Herr Schmitz bemerkte hinter einer Fensterscheibe im ersten Stock jenes Hauses eine Frau, die zu ihm hinübersah. Scheu senkte er den Kopf. Nach ein paar Sekunden schielte er vorsichtig zu dem Fenster hinüber. Die Frau sah ihn immer noch an. Kurz erwiderte er ihren Blick, dann fühlte er sich unwohl, stand auf und ging nach oben in seine Wohnung.
Am nächsten Nachmittag sah Herr Schmitz vorsichtshalber aus dem Fenster, bevor er, wie es seine Gewohnheit war, zu der Sitzbank in der Fußgängerzone ging. Die Frau schräg gegenüber hatte wieder ihre Position direkt hinter der Scheibe eingenommen und blickte erwartungsvoll zu der Bank hinüber. Die wartete doch nicht etwa auf ihn? Nein, unmöglich.
Halb hinter seiner Gardine verborgen, musterte Herr Schmitz die fremde Dame. Dem Gesicht nach zu urteilen, war sie jung, so um die 30, schlank, brünett. Der Rest ihres Körpers war von hier aus nicht zu erkennen.
An diesem Tag zog Herr Schmitz es vor, in seiner Wohnung zu bleiben, wo er vor den Blicken der Frau sicher war. Am nächsten aber zog er sich seinen besten Anzug an, kämmte sich noch einmal gründlich und verließ dann das Haus. Die Frau stand am Fenster, natürlich. Er setzte sich mutig auf die Bank in der Fußgängerzone und sah zu ihr hinauf. Er lächelte sie an und hatte das Gefühl, dass die Frau zurücklächelte. Rasch trat er mit klopfendem Herzen den Rückzug in seine sichere Wohnung im dritten Stock an.
Von da an sah Herr Schmitz die Fremde jeden Tag. Und jeden Tag erschien sie ihm weniger fremd. Immer wartete er voller Vorfreude auf den Nachmittag und überlegte bereits vor dem Frühstück, was er am besten anziehen könnte, um möglichst vorteilhaft auszusehen. Er begann sich gründlicher zu rasieren, achtete stärker auf seine Frisur und legte sich einen neuen, modischen Anzug zu. Wenn er Frau Handoch im Treppenhaus begegnete, lächelte er ihr nun freundlich zu und fragte sie auch ab und zu nach ihrer Familie, oder ob er ihr helfen solle, die Einkaufstaschen hoch zu tragen.
Die Frau aus dem Haus gegenüber schien oft ebenfalls schon Stunden vorher auf Herrn Schmitz’ Ankunft auf der Bank zu warten. Jedenfalls sah sie ständig dorthin. Aber er wagte nicht, entgegen seiner bisherigen Gewohnheit früher zu kommen. Außerdem ist Vorfreude schließlich die schönste Freude. Abends dagegen sah er fast nie Licht hinter dem Fenster brennen. Nur ein- oder zweimal blieb die Frau bis spät in die Nacht wach und stand an ihrem gewohnten Platz.
Und dann, an einem klaren Wintertag, war sie plötzlich verschwunden. Herr Schmitz wartete eine Dreiviertelstunde lang vergeblich auf der Bank auf sie. Sie ließ sich an diesem Tag nicht blicken, und auch am nächsten nicht. Als sie nach drei Tagen immer noch verschwunden blieb, begann Herr Schmitz sich ernsthafte Sorgen zu machen. Er eilte zum Telefon und rief die Polizei.
Vom Fenster aus konnte er beobachten, wie zwei Polizisten das Haus schräg gegenüber betraten und nach einigen Minuten an dem Fenster erschienen, wo er sonst die Frau, die er insgeheim längst als Freundin betrachtete, hatte sehen können. Bald darauf standen die Polizisten vor ihm selbst.
„Keine Sorge, es ist alles in Ordnung“, versuchte ihn der eine der beiden zu beruhigen. „Es handelt sich offenbar um ein Missverständnis. Die Wohnung und die Person, die sie darin gesehen haben, gehören zu der Boutique im Erdgeschoss.“ Er zeigte auf den Laden, in dem damals, an dem Tag, an dem Herr Schmitz die Frau zum ersten Mal gesehen hatte, die neue Mietpartei eingezogen war.
„Der Raum hinter dem Fenster dort diente der Boutique als Abstellkammer für alte Schaufensterpuppen und solchen Kram. Und jetzt wurde dort eben mal richtig ausgemistet. Die alten, nutzlosen Puppen sind zum Sperrmüll gekommen und...“
Was der Polizist dann sagte, hörte Herr Schmitz nicht mehr. Ohne ein weiteres Wort lief er an den beiden Männern und der völlig verdutzen Frau Handuch, die dahinter stand, vorbei, um sich auf die Bank in der Fußgängerzone zu setzen.
 
A

Arno1808

Gast
Hallo Bilbo,

*schmunzel*

neben der wirklich schönen Pointe bringst du in deiner Geschichte so ganz nebenbei noch ein paar Verhaltensmuster rüber, die deinen Herrn Schmitz wunderbar menschlich erscheinen lassen.
Den Erzählstil finde ich sehr gut.

Schöne Geschichte!

Gruß

Arno
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

da staun ick aba, daß er so schnell wieder auf der bank sitzt. ich an seiner stelle hätte einen horror davor. ansonsten sehr schöne geschichte. ganz lieb grüßt
 

Bilbo

Mitglied
Hallo,

vielen Dank, dass ihr euch die Zeit genommen habt, ein paar Sätze zu meiner Geschichte zu schreiben. Ich freue mich, dass sie euch einigermaßen gefallen hat.
Die Geschichte geisterte schon so lange in meinem Kopf herum, und blockierte neue kreative Gedanken, dass ich sie einfach mal "rausschreiben" musste, selbst wenn sie nichts außergewöhnliches ist.

Also, bis bald

Bilbo
 



 
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