anbas
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Die große Freiheit des Herrn Lehmann
Also, meine Frau meint ja, ich soll unbedingt mal über die Sache mit dem Herrn Lehmann berichten. Vorhin sagte sie gerade wieder, „Karl-Heinz“, sagte sie, „diese Sache mit dem Herrn Lehmann müsste man eigentlich aufschreiben. Mach das mal, du kannst doch so was ganz gut.“
Na ja, und da Gertrud, meine Frau, ja sowieso keine Ruhe gibt, wenn sie sich mal was in den Kopf gesetzt hat - besonders, wenn es mich betrifft - will ich der lieben Ruhe wegen von der Sache mit dem Herrn Lehmann erzählen.
Wir wohnen hier in einer recht ruhigen Gegend am Stadtrand von Hamburg. Viele von unseren Nachbarn sind Angestellte oder Beamte. Der Herr Lehmann wohnt nebenan in der Siebzehn. Wenn man ihm auf der Straße begegnen und ihn nicht kennen würde, also dann würde man wahrscheinlich gar nicht bemerken, dass man ihm begegnet ist - so unauffällig ist der Mann. Für mich ist er wie der Prototyp eines biedern, knorrigen Beamten. Mein Bruder, der Dieter, hat mal gesagt, dass der Herr Lehmann so das gewisse Garnichts hätte. Ich fand das ja im ersten Moment doch etwas hart, doch nachdem ich etwas länger darüber nachgedacht hatte, konnte ich schon verstehen wie der Dieter das meinte. Der Herr Lehmann wirkte meistens so trocken und in gewisser Weise auch unnahbar, dass ich immer die Vorstellung hatte, seine Büropflanzen müssten sofort zu welken beginnen, wenn diese ihn nur sahen.
Doch zu all dem kann ich nur sagen: Weit gefehlt! Dieser Mann, der Wochentags immer im grauen Anzug, mit blank polierten Schuhen und mit brauner Aktentasche pünktlich um sieben Uhr fünfzehn das Haus verlässt, und der dann ebenfalls wieder pünktlich um siebzehn Uhr fünfunddreißig nach Hause kommt, der so unscheinbar ist, dass man ihn kaum bemerkt, der mit einem Zentimetermaß den Abstand seiner Blumentöpfe auf dem Fensterbrett korrigiert - dieser Mann ist ein Genie!
Als meine Frau und ich vor etwa acht Jahren hier in das Haus eingezogen sind, haben wir uns schon sehr bald über die Ansammlung von Nachbarn gewundert, die jeden Samstagabend gegen neunzehn Uhr vor der Hausnummer Siebzehn stattfand. Nach etwa einer halben Stunde löste sich dann die Gruppe wieder auf, und die Leute verschwanden langsam in ihren Hauseingängen.
Irgendwann sind dann meine Frau und ich auch mal hinüber gegangen – wir, beziehungsweise meine Frau, ist ja dann doch immer neugieriger geworden. Ich wollte ja eigentlich gar nicht gehen, aber meine Frau hatte sich das nun mal so in den Kopf gesetzt und so ging ich halt mit. Wir haben uns dann einfach zu den anderen Nachbarn gestellt und abgewartet. Nach einiger Zeit war durch das Milchglas des Badezimmerfensters deutlich das Rauschen der Toilettenspülung zu hören. Daraufhin ging ein leises Raunen durch die Menge. Einen kurzen Moment später erklang dann das Prasseln der Dusche. Schlagartig wurde es ganz still um uns herum. Ich kann gar nicht beschreiben, wie merkwürdig meiner Frau und mir die Situation vorkam. Doch gerade als wir wieder gehen wollten, hörten wir diese Stimme, die uns seitdem jeden Samstag erneut in ihren Bann zieht. - Der Herr Lehmann sang.
Der Herr Lehmann sang italienische Arien, und alle hörten andächtig zu. Denn es war nicht der Gesang eines langweiligen biederen Mannes, der unter der Dusche ein Liedchen trällerte. Nein, da sang ein Genie, ein Gott. Ich wagte kaum zu atmen. Ein unbeschreiblicher Zauber lag in diesem Augenblick. Ein Zauber, der uns alle innehalten und schweigen ließ.
Nach etwa zwanzig Minuten verstummte der Gesang. Die Dusche wurde abgestellt. Wir blieben mit den übrigen Nachbarn noch eine Weile schweigend stehen. Nur langsam kam ich wieder zurück in diese Welt - und mir wurde bewusst, dass ich gerade zwanzig Minuten lang vor einem fremden Badezimmerfenster gestanden und einem mir eher unbekannten Mann beim Duschen zugehört hatte. Peinlichst berührt machte ich mich mit meiner Frau auf den Heimweg.
In der darauf folgenden Woche musste ich immer wieder daran denken, wie ich da vor dem Haus des Herrn Lehmann gestanden hatte. Dieser Gedanke war mir jedes Mal erneut höchst unangenehm. Doch trotz aller Skrupel konnte ich mich dem Reiz nicht entziehen. Also ging ich am nächsten Samstag gemeinsam mit meiner Frau wieder hinüber zum Badezimmerfenster des Herrn Lehmann.
Als wir da so standen und auf dessen Gesang warteten, tippte mir jemand vorsichtig auf die Schulter und bat mich, vorbeigelassen zu werden. Als ich mich umdrehte traf mich fast der Schlag: Es war die Frau Lehmann! Ich wusste gar nicht, wohin ich gucken sollte, so unangenehm war mir das. Ich schwor mir, nie wieder dorthin zu gehen und mich gleich ab der nächsten Woche auf Wohnungssuche zu begeben, möglichst weit weg am anderen Ende der Stadt.
„Sie sind neu dabei, nicht wahr?“, fragte mich Frau Lehmann.
Ich dachte, mir rutscht der Boden unter den Füssen weg. Nach Worten ringend starrte ich sie an. Selbst meine Frau war so überrascht, dass sie kein Wort sagte - und das hat schon was zu sagen.
„Das werde ich gleich meinem Mann erzählen, da wird der sich aber freuen!“ sagte Frau Lehmann lächelnd - und ich suchte verzweifelt etwas zum Festhalten. Zum Glück stand meine Frau neben mir, so dass ich mich bei ihr einhaken konnte.
„Behringer, Karl-Heinz Behringer aus der Dreizehn. Gertrud Behringer, meine Frau!“ jappste es hilflos aus mir heraus.
„Schön, dass Sie hier sind“, erwiderte Frau Lehmann immer noch freundlich lächelnd. „Möchten Sie nicht nachher noch reinkommen und einen Tee mit uns trinken? Mein Mann lernt seine Zuhörer gerne persönlich kennen.“
„Ich weiß nicht, ob wir ...“, weiter kam ich nicht. Meine Frau kniff mir so sehr in den Handrücken, dass mir fast die Tränen kamen.
„Natürlich, wir kommen gerne“, hörte ich sie zu meinem Entsetzen sagen, und wenig später saßen wir dann auch schon bei den Lehmanns im Wohnzimmer. - Eiche rustikal, ich hatte es geahnt.
Während Frau Lehmann unsere Bewirtung übernahm und sich ansonsten dezent im Hintergrund hielt, suchte der Herr Lehmann sehr schnell das Gespräch mit uns. Bald merkten wir jedoch, dass es ihm gar nicht so sehr um uns ging. Sein eigentliches Interesse bestand vielmehr darin, in aller Ausführlichkeit von sich selber zu erzählen. Dabei sprach er so langsam und umständlich, dass weder meine Frau noch ich uns später daran erinnern konnten, was er eigentlich genau gesagt hatte. Nach etwa zwei Stunden durften wir dann endlich gehen. An der Haustür nahm uns Frau Lehmann noch einmal kurz zur Seite.
„Ja, so ist er nun mal mein Mann“, sagte sie, und es schwang ein wenig Stolz in ihrer Stimme mit. „Wissen Sie, das mit dem Gesang ist seine große Freiheit, die er sich jede Woche gönnt.“
Vielsagend blickte sie uns noch einmal an bevor sie die Tür öffnete und uns freundlich verabschiedete. Meine Frau und ich gingen erst mal eine Runde um den Block - schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend. Als wir dann wieder zu Hause ankamen und ich die Haustür aufschloss, sagte meine Frau: „Verrückt ist das Ganze ja schon, aber ich gehe nächste Woche wieder hin!“
Ja und das tun wir seitdem auch, meine Frau und ich. Es ist ein lieb gewonnenes Ritual, dass wir nicht mehr missen wollen; wenn wir zuhören dürfen, wie der Herr Lehmann singt und dabei seine große Freiheit geniest.
Also, meine Frau meint ja, ich soll unbedingt mal über die Sache mit dem Herrn Lehmann berichten. Vorhin sagte sie gerade wieder, „Karl-Heinz“, sagte sie, „diese Sache mit dem Herrn Lehmann müsste man eigentlich aufschreiben. Mach das mal, du kannst doch so was ganz gut.“
Na ja, und da Gertrud, meine Frau, ja sowieso keine Ruhe gibt, wenn sie sich mal was in den Kopf gesetzt hat - besonders, wenn es mich betrifft - will ich der lieben Ruhe wegen von der Sache mit dem Herrn Lehmann erzählen.
Wir wohnen hier in einer recht ruhigen Gegend am Stadtrand von Hamburg. Viele von unseren Nachbarn sind Angestellte oder Beamte. Der Herr Lehmann wohnt nebenan in der Siebzehn. Wenn man ihm auf der Straße begegnen und ihn nicht kennen würde, also dann würde man wahrscheinlich gar nicht bemerken, dass man ihm begegnet ist - so unauffällig ist der Mann. Für mich ist er wie der Prototyp eines biedern, knorrigen Beamten. Mein Bruder, der Dieter, hat mal gesagt, dass der Herr Lehmann so das gewisse Garnichts hätte. Ich fand das ja im ersten Moment doch etwas hart, doch nachdem ich etwas länger darüber nachgedacht hatte, konnte ich schon verstehen wie der Dieter das meinte. Der Herr Lehmann wirkte meistens so trocken und in gewisser Weise auch unnahbar, dass ich immer die Vorstellung hatte, seine Büropflanzen müssten sofort zu welken beginnen, wenn diese ihn nur sahen.
Doch zu all dem kann ich nur sagen: Weit gefehlt! Dieser Mann, der Wochentags immer im grauen Anzug, mit blank polierten Schuhen und mit brauner Aktentasche pünktlich um sieben Uhr fünfzehn das Haus verlässt, und der dann ebenfalls wieder pünktlich um siebzehn Uhr fünfunddreißig nach Hause kommt, der so unscheinbar ist, dass man ihn kaum bemerkt, der mit einem Zentimetermaß den Abstand seiner Blumentöpfe auf dem Fensterbrett korrigiert - dieser Mann ist ein Genie!
Als meine Frau und ich vor etwa acht Jahren hier in das Haus eingezogen sind, haben wir uns schon sehr bald über die Ansammlung von Nachbarn gewundert, die jeden Samstagabend gegen neunzehn Uhr vor der Hausnummer Siebzehn stattfand. Nach etwa einer halben Stunde löste sich dann die Gruppe wieder auf, und die Leute verschwanden langsam in ihren Hauseingängen.
Irgendwann sind dann meine Frau und ich auch mal hinüber gegangen – wir, beziehungsweise meine Frau, ist ja dann doch immer neugieriger geworden. Ich wollte ja eigentlich gar nicht gehen, aber meine Frau hatte sich das nun mal so in den Kopf gesetzt und so ging ich halt mit. Wir haben uns dann einfach zu den anderen Nachbarn gestellt und abgewartet. Nach einiger Zeit war durch das Milchglas des Badezimmerfensters deutlich das Rauschen der Toilettenspülung zu hören. Daraufhin ging ein leises Raunen durch die Menge. Einen kurzen Moment später erklang dann das Prasseln der Dusche. Schlagartig wurde es ganz still um uns herum. Ich kann gar nicht beschreiben, wie merkwürdig meiner Frau und mir die Situation vorkam. Doch gerade als wir wieder gehen wollten, hörten wir diese Stimme, die uns seitdem jeden Samstag erneut in ihren Bann zieht. - Der Herr Lehmann sang.
Der Herr Lehmann sang italienische Arien, und alle hörten andächtig zu. Denn es war nicht der Gesang eines langweiligen biederen Mannes, der unter der Dusche ein Liedchen trällerte. Nein, da sang ein Genie, ein Gott. Ich wagte kaum zu atmen. Ein unbeschreiblicher Zauber lag in diesem Augenblick. Ein Zauber, der uns alle innehalten und schweigen ließ.
Nach etwa zwanzig Minuten verstummte der Gesang. Die Dusche wurde abgestellt. Wir blieben mit den übrigen Nachbarn noch eine Weile schweigend stehen. Nur langsam kam ich wieder zurück in diese Welt - und mir wurde bewusst, dass ich gerade zwanzig Minuten lang vor einem fremden Badezimmerfenster gestanden und einem mir eher unbekannten Mann beim Duschen zugehört hatte. Peinlichst berührt machte ich mich mit meiner Frau auf den Heimweg.
In der darauf folgenden Woche musste ich immer wieder daran denken, wie ich da vor dem Haus des Herrn Lehmann gestanden hatte. Dieser Gedanke war mir jedes Mal erneut höchst unangenehm. Doch trotz aller Skrupel konnte ich mich dem Reiz nicht entziehen. Also ging ich am nächsten Samstag gemeinsam mit meiner Frau wieder hinüber zum Badezimmerfenster des Herrn Lehmann.
Als wir da so standen und auf dessen Gesang warteten, tippte mir jemand vorsichtig auf die Schulter und bat mich, vorbeigelassen zu werden. Als ich mich umdrehte traf mich fast der Schlag: Es war die Frau Lehmann! Ich wusste gar nicht, wohin ich gucken sollte, so unangenehm war mir das. Ich schwor mir, nie wieder dorthin zu gehen und mich gleich ab der nächsten Woche auf Wohnungssuche zu begeben, möglichst weit weg am anderen Ende der Stadt.
„Sie sind neu dabei, nicht wahr?“, fragte mich Frau Lehmann.
Ich dachte, mir rutscht der Boden unter den Füssen weg. Nach Worten ringend starrte ich sie an. Selbst meine Frau war so überrascht, dass sie kein Wort sagte - und das hat schon was zu sagen.
„Das werde ich gleich meinem Mann erzählen, da wird der sich aber freuen!“ sagte Frau Lehmann lächelnd - und ich suchte verzweifelt etwas zum Festhalten. Zum Glück stand meine Frau neben mir, so dass ich mich bei ihr einhaken konnte.
„Behringer, Karl-Heinz Behringer aus der Dreizehn. Gertrud Behringer, meine Frau!“ jappste es hilflos aus mir heraus.
„Schön, dass Sie hier sind“, erwiderte Frau Lehmann immer noch freundlich lächelnd. „Möchten Sie nicht nachher noch reinkommen und einen Tee mit uns trinken? Mein Mann lernt seine Zuhörer gerne persönlich kennen.“
„Ich weiß nicht, ob wir ...“, weiter kam ich nicht. Meine Frau kniff mir so sehr in den Handrücken, dass mir fast die Tränen kamen.
„Natürlich, wir kommen gerne“, hörte ich sie zu meinem Entsetzen sagen, und wenig später saßen wir dann auch schon bei den Lehmanns im Wohnzimmer. - Eiche rustikal, ich hatte es geahnt.
Während Frau Lehmann unsere Bewirtung übernahm und sich ansonsten dezent im Hintergrund hielt, suchte der Herr Lehmann sehr schnell das Gespräch mit uns. Bald merkten wir jedoch, dass es ihm gar nicht so sehr um uns ging. Sein eigentliches Interesse bestand vielmehr darin, in aller Ausführlichkeit von sich selber zu erzählen. Dabei sprach er so langsam und umständlich, dass weder meine Frau noch ich uns später daran erinnern konnten, was er eigentlich genau gesagt hatte. Nach etwa zwei Stunden durften wir dann endlich gehen. An der Haustür nahm uns Frau Lehmann noch einmal kurz zur Seite.
„Ja, so ist er nun mal mein Mann“, sagte sie, und es schwang ein wenig Stolz in ihrer Stimme mit. „Wissen Sie, das mit dem Gesang ist seine große Freiheit, die er sich jede Woche gönnt.“
Vielsagend blickte sie uns noch einmal an bevor sie die Tür öffnete und uns freundlich verabschiedete. Meine Frau und ich gingen erst mal eine Runde um den Block - schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend. Als wir dann wieder zu Hause ankamen und ich die Haustür aufschloss, sagte meine Frau: „Verrückt ist das Ganze ja schon, aber ich gehe nächste Woche wieder hin!“
Ja und das tun wir seitdem auch, meine Frau und ich. Es ist ein lieb gewonnenes Ritual, dass wir nicht mehr missen wollen; wenn wir zuhören dürfen, wie der Herr Lehmann singt und dabei seine große Freiheit geniest.