Die künstliche Jungfrau

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Raniero

Textablader
Die künstliche Jungfrau

Dr. Alfred Zeppenkamp, den Leiter der chirurgischen Privatklinik, befiel ein gewisses Unbehagen; vor ihm in seinem exklusiven Büro saß auf dem Besucherstuhl ein junger Mann, Mitte zwanzig, von dem der gute Doktor nicht so genau wusste, was er von diesem halten sollte.
Der Mann hatte sich einen Termin geben lassen, bei der Sekretärin des Arztes, in einer Angelegenheit, die zu dieser Zeit von einem Großteil der Bevölkerung als delikat angesehen wurde und auch eigentlich eher die holde Weiblichkeit statt die Vertreter des starken Geschlechts betraf.
Die Klinik von Dr. Zeppenkamp hatte sich, wie viele andere im Lande, seit kurzem auf eine recht außergewöhnliche Art von chirurgischen Eingriffen spezialisiert, die zu einem regelrechten Trend ausgeartet waren; der Wiederherstellung der Jungfräulichkeit bei Frauen, die diesen Status nicht mehr besaßen.
Dieser Trend hatte wie so vieles in der modernen Welt seine Wurzeln; in Übersee, genau gesagt, in der Vereinigten Staaten, wo sonst auch, und er war mittlerweile begleitet von großen Werbekampagnen über den großen Teich übergeschwappt, nach Europa, wo er auch in good old Germany seine Anhänger(innen) gefunden hatte.
Irgendwo in der Nähe von Hollywood, wo sonst, hatten zum ersten Mal verschiedene Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts öffentlich und unisono den Wunsch geäußert, nach Jahren der Entjungferung wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt zu werden, und schon war die neue Idee geboren.
Sehr bald schon fand sich ein Team von Spezialisten bereit, eine derartige Operation zu wagen und mittels Transplantation der richtigen Haut an die richtige Stelle diesen Urzustand weiblicher Unschuld künstlich wieder herzustellen.
Interessierte Kandidatinnen waren schnell gefunden, und so entwickelte sich diese merkwürdige Methode dermaßen schnell zu einem richtigen neumodischen Trend, dass selbst die Chirurgen staunten.
Die weibliche Klientel für diese außergewöhnliche Maßnahme setzte sich sehr vielschichtig zusammen und machte, da diese Operationen bald an der Tagesordnung waren und immer preiswerter wurden, kaum vor einer sozialen Schranke halt.
Auf diese Weise wurden die Kliniken bald von Frauen unterschiedlichster Herkunft und Bildung von der ungelernten Arbeiterin bis zur Universitätsprofessorin heimgesucht.
In der Mehrzahl aber waren es, wie erste statistische Untersuchungen ergaben, Ehefrauen und Mütter, die den Zenit der weiblichen Reife bereits überschritten hatten und auf die Wechseljahre zustrebten; namhafte Psycho- und Soziologen sahen hierfür die Ursache in der Tatsache, dass es für diese Frauen eine ganz besondere, prickelnde Abwechselung in der Alltagsehe bedeutete, sich in das Gefühl von ehemals zu versetzen, in eine Zeit, in der sie von ihren ersten Partnern regelrecht erobert wurden, im Bett.
In der Regel erschienen die Patientinnen jedoch allein, ohne männliche Begleitung, zu diesen Terminen, denn wenn auch eine große Anzahl von männlichen Partnern ebenso Gefallen an dieser Neuerung hatte und sich auf das rundum erneuerte Gefühl beim Sex freute, besaßen doch die wenigsten von ihnen den Mut dazu, dieses in der Öffentlichkeit zu zeigen und ihre Partnerinnen zu diesem Besuch zu begleiten.
Umso erstaunter zeigte sich nun Dr. Alfred Zeppenkamp darüber, dass in einer solchen Angelegenheit ein Mann um einen Termin bei ihm gebeten hatte und nun allein, ohne weibliche Begleitung, vor ihm saß.
‚Was hat das zu bedeuten?’ fragte er sich. ‚Warum kommt der solo zu mir und nicht mit seiner Partnerin? Warum sitzt überhaupt ein so junger Mann vor mir, dessen Lebenspartnerin doch jetzt noch längst keine solche Operation braucht, um nostalgische Gefühle hervorzurufen? Oder ist er gar nicht in eigener Sache hier, im Interesse seines eigenen Sexuallebens?’
Nervös fingerte Dr. Zeppenkamp an seiner Krawatte herum.
„Was kann ich für Sie tun, junger Mann?“ begann er schließlich. „Ich muss gestehen, ich bin ein wenig erstaunt, Sie hier bei mir zu sehen, will damit sagen, Sie allein hier zu sehen, ohne die Dame, um die es hier eigentlich gehen müsste, bei diesem Eingriff. Kommen Sie in eigener Angelegenheit ähm das heißt in einer, die Sie direkt oder indirekt betrifft?“
Es stellte sich heraus, dass der junge Mann nicht in einer ihn selbst betreffenden Angelegenheit vorsprach, sondern stellvertretend für eine dritte Person.
‚Auch das noch!’ dachte Dr. Zeppenkamp, sichtlich verwirrt.
„Sie sind nicht hergekommen, weil es Sie beziehungsweise Ihre Partnerin betrifft, sondern eine andere Dame? Eine Dame, mit der Sie nicht Ihr Sexualleben teilen, dessen Lebensglück Sie nicht unmittelbar berührt?“
„Oh, doch, Herr Doktor, das Lebensglück dieser Dame liegt mir schon am Herzen, so ist es nicht?“
Der Arzt verstand die Welt nicht mehr.
„Ihr Glück liegt Ihnen also doch am Herzen? Entschuldigen Sie meine Direktheit, aber, um was für eine Dame handelt es sich denn? Schlafen Sie mit ihr oder nicht? Ich muss das jetzt wissen?“
„Aber wo denken Sie denn hin, Herr Doktor“, empörte sich der Besucher, „ich schlafe doch nicht mit ihr!“
„Ja, verdammt noch mal“ ,geriet nun seinerseits der gute Arzt in Wallung, „weshalb sind Sie denn dann hier? Was wollen Sie von mir? Wissen Sie eigentlich, wo Sie hier sind, und was wir hier tun?“
„Das weiß ich sehr wohl, lieber Herr Doktor, Ihre Werbung in eigener Sache ist ja nicht zu übersehen“, ließ sich der so Gefragte nicht aus der Ruhe bringen, „und deswegen bin ich ja auch gekommen. Ich handle im Auftrag“.
„Was?“ fiel dem Chirurgen der Unterkiefer herunter, „Sie handeln im Auftrag? In wessen Auftrag denn, um Himmelswillen?“
„Im Auftrag meiner Verwandtschaft. Es handelt sich um ein Geburtstagsgeschenk, müssen Sie wissen“.
Nun verschlug es Dr. Zeppenfeld fast die Sprache.
„Ein Geburtstagsgeschenk, eine solche Operation; eine Wiederherstellung der Virginität, als Geburtstagsgeschenk? Das darf doch wohl nicht wahr sein!“
„Beruhigen Sie sich doch, Herr Doktor, ich werde es Ihnen erklären“.
„Ich bitte darum!“
„Ja, Herr Doktor Zeppenkamp, die Sache verhält sich folgendermaßen. Wir, das heißt meine Geschwister und ich, hatten vor kurzem Ihre Werbung in der Tageszeitung gesehen, und da kam uns die Idee, einer Verwandten von uns
diese Operation zu schenken, in Form eines Gutscheines, um ihr damit eine Freude zu bereiten“.
„Wie bitte“, unterbrach der Arzt den jungen Mann, „gehe ich recht in der Annahme, dass Sie eine Verwandte überraschen und ihr diese Operation schenken wollen, zum Geburtstag? Ist Ihnen klar, wie makaber das klingt? Man verschenkt doch nicht so einfach mir nichts dir nichts eine Operation per Gutschein, und dann ausgerechnet noch so einen delikaten Eingriff. Und wenn die Gute mit dieser Überraschung gar nicht einverstanden ist, haben Sie da schon einmal drüber nachgedacht?“
„Sie wird damit nicht nur einverstanden sein, sie wird sich riesig darüber freuen, das wissen wir schon“.
„Woher wollen Sie das denn so genau wissen, Sie haben Sie doch noch nicht gefragt“.
„Da sind wir ziemlich sicher, weil sie sich bereits dahingehend geäußert hat, nicht im Detail zwar, aber in diese Richtung“.
„Wie soll ich das verstehen, dahingehend geäußert? Und überhaupt, was ist das denn für eine Frau, ich meine, in welchem Verwandtschaftsverhältnis stehen Sie zu dieser merkwürdigen Dame?“
„Das ist keine merkwürdige Dame, es ist unsere Großmutter, müssen Sie wissen. Eigentlich ist sie sogar unsere Urgroßmutter, aber in der Familie nennen wir sie nur grandma, doch das tut ja nichts zur Sache. Sie hat tatsächlich schon mehrere Andeutungen gemacht, selbst in letzter Zeit noch“.
„Ihre Urgroßmutter!“ schrie der Chirurg und sprang von seinem Stuhl auf, „Ja, wie alt ist sie denn, diese Dame, und was sagt ihr Mann, Ihr Herr Urgroßvater, dazu?“
„Sie ist dreiundneunzig, und ihr Mann, unser Urgroßvater, sagt gar nichts dazu, denn er weilt schon seit einigen Jahren nicht mehr unter den Lebenden“.
„Er weilt nicht mehr unter den Lebenden“, flüsterte der Arzt, dessen Gesichtsfarbe eine merkwürdige Blässe angenommen hatte, „ja, wozu, zum Teufel, braucht dann diese Frau eine solche Operation? Hat sie etwa einen Liebhaber?“
„Das nicht, Herr Doktor, nein, im Gegenteil. Sie hat stattdessen mehr als einmal geäußert, dass sie liebend gerne, wenn einmal ihre Stunde geschlagen hätte, ihrem Mann im Jenseits im selben Zustand gegenüberträte, in dem er sie seinerzeit kennen gelernt hat, um anschließend noch einmal die Freuden von damals erneut zu erleben“.
„Erneut zu erleben?“ brüllte der Arzt, der jede Fassung verloren hatte, „ja, wie will sie das denn anstellen, die gute Frau? Soweit ich informiert bin, gibt es da drüben keinen Sex!“
„Sind Sie da ganz sicher?“ konterte der Urenkel.


Einen Augenblick sah es so aus, als wollte sich der Arzt auf den Besucher stürzen, um ihn erwürgen.
Dann aber nahm er wieder Platz und legte sein Gesicht in nachdenkliche Falten.
‚Ganz von der Hand zu weisen ist es ja schließlich nicht; ob es nicht doch …’ war er sich plötzlich nicht mehr ganz sicher, und so gab er schließlich seinen Segen zu dem Eingriff.
 
M

Minotaurus

Gast
Die Geldgier und das Gewinnstreben haben also zu guter Letzt doch noch über alle ethischen und moralischen Bedenken gesiegt. ;)
Sehr gut beschrieben!
 

Raniero

Textablader
Hallo Minotaurus,

eigentlich waren es nicht Geldgier und Gewinnstreben, die den guten Doc dazu veranlasst haben, der OP zuzustimmen, sondern die eventuelle Aussicht auf Sex im Jenseits.

Gruß Raniero
 



 
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