Lohmanns Freiheit

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anbas

Mitglied
Die große Freiheit des Herrn Lehmann

Also, meine Frau meint ja, ich soll unbedingt mal über die Sache mit dem Herrn Lehmann berichten. Vorhin sagte sie gerade wieder, „Karl-Heinz“, sagte sie, „diese Sache mit dem Herrn Lehmann müsste man eigentlich aufschreiben. Mach das mal, du kannst doch so was ganz gut.“

Na ja, und da Gertrud, meine Frau, ja sowieso keine Ruhe gibt, wenn sie sich mal was in den Kopf gesetzt hat - besonders, wenn es mich betrifft - will ich der lieben Ruhe wegen von der Sache mit dem Herrn Lehmann erzählen.

Wir wohnen hier in einer recht ruhigen Gegend am Stadtrand von Hamburg. Viele von unseren Nachbarn sind Angestellte oder Beamte. Der Herr Lehmann wohnt nebenan in der Siebzehn. Wenn man ihm auf der Straße begegnen und ihn nicht kennen würde, also dann würde man wahrscheinlich gar nicht bemerken, dass man ihm begegnet ist - so unauffällig ist der Mann. Für mich ist er wie der Prototyp eines biedern, knorrigen Beamten. Mein Bruder, der Dieter, hat mal gesagt, dass der Herr Lehmann so das gewisse Garnichts hätte. Ich fand das ja im ersten Moment doch etwas hart, doch nachdem ich etwas länger darüber nachgedacht hatte, konnte ich schon verstehen wie der Dieter das meinte. Der Herr Lehmann wirkte meistens so trocken und in gewisser Weise auch unnahbar, dass ich immer die Vorstellung hatte, seine Büropflanzen müssten sofort zu welken beginnen, wenn diese ihn nur sahen.

Doch zu all dem kann ich nur sagen: Weit gefehlt! Dieser Mann, der Wochentags immer im grauen Anzug, mit blank polierten Schuhen und mit brauner Aktentasche pünktlich um sieben Uhr fünfzehn das Haus verlässt, und der dann ebenfalls wieder pünktlich um siebzehn Uhr fünfunddreißig nach Hause kommt, der so unscheinbar ist, dass man ihn kaum bemerkt, der mit einem Zentimetermaß den Abstand seiner Blumentöpfe auf dem Fensterbrett korrigiert - dieser Mann ist ein Genie!

Als meine Frau und ich vor etwa acht Jahren hier in das Haus eingezogen sind, haben wir uns schon sehr bald über die Ansammlung von Nachbarn gewundert, die jeden Samstagabend gegen neunzehn Uhr vor der Hausnummer Siebzehn stattfand. Nach etwa einer halben Stunde löste sich dann die Gruppe wieder auf, und die Leute verschwanden langsam in ihren Hauseingängen.

Irgendwann sind dann meine Frau und ich auch mal hinüber gegangen – wir, beziehungsweise meine Frau, ist ja dann doch immer neugieriger geworden. Ich wollte ja eigentlich gar nicht gehen, aber meine Frau hatte sich das nun mal so in den Kopf gesetzt und so ging ich halt mit. Wir haben uns dann einfach zu den anderen Nachbarn gestellt und abgewartet. Nach einiger Zeit war durch das Milchglas des Badezimmerfensters deutlich das Rauschen der Toilettenspülung zu hören. Daraufhin ging ein leises Raunen durch die Menge. Einen kurzen Moment später erklang dann das Prasseln der Dusche. Schlagartig wurde es ganz still um uns herum. Ich kann gar nicht beschreiben, wie merkwürdig meiner Frau und mir die Situation vorkam. Doch gerade als wir wieder gehen wollten, hörten wir diese Stimme, die uns seitdem jeden Samstag erneut in ihren Bann zieht. - Der Herr Lehmann sang.

Der Herr Lehmann sang italienische Arien, und alle hörten andächtig zu. Denn es war nicht der Gesang eines langweiligen biederen Mannes, der unter der Dusche ein Liedchen trällerte. Nein, da sang ein Genie, ein Gott. Ich wagte kaum zu atmen. Ein unbeschreiblicher Zauber lag in diesem Augenblick. Ein Zauber, der uns alle innehalten und schweigen ließ.

Nach etwa zwanzig Minuten verstummte der Gesang. Die Dusche wurde abgestellt. Wir blieben mit den übrigen Nachbarn noch eine Weile schweigend stehen. Nur langsam kam ich wieder zurück in diese Welt - und mir wurde bewusst, dass ich gerade zwanzig Minuten lang vor einem fremden Badezimmerfenster gestanden und einem mir eher unbekannten Mann beim Duschen zugehört hatte. Peinlichst berührt machte ich mich mit meiner Frau auf den Heimweg.

In der darauf folgenden Woche musste ich immer wieder daran denken, wie ich da vor dem Haus des Herrn Lehmann gestanden hatte. Dieser Gedanke war mir jedes Mal erneut höchst unangenehm. Doch trotz aller Skrupel konnte ich mich dem Reiz nicht entziehen. Also ging ich am nächsten Samstag gemeinsam mit meiner Frau wieder hinüber zum Badezimmerfenster des Herrn Lehmann.

Als wir da so standen und auf dessen Gesang warteten, tippte mir jemand vorsichtig auf die Schulter und bat mich, vorbeigelassen zu werden. Als ich mich umdrehte traf mich fast der Schlag: Es war die Frau Lehmann! Ich wusste gar nicht, wohin ich gucken sollte, so unangenehm war mir das. Ich schwor mir, nie wieder dorthin zu gehen und mich gleich ab der nächsten Woche auf Wohnungssuche zu begeben, möglichst weit weg am anderen Ende der Stadt.

„Sie sind neu dabei, nicht wahr?“, fragte mich Frau Lehmann.

Ich dachte, mir rutscht der Boden unter den Füssen weg. Nach Worten ringend starrte ich sie an. Selbst meine Frau war so überrascht, dass sie kein Wort sagte - und das hat schon was zu sagen.

„Das werde ich gleich meinem Mann erzählen, da wird der sich aber freuen!“ sagte Frau Lehmann lächelnd - und ich suchte verzweifelt etwas zum Festhalten. Zum Glück stand meine Frau neben mir, so dass ich mich bei ihr einhaken konnte.

„Behringer, Karl-Heinz Behringer aus der Dreizehn. Gertrud Behringer, meine Frau!“ jappste es hilflos aus mir heraus.

„Schön, dass Sie hier sind“, erwiderte Frau Lehmann immer noch freundlich lächelnd. „Möchten Sie nicht nachher noch reinkommen und einen Tee mit uns trinken? Mein Mann lernt seine Zuhörer gerne persönlich kennen.“

„Ich weiß nicht, ob wir ...“, weiter kam ich nicht. Meine Frau kniff mir so sehr in den Handrücken, dass mir fast die Tränen kamen.

„Natürlich, wir kommen gerne“, hörte ich sie zu meinem Entsetzen sagen, und wenig später saßen wir dann auch schon bei den Lehmanns im Wohnzimmer. - Eiche rustikal, ich hatte es geahnt.

Während Frau Lehmann unsere Bewirtung übernahm und sich ansonsten dezent im Hintergrund hielt, suchte der Herr Lehmann sehr schnell das Gespräch mit uns. Bald merkten wir jedoch, dass es ihm gar nicht so sehr um uns ging. Sein eigentliches Interesse bestand vielmehr darin, in aller Ausführlichkeit von sich selber zu erzählen. Dabei sprach er so langsam und umständlich, dass weder meine Frau noch ich uns später daran erinnern konnten, was er eigentlich genau gesagt hatte. Nach etwa zwei Stunden durften wir dann endlich gehen. An der Haustür nahm uns Frau Lehmann noch einmal kurz zur Seite.

„Ja, so ist er nun mal mein Mann“, sagte sie, und es schwang ein wenig Stolz in ihrer Stimme mit. „Wissen Sie, das mit dem Gesang ist seine große Freiheit, die er sich jede Woche gönnt.“

Vielsagend blickte sie uns noch einmal an bevor sie die Tür öffnete und uns freundlich verabschiedete. Meine Frau und ich gingen erst mal eine Runde um den Block - schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend. Als wir dann wieder zu Hause ankamen und ich die Haustür aufschloss, sagte meine Frau: „Verrückt ist das Ganze ja schon, aber ich gehe nächste Woche wieder hin!“

Ja und das tun wir seitdem auch, meine Frau und ich. Es ist ein lieb gewonnenes Ritual, dass wir nicht mehr missen wollen; wenn wir zuhören dürfen, wie der Herr Lehmann singt und dabei seine große Freiheit geniest.
 

anbas

Mitglied
Hallo Marius,

danke für deinen Kommentar. Ja, das Tempo halte ich auch für angemessen. Bei Lesungen packe ich die Geschichte noch ein bißchen in Hamburger Slang ein - das gibt dem Ganzen dann ein bißchen mehr 'Farbe' :D.

Liebe Grüße

Andreas
 
P

Pete

Gast
Stilistisch sehr ausgefeilt, aber vermutlich in der falschen Rubrik. Im Bereich "Humor und Satire" habe ich als Leser andere Erwartungen.

In Deiner Geschichte ist der Humor schon extrem subtil, aber nicht das vorherrschende Klassifikationsmerkmal.

Wie wäre es mit der Rubrik "Erzählungen" oder "Kurzgeschichten"?

Evtl. kürzen oder mehr teasen, à la "Sie glauben nicht, was mir pasasiert ist ...". Dadurch erreichen Mehr Leser die Pointe am Schluss.

Sehr gut ist der Titel! Er macht neugierig.
 
Hi Pete,

Ich wäre nicht so streng mit anbas Text. Es gibt mehrere Arten von Humor, und manche mag man, manche mag man nicht. Es gibt natürlich immer Wege, den Text mehr zu "würzen", aber das ist nicht jedermanns Sache und Stil.

Wie Du ja im Forumsgeleit siehst, gibt's einerseits gewisse Techniken (die meiner Meinung nach jeder hier im Forum kennen und ausprobiert haben sollte), um einen normalen Text lustiger zu machen, es kann aber auch durchaus der Plot selbst sein, der Humor enthält.

Auch wenn anbas die Techniken nicht oder sparsam eingesetzt hat, so finde ich den Plot einfach subtil humorig. Und für seine Geschichte ist vermutlich die Anwendungen der Forumsgeleit-Techniken störend.

Apropos: wir werden bald eine Schreibaufgabe zu einem humoristischen/satirischen Thema haben, das auch in diesem Stil zu halten ist. Da werden wir ja sehen, wer das Thema (haben flammarion und ich ausgesucht) wie aufarbeitet. Bin schon sehr gespannt ;-)

Marius
 

anbas

Mitglied
Die große Freiheit des Herrn Lehmann
(Überarbeitete Fassung)

Also, meine Frau meint ja, ich soll unbedingt mal über die Sache mit dem Herrn Lehmann berichten. Vorhin sagte sie gerade wieder, „Karl-Heinz“, sagte sie, „diese Sache mit dem Herrn Lehmann müsste man eigentlich aufschreiben. Mach das mal, du kannst doch so was ganz gut.“
Na ja, und da Gertrud, meine Frau, ja sowieso keine Ruhe gibt, wenn sie sich mal was in den Kopf gesetzt hat - besonders, wenn es mich betrifft - will ich der lieben Ruhe wegen von der Sache mit dem Herrn Lehmann erzählen.
Wir wohnen hier in einer recht ruhigen Gegend am Stadtrand von Hamburg. Viele von unseren Nachbarn sind Angestellte oder Beamte. Die meisten Gebäude sind dreistöckige Mehrfamilienhäuser, Klinker aus den sechziger Jahren. Wie längliche Klötze führen sie von der Strasse weg. Pro Klotz gibt es drei Eingänge. Zwischen den Häusern befinden sich großzügige Rasenflächen, ab und zu ein Spielplatz oder - seit kurzer Zeit - ein eingezäuntes Freilaufgelände für Hunde.
Der Herr Lehmann wohnt gegenüber in der Vierzehn im Erdgeschoss. Wenn man ihm auf der Straße begegnen und ihn nicht kennen würde, also dann würde man wahrscheinlich gar nicht bemerken, dass man ihm begegnet ist - so unauffällig ist der Mann. Er wirkte auf mich wie der Prototyp eines biedern, knorrigen Beamten. Mein Bruder, der Dieter, hat mal gesagt, dass der Herr Lehmann so das gewisse Garnichts hätte. Ich fand das ja im ersten Moment doch etwas hart, aber nachdem ich etwas länger darüber nachgedacht hatte, konnte ich schon verstehen wie der Dieter das meinte. Der Herr Lehmann wirkte meistens so trocken und in gewisser Weise auch unnahbar, dass ich immer die Vorstellung hatte, seine Büropflanzen müssten sofort zu welken beginnen, wenn die ihn nur sahen.
Doch zu all dem kann ich nur sagen: Weit gefehlt! Dieser Mann, der Wochentags immer im grauen Anzug, mit blank polierten Schuhen und mit brauner Aktentasche pünktlich um sieben Uhr fünfzehn das Haus verlässt, und der dann ebenfalls wieder pünktlich um siebzehn Uhr fünfunddreißig nach Hause kommt, der so unscheinbar ist, dass man ihn kaum bemerkt, der mit einem Zentimetermaß den Abstand seiner Blumentöpfe auf dem Fensterbrett korrigiert - dieser Mann ist ein Genie!
Als meine Frau und ich vor etwa acht Jahren hier in das Haus gezogen sind, haben wir uns schon sehr bald über die Ansammlung von Nachbarn gewundert, die jeden Sonnabendabend gegen neunzehn Uhr vor der Hausnummer Vierzehn stattfand. Nach etwa einer halben Stunde löste sich dann die Gruppe wieder auf, und die Leute verschwanden langsam in ihren Hauseingängen.
Irgendwann sind dann meine Frau und ich auch mal hinüber gegangen – wir, beziehungsweise meine Frau, ist ja dann doch immer neugieriger geworden. Ich wollte ja eigentlich gar nicht hingehen, aber meine Frau hatte sich das nun mal so in den Kopf gesetzt und so ging ich halt mit. Dort angekommen haben wir uns einfach zu den anderen dazugestellt und abgewartet. Nach einiger Zeit war durch das Milchglasfenster eines der Badezimmer im Erdgeschoss deutlich das Rauschen der Toilettenspülung zu hören. Daraufhin ging ein leises Raunen durch die Menge. Einen kurzen Moment später erklang dann das Prasseln der Dusche. In diesem Moment wurde es ganz still um uns herum. Ich kann gar nicht beschreiben, wie merkwürdig meiner Frau und mir diese Situation vorkam. Merkwürdig und irgendwie ... ja, irgendwie auch blöde. Doch gerade als wir uns umdrehen und gehen wollten, hörten wir diese Stimme, die uns sofort in ihren Bann zog. - Der Herr Lehmann sang.
Der Herr Lehmann sang italienische Arien, und alle hörten andächtig zu. Denn es war nicht der Gesang eines langweiligen biederen Mannes, der unter der Dusche ein Liedchen trällerte. Nein, da sang ein Genie, ein Gott. Ich wagte kaum zu atmen. Den anderen Zuhörern schien es ähnlich zu ergehen. Ein unbeschreiblicher Zauber lag in diesem Augenblick. Ein Zauber, der uns alle innehalten und schweigen ließ.
Nach etwa zwanzig Minuten verstummte der Gesang. Die Dusche wurde abgestellt. Wir blieben mit den übrigen Nachbarn noch eine Weile schweigend stehen. Jeder schien das, was er gerade gehört hatte, für sich noch ein wenig nachklingen zu las-sen. Langsam kam ich wieder zurück in diese Welt - und mir wurde bewusst, dass ich gerade zwanzig Minuten lang vor einem fremden Badezimmerfenster gestanden und einem mir eher unbekannten Mann beim Duschen zugehört hatte. Peinlich! - Peinlichst berührt machte ich mich mit meiner Frau auf den Heimweg.
In der darauf folgenden Woche musste ich immer wieder daran denken, wie ich da mit meiner Frau vor dem Badezimmerfenster des Herrn Lehmann gestanden hatte. Trotz aller Faszination war mir die Erinnerung an diese Situation jedes Mal erneut höchst unangenehm. Doch am nächsten Sonnabend konnte ich mich trotz aller Skrupel nicht zurückhalten und ging gemeinsam mit meiner Frau wieder hinüber zum Badezimmerfenster des Herrn Lehmann.
Als wir da so standen und auf dessen Gesang warteten, tippte mir jemand vorsichtig auf die Schulter und bat mich, vorbeigelassen zu werden. Als ich mich umdrehte traf mich fast der Schlag: Es war die Frau Lehmann...!
Ich wusste zunächst gar nicht, wohin ich gucken sollte, so unangenehm war mir das. Ich schwor mir, nie wieder dorthin zu gehen und gleich ab der nächsten Woche mit der Wohnungssuche zu beginnen, möglichst weit weg am anderen Ende der Stadt.
„Sie sind neu dabei, nicht wahr?“, fragte mich Frau Lehmann.
Ich dachte, mir rutscht der Boden unter meinen Füssen weg. Nach Worten ringend starrte ich sie an. Selbst meine Frau war so überrascht, dass sie kein Wort sagte - und das hat schon was zu sagen.
„Das werde ich gleich meinem Mann erzählen, da wird der sich aber freuen!“ sagte Frau Lehmann lächelnd - und ich suchte verzweifelt etwas zum Festhalten. Zum Glück stand meine Frau neben mir, so dass ich mich bei ihr einhaken konnte.
„Behringer, Karl-Heinz Behringer aus der Dreizehn. Gertrud Behringer, meine Frau!“ jappste es hilflos aus mir heraus.
„Schön, dass Sie hier sind“, erwiderte Frau Lehmann immer noch freundlich lächelnd. „Möchten Sie nicht nachher noch reinkommen und einen Tee mit uns trinken? Mein Mann lernt seine Zuhörer gerne persönlich kennen.“
„Ich weiß nicht, ob wir ...“, weiter kam ich nicht. Meine Frau kniff mir so sehr in den Handrücken, dass mir fast die Tränen kamen.
„Natürlich, wir kommen gerne“, hörte ich sie zu meinem Entsetzen sagen. Natürlich – zur Befriedigung ihrer Neugier setzte sie mal wieder unseren Ehefrieden, unser Ansehen in der Nachbarschaft, ja quasi unsere gesamte Existenz aufs Spiel. Und so kam es, dass wir schon wenig später bei den Lehmanns im Wohnzimmer saßen - Eiche rustikal, ich hatte es geahnt.
Während Frau Lehmann unsere Bewirtung übernahm und sich ansonsten dezent im Hintergrund hielt, suchte der Herr Lehmann sehr schnell das Gespräch mit uns. Bald merkten wir jedoch, dass es ihm gar nicht so sehr um uns ging. Sein eigentliches Interesse bestand vielmehr darin, in aller Ausführlichkeit von sich selber zu erzählen. Dabei sprach er so langsam und umständlich, dass weder meine Frau noch ich uns später daran erinnern konnten, was er eigentlich genau gesagt hatte. Nach etwa zwei Stunden durften wir dann endlich gehen. An der Haustür nahm uns Frau Lehmann noch einmal kurz zur Seite.
„Ja, so ist er nun mal mein Mann“, sagte sie, und es schwang ein wenig Stolz in ihrer Stimme mit. „Wissen Sie, das mit dem Gesang ist seine große Freiheit, die er sich jede Woche gönnt.“
Vielsagend blickte sie uns noch einmal an bevor sie die Tür öffnete und uns freundlich verabschiedete. Meine Frau und ich gingen erst mal eine Runde um den Block - schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend. Als wir wieder zu Hause ankamen und ich die Haustür aufschloss, sagte meine Frau: „Verrückt ist das Ganze ja schon, aber ich gehe nächste Woche wieder hin!“
Ja, und das tun wir seitdem auch, meine Frau und ich. Es ist ein lieb gewonnenes Ritual, dass wir nicht mehr missen wollen; wenn wir jeden Sonnabend zuhören dürfen, wie der Herr Lehmann singt und dabei seine große Freiheit geniest.
 

anbas

Mitglied
Mööönsch, da will ich nur die überarbeitete Fassung reinstellen, und sehe, dass ich gar nicht auf die letzten Komms geantwortet habe :confused:. Ich bin diesbezüglich zwar nicht immer so gaaanz fix, aber so lange ist ja nun auch nicht gut. Entschuldigt bitte!

Also, ich danke Euch für die Auseinandersetzung mit dem Text - sowohl für das Lob als auch die kritischen Anmerkungen. Inzwischen gibt es mehrere Fassungen mit jeweils leicht geänderten Titeln. Diese Fassung ist die, die ich auch auf Lesungen vortrage. Und da Pete diesen Titel so gelobt hat, behalte ich ihn hier an dieser Stelle bei, obwohl diese Fassung eigentlich einen anderen hat - aber da muss ja nur ich durchblicken :D.
 
K

Karl-Hubert Hase

Gast
Als ich anfing, diese Geschichte zu lesen, hatte ich das Gefühl: langsam, träge geschrieben. Wird das jetzt langweilig? Ist das eine Kurzgeschichte?
Nach einigen Zeilen las ich aufmerksamer, dann wurde es interessant. Was mag jetzt kommen? Was soll denn da erzählt werden?
Dann wollte ich nicht mehr aufhören! Ich mußte wissen, was denn da los ist.
Auf einmal: nichts mehr von träge!
Ich muß sagen: sie hat mir gut gefallen - die Geschichte.
Ich bin jetzt auf der Suche.
Nach was? Ist doch wohl klar, oder?
Nach einem Nachbarn mit Dusche!
 

anbas

Mitglied
Hallo Karl-Hubert,

ich freue mich sehr, dass Du in die Geschichte "reingekommen" und geblieben bist.

Nachbarn mit Dusche wirst Du sicherlich finden. - Doch ob die auch singen ... :D

Liebe Grüße

Andreas
 

anbas

Mitglied
Lohmanns Freiheit*

Also, meine Frau meint ja, ich soll unbedingt mal über die Sache mit dem Herrn Lohmann berichten. Vorhin sagte sie gerade wieder, „Karl-Heinz“, sagte sie, „diese Sache mit dem Herrn Lohmann müsste man eigentlich aufschreiben. Mach das mal, du kannst doch so was ganz gut.“

Na ja, und da Gertrud, meine Frau, ja sowieso keine Ruhe gibt, wenn sie sich mal was in den Kopf gesetzt hat - besonders, wenn es mich betrifft - will ich der lieben Ruhe wegen von der Sache mit dem Herrn Lohmann erzählen.

Wir wohnen hier in einer recht ruhigen Gegend am Stadtrand von Hamburg. Viele von unseren Nachbarn sind Angestellte oder Beamte. Bei den meisten Gebäuden handelt es sich um dreistöckige Mehrfamilienhäuser, Klinker aus den sechziger Jahren. Wie längliche Klötze führen sie von der Strasse weg. Pro Klotz gibt es drei Eingänge. Zwischen den Häusern befinden sich großzügige Rasenflächen, ab und zu ein Spielplatz oder - seit kurzer Zeit - ein eingezäuntes Freilaufgelände für Hunde.

Der Herr Lohmann wohnt gegenüber in der Vierzehn im Erdgeschoss. Wenn man ihm auf der Straße begegnen und ihn nicht kennen würde, also dann würde man wahrscheinlich gar nicht bemerken, dass man ihm begegnet ist - so unauffällig ist der Mann. Er wirkte auf mich wie der Prototyp eines biedern, knorrigen Beamten. Mein Bruder, der Dieter, hat mal gesagt, dass der Herr Lohmann so das gewisse Garnichts hätte. Ich fand das ja im ersten Moment doch etwas hart, aber nachdem ich länger darüber nachgedacht hatte, konnte ich schon verstehen wie der Dieter das meinte. Der Herr Lohmann wirkte meistens so trocken und in gewisser Weise auch unnahbar, dass ich immer die Vorstellung hatte, seine Büropflanzen müssten sofort zu welken beginnen, wenn sie ihn nur sahen.

Doch zu all dem kann ich nur sagen: Weit gefehlt! Dieser Mann, der Wochentags immer im grauen Anzug, mit blank polierten Schuhen und mit brauner Aktentasche pünktlich um sieben Uhr fünfzehn das Haus verlässt, und der dann ebenfalls wieder pünktlich um siebzehn Uhr fünfunddreißig nach Hause kommt, der so unscheinbar ist, dass man ihn kaum bemerkt, der mit einem Zentimetermaß den Abstand seiner Blumentöpfe auf dem Fensterbrett korrigiert - dieser Mann ist ein Genie!

Als meine Frau und ich vor etwa acht Jahren hier in das Haus gezogen sind, haben wir uns schon sehr bald über die Ansammlung von Nachbarn gewundert, die jeden Samstagabend gegen neunzehn Uhr vor der Hausnummer Vierzehn stattfand. Nach etwa einer halben Stunde löste sich dann die Gruppe wieder auf, und die Leute verschwanden langsam in ihren Hauseingängen.

Irgendwann sind dann meine Frau und ich auch mal rüber gegangen – wir, bezie-hungsweise meine Frau, ist ja dann doch immer neugieriger geworden. Ich wollte ja eigentlich gar nicht hingehen, aber meine Frau hatte sich das nun mal so in den Kopf gesetzt und so ging ich halt mit. Dort angekommen haben wir uns einfach zu den anderen dazugestellt und abgewartet. Nach einiger Zeit war durch das Milchglasfenster eines der Badezimmer im Erdgeschoss deutlich das Rauschen der Toilettenspülung zu hören. Daraufhin ging ein leises Raunen durch die Menge. Einen kurzen Moment später erklang dann das Prasseln der Dusche. In diesem Moment wurde es ganz still um uns herum. Ich kann gar nicht beschreiben, wie merkwürdig meiner Frau und mir diese Situation vorkam. Merkwürdig und irgendwie ... ja, irgendwie auch blöde. Doch gerade als wir uns umdrehen und gehen wollten, hörten wir diese Stimme, die uns sofort in ihren Bann zog. - Der Herr Lohmann sang.

Der Herr Lohmann sang italienische Arien, und alle hörten andächtig zu. Denn es war nicht der Gesang eines langweiligen biederen Mannes, der da unter der Dusche ein Liedchen trällerte. Nein, dort sang ein Genie, ein Gott. Ich wagte kaum zu atmen. Den anderen Zuhörern schien es ähnlich zu ergehen. Ein unbeschreiblicher Zauber lag in diesem Augenblick. Ein Zauber, der uns alle innehalten und schweigen ließ.

Nach etwa zwanzig Minuten verstummte der Gesang. Die Dusche wurde abgestellt. Wir blieben mit den übrigen Nachbarn noch eine Weile schweigend stehen. Jeder schien das, was er gerade gehört hatte, für sich noch ein wenig nachklingen zu las-sen. Langsam kam ich wieder zurück in diese Welt - und mir wurde bewusst, dass ich gerade zwanzig Minuten lang vor einem fremden Badezimmerfenster gestanden und einem mir eher unbekannten Mann beim Duschen zugehört hatte. Peinlich! - Peinlichst berührt machte ich mich mit meiner Frau auf den Heimweg.

In der darauf folgenden Woche musste ich immer wieder daran denken, wie ich da mit meiner Frau vor dem Badezimmerfenster des Herrn Lohmann gestanden hatte. Trotz aller Faszination war mir die Erinnerung an diese Situation jedes Mal erneut höchst unangenehm. Doch am nächsten Samstag konnte ich mich trotz aller Skrupel nicht zurückhalten und ging gemeinsam mit meiner Frau wieder hinüber zum Badezimmerfenster des Herrn Lohmann.

Als wir da so standen und auf dessen Gesang warteten, tippte mir jemand vorsichtig auf die Schulter und bat mich, vorbeigelassen zu werden. Als ich mich umdrehte, traf mich fast der Schlag: Es war die Frau Lohmann ...!

Ich wusste zunächst gar nicht, wohin ich gucken sollte, so unangenehm war mir das. Ich schwor im Stillen, nie wieder dorthin zu gehen und gleich ab der nächsten Woche mit der Wohnungssuche zu beginnen, möglichst weit weg am anderen Ende der Stadt.

„Sie sind neu dabei, nicht wahr?“, fragte mich Frau Lohmann.

Ich dachte, mir rutscht der Boden unter meinen Füssen weg. Nach Worten ringend starrte ich sie an. Selbst meine Frau war so überrascht, dass sie kein Wort sagte - und das hat schon was zu sagen.

„Das werde ich gleich meinem Mann erzählen, da wird der sich aber freuen!“ sagte Frau Lohmann lächelnd - und ich suchte verzweifelt etwas zum Festhalten. Zum Glück stand meine Frau neben mir, so dass ich mich bei ihr einhaken konnte.

„Behringer, Karl-Heinz Behringer aus der Dreizehn. Gertrud Behringer, meine Frau!“ jappste es hilflos aus mir heraus.

„Schön, dass Sie hier sind“, erwiderte Frau Lohmann immer noch freundlich lächelnd. „Möchten Sie nicht nachher noch reinkommen und einen Tee mit uns trinken? Mein Mann lernt seine Zuhörer gerne persönlich kennen.“

„Ich weiß nicht, ob wir ...“, weiter kam ich nicht. Meine Frau kniff mir so sehr in den Handrücken, dass mir fast die Tränen kamen.

„Natürlich, wir kommen gerne“, hörte ich sie zu meinem Entsetzen sagen. Natürlich – zur Befriedigung ihrer Neugier setzte sie mal wieder unseren Ehefrieden, unser Ansehen in der Nachbarschaft, ja quasi unsere gesamte Existenz aufs Spiel. Und so kam es, dass wir schon wenig später bei den Lohmanns im Wohnzimmer saßen – Eiche rustikal, ich hatte es geahnt.

Während Frau Lohmann unsere Bewirtung übernahm und sich ansonsten dezent im Hintergrund hielt, suchte der Herr Lohmann sehr schnell das Gespräch mit meiner Frau und mir. Bald merkten wir jedoch, dass es ihm gar nicht so sehr um uns ging. Sein eigentliches Interesse bestand vielmehr darin, in aller Ausführlichkeit von sich selber zu erzählen. Dabei sprach er so langsam und umständlich, dass weder meine Frau noch ich uns später daran erinnern konnten, was er eigentlich genau gesagt hatte. Nach etwa zwei Stunden durften wir dann endlich gehen. An der Haustür nahm uns Frau Lohmann noch einmal kurz zur Seite.

„Ja, so ist er nun mal mein Mann“, sagte sie, und es schwang ein wenig Stolz in ihrer Stimme mit. „Wissen Sie, das mit dem Gesang ist seine große Freiheit, die er sich jede Woche gönnt.“

Vielsagend blickte sie uns noch einmal an bevor sie die Tür öffnete und uns freundlich verabschiedete. Meine Frau und ich gingen erst mal eine Runde um den Block – schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend. Als wir wieder zu Hause ankamen und ich die Haustür aufschloss, sagte meine Frau: „Verrückt ist das Ganze ja schon - aber ich gehe nächste Woche wieder hin!“

Ja, und das tun wir seitdem auch, meine Frau und ich. Es ist ein lieb gewonnenes Ritual, dass wir nicht mehr missen wollen; wenn wir jeden Sonnabend zuhören dürfen, wie der Herr Lohmann singt und dabei seine große Freiheit geniest.



* Der Name "Herr Lehmann", wie Herr Lohmann in meiner ursprünglichen Fassung hieß, ist durch den Roman von Sven Regener bereits belegt. Und das so eindeutig, dass ich häufiger angesprochen wurde, ob "mein" Herr Lehmann etwas mit dem anderen zu tun hätte. Da dies nicht der Fall ist, habe ich mich dazu entschieden, ihn umzubennen. In diesem Zusammenhang bin ich auch noch mal über den Text gegangen und habe ihn noch mal ein wenig überarbeitet.
 

anbas

Mitglied
Lohmanns Freiheit*

Also, meine Frau meint ja, ich soll unbedingt mal über die Sache mit dem Herrn Lohmann berichten. Vorhin sagte sie gerade wieder, „Karl-Heinz“, sagte sie, „diese Sache mit dem Herrn Lohmann müsste man eigentlich aufschreiben. Mach das mal, du kannst doch so was ganz gut.“

Na ja, und da Gertrud, meine Frau, ja sowieso keine Ruhe gibt, wenn sie sich mal was in den Kopf gesetzt hat - besonders, wenn es mich betrifft - will ich der lieben Ruhe wegen von der Sache mit dem Herrn Lohmann erzählen.

Wir wohnen hier in einer recht ruhigen Gegend am Stadtrand von Hamburg. Viele von unseren Nachbarn sind Angestellte oder Beamte. Bei den meisten Gebäuden handelt es sich um dreistöckige Mehrfamilienhäuser, Klinker aus den sechziger Jahren. Wie längliche Klötze führen sie von der Strasse weg. Pro Klotz gibt es drei Eingänge. Zwischen den Häusern befinden sich großzügige Rasenflächen, ab und zu ein Spielplatz oder - seit kurzer Zeit - ein eingezäuntes Freilaufgelände für Hunde.

Der Herr Lohmann wohnt gegenüber in der Vierzehn im Erdgeschoss. Wenn man ihm auf der Straße begegnen und ihn nicht kennen würde, also dann würde man wahrscheinlich gar nicht bemerken, dass man ihm begegnet ist - so unauffällig ist der Mann. Er wirkte auf mich wie der Prototyp eines biedern, knorrigen Beamten. Mein Bruder, der Dieter, hat mal gesagt, dass der Herr Lohmann so das gewisse Garnichts hätte. Ich fand das ja im ersten Moment doch etwas hart, aber nachdem ich länger darüber nachgedacht hatte, konnte ich schon verstehen wie der Dieter das meinte. Der Herr Lohmann wirkte meistens so trocken und in gewisser Weise auch unnahbar, dass ich immer die Vorstellung hatte, seine Büropflanzen müssten sofort zu welken beginnen, wenn sie ihn nur sahen.

Doch zu all dem kann ich nur sagen: Weit gefehlt! Dieser Mann, der Wochentags immer im grauen Anzug, mit blank polierten Schuhen und mit brauner Aktentasche pünktlich um sieben Uhr fünfzehn das Haus verlässt, und der dann ebenfalls wieder pünktlich um siebzehn Uhr fünfunddreißig nach Hause kommt, der so unscheinbar ist, dass man ihn kaum bemerkt, der mit einem Zentimetermaß den Abstand seiner Blumentöpfe auf dem Fensterbrett korrigiert - dieser Mann ist ein Genie!

Als meine Frau und ich vor etwa acht Jahren hier in das Haus gezogen sind, haben wir uns schon sehr bald über die Ansammlung von Nachbarn gewundert, die jeden Samstagabend gegen neunzehn Uhr vor der Hausnummer Vierzehn stattfand. Nach etwa einer halben Stunde löste sich dann die Gruppe wieder auf, und die Leute verschwanden langsam in ihren Hauseingängen.

Irgendwann sind dann meine Frau und ich auch mal rüber gegangen – wir, bezie-hungsweise meine Frau, ist ja dann doch immer neugieriger geworden. Ich wollte ja eigentlich gar nicht hingehen, aber meine Frau hatte sich das nun mal so in den Kopf gesetzt und so ging ich halt mit. Dort angekommen haben wir uns einfach zu den anderen dazugestellt und abgewartet. Nach einiger Zeit war durch das Milchglasfenster eines der Badezimmer im Erdgeschoss deutlich das Rauschen der Toilettenspülung zu hören. Daraufhin ging ein leises Raunen durch die Menge. Einen kurzen Moment später erklang dann das Prasseln der Dusche. In diesem Moment wurde es ganz still um uns herum. Ich kann gar nicht beschreiben, wie merkwürdig meiner Frau und mir diese Situation vorkam. Merkwürdig und irgendwie ... ja, irgendwie auch blöde. Doch gerade als wir uns umdrehen und gehen wollten, hörten wir diese Stimme, die uns sofort in ihren Bann zog. - Der Herr Lohmann sang.

Der Herr Lohmann sang italienische Arien, und alle hörten andächtig zu. Denn es war nicht der Gesang eines langweiligen biederen Mannes, der da unter der Dusche ein Liedchen trällerte. Nein, dort sang ein Genie, ein Gott. Ich wagte kaum zu atmen. Den anderen Zuhörern schien es ähnlich zu ergehen. Ein unbeschreiblicher Zauber lag in diesem Augenblick. Ein Zauber, der uns alle innehalten und schweigen ließ.

Nach etwa zwanzig Minuten verstummte der Gesang. Die Dusche wurde abgestellt. Wir blieben mit den übrigen Nachbarn noch eine Weile schweigend stehen. Jeder schien das, was er gerade gehört hatte, für sich noch ein wenig nachklingen zu las-sen. Langsam kam ich wieder zurück in diese Welt - und mir wurde bewusst, dass ich gerade zwanzig Minuten lang vor einem fremden Badezimmerfenster gestanden und einem mir eher unbekannten Mann beim Duschen zugehört hatte. Peinlich! - Peinlichst berührt machte ich mich mit meiner Frau auf den Heimweg.

In der darauf folgenden Woche musste ich immer wieder daran denken, wie ich da mit meiner Frau vor dem Badezimmerfenster des Herrn Lohmann gestanden hatte. Trotz aller Faszination war mir die Erinnerung an diese Situation jedes Mal erneut höchst unangenehm. Doch am nächsten Samstag konnte ich mich trotz aller Skrupel nicht zurückhalten und ging gemeinsam mit meiner Frau wieder hinüber zum Badezimmerfenster des Herrn Lohmann.

Als wir da so standen und auf dessen Gesang warteten, tippte mir jemand vorsichtig auf die Schulter und bat mich, vorbeigelassen zu werden. Als ich mich umdrehte, traf mich fast der Schlag: Es war die Frau Lohmann ...!

Ich wusste zunächst gar nicht, wohin ich gucken sollte, so unangenehm war mir das. Ich schwor im Stillen, nie wieder dorthin zu gehen und gleich ab der nächsten Woche mit der Wohnungssuche zu beginnen, möglichst weit weg am anderen Ende der Stadt.

„Sie sind neu dabei, nicht wahr?“, fragte mich Frau Lohmann.

Ich dachte, mir rutscht der Boden unter meinen Füssen weg. Nach Worten ringend starrte ich sie an. Selbst meine Frau war so überrascht, dass sie kein Wort sagte - und das hat schon was zu sagen.

„Das werde ich gleich meinem Mann erzählen, da wird der sich aber freuen!“ sagte Frau Lohmann lächelnd - und ich suchte verzweifelt etwas zum Festhalten. Zum Glück stand meine Frau neben mir, so dass ich mich bei ihr einhaken konnte.

„Behringer, Karl-Heinz Behringer aus der Dreizehn. Gertrud Behringer, meine Frau!“ jappste es hilflos aus mir heraus.

„Schön, dass Sie hier sind“, erwiderte Frau Lohmann immer noch freundlich lächelnd. „Möchten Sie nicht nachher noch reinkommen und einen Tee mit uns trinken? Mein Mann lernt seine Zuhörer gerne persönlich kennen.“

„Ich weiß nicht, ob wir ...“, weiter kam ich nicht. Meine Frau kniff mir so sehr in den Handrücken, dass mir fast die Tränen kamen.

„Natürlich, wir kommen gerne“, hörte ich sie zu meinem Entsetzen sagen. Natürlich – zur Befriedigung ihrer Neugier setzte sie mal wieder unseren Ehefrieden, unser Ansehen in der Nachbarschaft, ja quasi unsere gesamte Existenz aufs Spiel. Und so kam es, dass wir schon wenig später bei den Lohmanns im Wohnzimmer saßen – Eiche rustikal, ich hatte es geahnt.

Während Frau Lohmann unsere Bewirtung übernahm und sich ansonsten dezent im Hintergrund hielt, suchte der Herr Lohmann sehr schnell das Gespräch mit meiner Frau und mir. Bald merkten wir jedoch, dass es ihm gar nicht so sehr um uns ging. Sein eigentliches Interesse bestand vielmehr darin, in aller Ausführlichkeit von sich selber zu erzählen. Dabei sprach er so langsam und umständlich, dass weder meine Frau noch ich uns später daran erinnern konnten, was er eigentlich genau gesagt hatte. Nach etwa zwei Stunden durften wir dann endlich gehen. An der Haustür nahm uns Frau Lohmann noch einmal kurz zur Seite.

„Ja, so ist er nun mal mein Mann“, sagte sie, und es schwang ein wenig Stolz in ihrer Stimme mit. „Wissen Sie, das mit dem Gesang ist seine große Freiheit, die er sich jede Woche gönnt.“

Vielsagend blickte sie uns noch einmal an bevor sie die Tür öffnete und uns freundlich verabschiedete. Meine Frau und ich gingen erst mal eine Runde um den Block – schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend. Als wir wieder zu Hause ankamen und ich die Haustür aufschloss, sagte meine Frau: „Verrückt ist das Ganze ja schon - aber ich gehe nächste Woche wieder hin!“

Ja, und das tun wir seitdem auch, meine Frau und ich. Es ist ein lieb gewonnenes Ritual, dass wir nicht mehr missen wollen; wenn wir jeden Sonnabend zuhören dürfen, wie der Herr Lohmann singt und dabei seine große Freiheit geniest.



* Der Name "Herr Lehmann", wie Herr Lohmann in meiner ursprünglichen Fassung hieß, ist durch den Roman von Sven Regener bereits belegt. Und das so eindeutig, dass ich häufiger angesprochen wurde, ob "mein" Herr Lehmann etwas mit dem anderen zu tun hätte. Da dies nicht der Fall ist, habe ich mich dazu entschieden, ihn umzubennen. In diesem Zusammenhang bin ich auch noch mal über den Text gegangen und habe ihn noch mal ein wenig überarbeitet.
Als humorige Ergänzung habe ich dann noch diesen Link anzubieten http://www.showersong.noisegames.com/ , den ich an anderer Stelle hier in der Leselupe entdeckt habe.
 

anbas

Mitglied
Lohmanns Freiheit*

Also, meine Frau meint ja, ich soll unbedingt mal über die Sache mit dem Herrn Lohmann berichten. Vorhin sagte sie gerade wieder, „Karl-Heinz“, sagte sie, „diese Sache mit dem Herrn Lohmann müsste man eigentlich aufschreiben. Mach das mal, du kannst doch so was ganz gut.“

Na ja, und da Gertrud, meine Frau, ja sowieso keine Ruhe gibt, wenn sie sich mal was in den Kopf gesetzt hat - besonders, wenn es mich betrifft - will ich der lieben Ruhe wegen von der Sache mit dem Herrn Lohmann erzählen.

Wir wohnen hier in einer recht ruhigen Gegend am Stadtrand von Hamburg. Viele von unseren Nachbarn sind Angestellte oder Beamte. Bei den meisten Gebäuden handelt es sich um dreistöckige Mehrfamilienhäuser, Klinker aus den sechziger Jahren. Wie längliche Klötze führen sie von der Strasse weg. Pro Klotz gibt es drei Eingänge. Zwischen den Häusern befinden sich großzügige Rasenflächen, ab und zu ein Spielplatz oder - seit kurzer Zeit - ein eingezäuntes Freilaufgelände für Hunde.

Der Herr Lohmann wohnt gegenüber in der Vierzehn im Erdgeschoss. Wenn man ihm auf der Straße begegnen und ihn nicht kennen würde, also dann würde man wahrscheinlich gar nicht bemerken, dass man ihm begegnet ist - so unauffällig ist der Mann. Er wirkte auf mich wie der Prototyp eines biedern, knorrigen Beamten. Mein Bruder, der Dieter, hat mal gesagt, dass der Herr Lohmann so das gewisse Garnichts hätte. Ich fand das ja im ersten Moment doch etwas hart, aber nachdem ich länger darüber nachgedacht hatte, konnte ich schon verstehen wie der Dieter das meinte. Der Herr Lohmann wirkte meistens so trocken und in gewisser Weise auch unnahbar, dass ich immer die Vorstellung hatte, seine Büropflanzen müssten sofort zu welken beginnen, wenn sie ihn nur sahen.

Doch zu all dem kann ich nur sagen: Weit gefehlt! Dieser Mann, der Wochentags immer im grauen Anzug, mit blank polierten Schuhen und mit brauner Aktentasche pünktlich um sieben Uhr fünfzehn das Haus verlässt, und der dann ebenfalls wieder pünktlich um siebzehn Uhr fünfunddreißig nach Hause kommt, der so unscheinbar ist, dass man ihn kaum bemerkt, der mit einem Zentimetermaß den Abstand seiner Blumentöpfe auf dem Fensterbrett korrigiert - dieser Mann ist ein Genie!

Als meine Frau und ich vor etwa acht Jahren hier in das Haus gezogen sind, haben wir uns schon sehr bald über die Ansammlung von Nachbarn gewundert, die jeden Samstagabend gegen neunzehn Uhr vor der Hausnummer Vierzehn stattfand. Nach etwa einer halben Stunde löste sich dann die Gruppe wieder auf, und die Leute verschwanden langsam in ihren Hauseingängen.

Irgendwann sind dann meine Frau und ich auch mal rüber gegangen – wir, bezie-hungsweise meine Frau, ist ja dann doch immer neugieriger geworden. Ich wollte ja eigentlich gar nicht hingehen, aber meine Frau hatte sich das nun mal so in den Kopf gesetzt und so ging ich halt mit. Dort angekommen haben wir uns einfach zu den anderen dazugestellt und abgewartet. Nach einiger Zeit war durch das Milchglasfenster eines der Badezimmer im Erdgeschoss deutlich das Rauschen der Toilettenspülung zu hören. Daraufhin ging ein leises Raunen durch die Menge. Einen kurzen Moment später erklang dann das Prasseln der Dusche. In diesem Moment wurde es ganz still um uns herum. Ich kann gar nicht beschreiben, wie merkwürdig meiner Frau und mir diese Situation vorkam. Merkwürdig und irgendwie ... ja, irgendwie auch blöde. Doch gerade als wir uns umdrehen und gehen wollten, hörten wir diese Stimme, die uns sofort in ihren Bann zog. - Der Herr Lohmann sang.

Der Herr Lohmann sang italienische Arien, und alle hörten andächtig zu. Denn es war nicht der Gesang eines langweiligen biederen Mannes, der da unter der Dusche ein Liedchen trällerte. Nein, dort sang ein Genie, ein Gott. Ich wagte kaum zu atmen. Den anderen Zuhörern schien es ähnlich zu ergehen. Ein unbeschreiblicher Zauber lag in diesem Augenblick. Ein Zauber, der uns alle innehalten und schweigen ließ.

Nach etwa zwanzig Minuten verstummte der Gesang. Die Dusche wurde abgestellt. Wir blieben mit den übrigen Nachbarn noch eine Weile schweigend stehen. Jeder schien das, was er gerade gehört hatte, für sich noch ein wenig nachklingen zu las-sen. Langsam kam ich wieder zurück in diese Welt - und mir wurde bewusst, dass ich gerade zwanzig Minuten lang vor einem fremden Badezimmerfenster gestanden und einem mir eher unbekannten Mann beim Duschen zugehört hatte. Peinlich! - Peinlichst berührt machte ich mich mit meiner Frau auf den Heimweg.

In der darauf folgenden Woche musste ich immer wieder daran denken, wie ich da mit meiner Frau vor dem Badezimmerfenster des Herrn Lohmann gestanden hatte. Trotz aller Faszination war mir die Erinnerung an diese Situation jedes Mal erneut höchst unangenehm. Doch am nächsten Samstag konnte ich mich trotz aller Skrupel nicht zurückhalten und ging gemeinsam mit meiner Frau wieder hinüber zum Badezimmerfenster des Herrn Lohmann.

Als wir da so standen und auf dessen Gesang warteten, tippte mir jemand vorsichtig auf die Schulter und bat mich, vorbeigelassen zu werden. Als ich mich umdrehte, traf mich fast der Schlag: Es war die Frau Lohmann ...!

Ich wusste zunächst gar nicht, wohin ich gucken sollte, so unangenehm war mir das. Ich schwor im Stillen, nie wieder dorthin zu gehen und gleich ab der nächsten Woche mit der Wohnungssuche zu beginnen, möglichst weit weg am anderen Ende der Stadt.

„Sie sind neu dabei, nicht wahr?“, fragte mich Frau Lohmann.

Ich dachte, mir rutscht der Boden unter meinen Füssen weg. Nach Worten ringend starrte ich sie an. Selbst meine Frau war so überrascht, dass sie kein Wort sagte - und das hat schon was zu sagen.

„Das werde ich gleich meinem Mann erzählen, da wird der sich aber freuen!“ sagte Frau Lohmann lächelnd - und ich suchte verzweifelt etwas zum Festhalten. Zum Glück stand meine Frau neben mir, so dass ich mich bei ihr einhaken konnte.

„Behringer, Karl-Heinz Behringer aus der Dreizehn. Gertrud Behringer, meine Frau!“ jappste es hilflos aus mir heraus.

„Schön, dass Sie hier sind“, erwiderte Frau Lohmann immer noch freundlich lächelnd. „Möchten Sie nicht nachher noch reinkommen und einen Tee mit uns trinken? Mein Mann lernt seine Zuhörer gerne persönlich kennen.“

„Ich weiß nicht, ob wir ...“, weiter kam ich nicht. Meine Frau kniff mir so sehr in den Handrücken, dass mir fast die Tränen kamen.

„Natürlich, wir kommen gerne“, hörte ich sie zu meinem Entsetzen sagen. Natürlich – zur Befriedigung ihrer Neugier setzte sie mal wieder unseren Ehefrieden, unser Ansehen in der Nachbarschaft, ja quasi unsere gesamte Existenz aufs Spiel. Und so kam es, dass wir schon wenig später bei den Lohmanns im Wohnzimmer saßen – Eiche rustikal, ich hatte es geahnt.

Während Frau Lohmann unsere Bewirtung übernahm und sich ansonsten dezent im Hintergrund hielt, suchte der Herr Lohmann sehr schnell das Gespräch mit meiner Frau und mir. Bald merkten wir jedoch, dass es ihm gar nicht so sehr um uns ging. Sein eigentliches Interesse bestand vielmehr darin, in aller Ausführlichkeit von sich selber zu erzählen. Dabei sprach er so langsam und umständlich, dass weder meine Frau noch ich uns später daran erinnern konnten, was er eigentlich genau gesagt hatte. Nach etwa zwei Stunden durften wir dann endlich gehen. An der Haustür nahm uns Frau Lohmann noch einmal kurz zur Seite.

„Ja, so ist er nun mal mein Mann“, sagte sie, und es schwang ein wenig Stolz in ihrer Stimme mit. „Wissen Sie, das mit dem Gesang ist seine große Freiheit, die er sich jede Woche gönnt.“

Vielsagend blickte sie uns noch einmal an bevor sie die Tür öffnete und uns freundlich verabschiedete. Meine Frau und ich gingen erst mal eine Runde um den Block – schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend. Als wir wieder zu Hause ankamen und ich die Haustür aufschloss, sagte meine Frau: „Verrückt ist das Ganze ja schon - aber ich gehe nächste Woche wieder hin!“

Ja, und das tun wir seitdem auch, meine Frau und ich. Es ist ein lieb gewonnenes Ritual, dass wir nicht mehr missen wollen; wenn wir jeden Sonnabend zuhören dürfen, wie der Herr Lohmann singt und dabei seine große Freiheit geniest.



* Der Name "Herr Lehmann", wie Herr Lohmann in meiner ursprünglichen Fassung hieß, ist durch den Roman von Sven Regener bereits belegt. Und das so eindeutig, dass ich häufiger angesprochen wurde, ob "mein" Herr Lehmann etwas mit dem anderen zu tun hätte. Da dies nicht der Fall ist, habe ich mich dazu entschieden, ihn umzubennen. In diesem Zusammenhang bin ich auch noch mal über den Text gegangen und habe ihn noch mal ein wenig überarbeitet.
Als humorige Ergänzung habe ich dann noch diesen Link anzubieten ( http://www.showersong.noisegames.com/ ), den ich an anderer Stelle hier in der Leselupe entdeckt habe.
 

molly

Mitglied
Hallo Andreas,
diese Geschichte von dem Musikgenie und den Lauschern hat mir sehr gut gefallen und ich habe oft laut gelacht.
Liebe Grüße
molly

Einfach umwerfend:
<Langsam kam ich wieder zurück in diese Welt - und mir wurde bewusst, dass ich gerade zwanzig Minuten lang vor einem fremden Badezimmerfenster gestanden und einem mir eher unbekannten Mann beim Duschen zugehört hatte. Peinlich!>
 

anbas

Mitglied
Hallo molly,

war das Gedankenübertragung? Vorhin habe ich gerade den Link am Ende des Textes eingebaut und jetzt holst Du das Teil nach vorne.

Auf jeden Fall freue ich mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat.

Liebe Grüße

Andreas
 

molly

Mitglied
Hallo Andreas,

der Name Lohmann passt sehr gut zu dem musikalischen Genie, ein O singt sich doch schöner als ein E.

Liebe Grüße

molly
 
Hallo anbas,

deine Geschichte ist zwar am Anfang etwas träge, aber ich finde gerade das passt gut zum spießigen Karl-Heinz. Immerhin erzählt er uns ja die Geschichte vom Herrn Lohmann. :D

Herzliche Grüße
Drachenprinzessin
 

anbas

Mitglied
Hallo Monika,

an den Nebeneffekt mit dem gesungenen "O" habe ich gar nicht gedacht - aber Du hast Recht.



Hallo Drachenprinzessin,

ja, der Anfang mag schleppend sein, aber - wie Du zurecht anmerkst - passt das zu Karl-Heinz. Und so war es auch geplant.


Danke für Eure Rückmeldungen und liebe Grüße

Andreas
 

sonah

Mitglied
Hallo Andreas,

Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen, vom Humor her und auch von der Wendung, die die Geschichte nimmt. Ist doch schön, dass vielleicht in jedem vermeintlichen Langweiler auch so ein kleines Geheimnis steckt. Ich find auch herrlich, wie geradezu nebenbei dann gleich noch die Frau von Karl-Heinz und von Herrn Lohmann charakterisiert werden.

Das Tempo hat mich nicht gestört. Karl-Heinz erzählt etwas umständlich, geradezu gemütlich. Kann mir gut vorstellen, dass sich alle um ihn scharren, während er in Ruhe seine Pfeife anzündet und reichlich Zeit zum erzählen hat, weil draußen sowieso mal wieder Schietwedder ist.

Herzliche Grüße,

Sybille
 

anbas

Mitglied
Hallo Sybille,

vielen Dank! Ich habe mich sehr über die Rückmeldung Deiner Eindrücke gefreut!
Ich find auch herrlich, wie geradezu nebenbei dann gleich noch die Frau von Karl-Heinz und von Herrn Lohmann charakterisiert werden.
Dieser Aspekt war mir gar nicht so klar - aber jetzt, wo Du es erwähnst ... Danke auch dafür!

Liebe Grüße

Andreas
 



 
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