Die mutige Carmen

2,50 Stern(e) 2 Bewertungen

othello

Mitglied
Die mutige Carmen

Das Leben erschien ihr an diesem nebeligen Novembermorgen wieder mal als unerträglich.
Für sie stand fest – heute wird sie dem ein Ende bereiten.
Aber das WIE bereitete ihr noch Kopfzerbrechen.
Gründlich sollte es sein – schnell - und mit keinem allzu großen Schmerz verbunden.
Von Depressionen war Carmen Lutz ja schon immer geplagt, aber bislang fehlte ihr der letzte Tropfen Mut, den so sehr gewünschten Tod herbeizuführen.
Sie kochte sich einen Becher Pfefferminztee und begann zu überlegen.
Aus dem Fenster fallen?
Brachte nichts – sie wohnte im Parterre!
Tabletten?
Wer weiß, wenn man sie zu früh fand, konnte sie leicht gerettet werden. Eventuell behielt sie bleibende Hirnschäden.
Pulsadern aufschneiden?
Nein, Carmen konnte kein Blut sehen, sie wurde stets ohnmächtig. Vielleicht lag sie dann bewusstlos da, mit nur einem kleinen Schnitt und tröpfelte so vor sich hin.
Außerdem war sie eine perfekte Hausfrau. Die Vorstellung, wie das glänzende Bad danach aussehen könnte, war für sie eine Horrorvision.
Von der Brücke springen?
Da musste sie erst 45 Minuten mit dem Bus fahren um zur geeigneten Stelle zu kommen. Es gab die Möglichkeit, sich während der Fahrt anders zu entscheiden. Also auch nicht.
Vor den Zug werfen?
Gleich hinter dem Haus lagen die Gleise des Regionalzuges.
Warum nicht? Es ging schnell – der Schmerz würde kaum bemerkbar sein, und ein Überleben gab es mit Sicherheit nicht. Das ist es, dachte sie, trank den Tee aus und saugte für alle Fälle nochmals die Wohnung durch. Natürlich wusch sie auch den Becher ab – denn schließlich sollte man ihr nichts nachsagen können.
Es war 10.45 Uhr, als Carmen gut gekleidet die Wohnung verließ. Sie legte sich mit dem Hals auf das Gleis
und der restliche Körper war ungemütlich auf dem leicht gefrorenen Schotter gebettet. Ihre Augen waren durch die Rückenlage gegen den Himmel gerichtet, der an diesem Tag ein besonderes Blau anzubieten hatte. Glücklich über den Mut, die so lang ersehnte Tat nun endlich zu vollbringen, schloss sie ihre Lider und wartete auf die Erlösung in Form des Interregios, der täglich, exakt um 10.58 Uhr, diese Stelle kreuzte.
Nichts geschah.
Sie sah auf ihre Armbanduhr, der Zug sollte schon längst über sie hinweggerollt sein.
Carmen wurde zunehmend kälter aber sie blieb beharrlich liegen.
Ihr freudloses Leben lief noch einmal wie ein Film vor ihren Augen ab. Immer der gleiche Job, immer der gleiche Mann, immer der gleiche Wohlstand. Vielleicht wären andere Leute in ihrer Situation glücklich gewesen – sie war es nicht.
Stets musste sie schweigend zuhören, wenn ihre Freundinnen
von den spannenden Seitensprüngen berichteten und den nachfolgenden Scheidungen.
Am meisten jedoch, hasste sie deren Stöhnen über Geldnot.
Hätten sie sich keine Kinder angeschafft, so wie Carmen, dann müssten die Damen auch nicht ständig klagen.
Sie empfand das Verhalten einfach rücksichtslos, denn nur ein stiller Teilnehmer in dieser Frauengruppe zu sein, war nicht ihr Bestreben. Natürlich hatte sie sich schon des Öfteren die Frage gestellt, ob dies der richtige Kreis wäre, in dem sie verkehrte. Aber diese Tratschweiber, wie Carmen sie heimlich und hämisch nannte, gehörten nun mal zur besseren Gesellschaft. So wie sie selbst und in diesen Zeiten musste man schon sehr aufpassen, mit wem man es zu tun hatte.
Das Hartz-Gesindel lauerte in jedem Stadtteil.
Mein Gott, wo blieb denn der Zug.
Nach einer Stunde stand sie mühsam auf.
Die unterkühlten Glieder schmerzten bei jeder Bewegung und sie schleppte sich resigniert nachhause.
Bevor sie ihre Wohnungstür öffnete, leerte sie ihren Briefkasten. Keine Rechnung, keine Mahnung – nur das Tagesblatt und ein Brief, an sie adressiert, von einer ihr unbekannten Rosa Krug. Auf der ersten Seite der Zeitung war zu lesen, dass die eben aufgesuchte Bahnstrecke bis auf weiteres, wegen Bauarbeiten gesperrt wurde. Tränen rollten über ihre Wangen, so enttäuscht war sie.
Zitternd vor Kälte nahm Carmen den Brief aus dem Umschlag.
„Liebe Frau Lutz“, stand da, „ich bin seit nunmehr 3 Jahren die heimliche Geliebte ihres Mannes und erwarte ein Kind von ihm. Ich bitte Sie innigst ihn frei zu geben, damit wir unser Glück mit einer Heirat besiegeln können.“
Fassungslos las sie diese 4 Zeilen wieder und wieder.
Endlich konnte sie mitreden. Sie, die stille Carmen konnte den Freundinnen erzählen, wie ihr Mann finanziell auf den Abgrund zusteuerte. Ja, sie würde einen hohen Unterhalt fordern und nichts würde er aus der Wohnung bekommen, außer seiner Kleidung. Alle Münder dieser Frauengruppe würden vor Erstaunen offen stehen, sie wäre an diesem Nachmittag der Star, die wichtigste Person in der Runde.
Sie ging ins Schlafzimmer und packte seine Koffer.
Gleich heute wird sie ihn hinauswerfen, ohne Aussprache, ohne Möglichkeit einer Entschuldigung. Nun hatte auch ihr Leben Spannung erhalten und die Sperrung der Bahnstrecke war wohl ein Schicksalswink.
„Ach Rosa, liebste Rosa“, trällerte sie und tanzte mit dem Brief ums Bett. Der weiße Flokati rutschte auf dem polierten Parkett und Carmen fiel so unglücklich, dass sie mit dem Hinterkopf auf den Bettpfosten prallte.
Sie war sofort tot.
Rosa zog zwei Monate später in die wundervoll eingerichtete Eigentumswohnung und gebar dem Witwer einen gesunden Sohn.
Die Freundinnen fanden beim wöchentlichen Treffen, den leeren Stuhl von Carmen zwar bedauerlich aber nicht wirklich erwähnenswert.
 



 
Oben Unten