Die rote Blume (4)

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Die rote Blume


von Rolf-Peter Wille


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[Teil 4]


Eine Wanderung


Er erwachte in der Frühe des nächsten Morgens. Noch in der Dämmerung bemerkte W., daß es ein ungünstiger Tag zum Wandern war. Ein feuchter Monsunregen hing in der stickigen Luft und verwischte die Konturen der Hochhäuser. Trotzdem zog er sich recht sportlich an. Die neue Verkleidung schien auch den Rhythmus seines Benehmens zu entkrampfen, und seine Bewegungen erschienen ihm sportlich lakonisch. Er fühlte sich weniger gelähmt durch das feindliche Chaos der Stadt, und der Brei von Menschen, Motorrädern und Schmeißfliegen erschien nur noch als ein sportliches Hindernis, welches es zu überwinden galt — das Vorgebirge einer Wanderung.
[ 8] Sie hatten sich in der Endstation der Subway verabredet. W., der zu früh aufgestanden war, wollte die Zeit nützen, vor dem Erscheinen seiner Schülerinnen ein Frühstück einzunehmen; doch hatte sich bereits eine größere Gruppe der Studentinnen seines Seminars am Ausgang der Endstation versammelt. Sie kicherten als sie den Ausländer in kurzer Hose und Schirmmütze sahen. Sicher war er heute besonders niedlich. Maria war nicht da, aber Pa-Yueh versicherte, das sie jeden Moment eintreffen sollte.
[ 8] Sie erschien allerdings mit ziemlicher Verspätung und durch den Ausgang der Station. Etwas Andersartiges schien von ihrem Wesen auszugehen. W. erkannte ihre Anmut als eine eigentümliche Verbindung von körperlicher Zerbrechlichkeit und überlegener Willensstärke. Ihre Bewegungen wirkten weder verniedlicht noch hastig. ‘Die unheilbare Krankheit hat ihrem Verhalten eine Würde verliehen.’ dachte W. Aber Marias Freundinnen bemerkten nichts von dieser Würde. Vielleicht war sie schon immer so anders, und nur das Wissen um ihre Krankheit hatte das Bewußtsein des Ausländers aufnahmefähig gemacht.
[ 8] Es mochte jedoch unglaubwürdig sein, daß Maria in ihrem gesundheitlichen Zustand eine größere Wanderung durchhalten würde, und so schlug W. vor, mit zwei Taxis direkt auf den Gipfel zu fahren, um von dort gemächlich herabzusteigen. Dieser Vorschlag wurde mit großer Erleichterung angenommen. Die Studentinnen zwängten sich kichernd in die Taxis und saßen eng gepreßt aneinander. W. hatte den Vordersitz für sich und hätte daher einige Bequemlichkeit genießen können, wenn er nicht den grantigen Fahrer neben sich gehabt hätte.
[ 8] Dieser war nicht sehr begeistert von der Idee, eine Meute kichernder Studentinnen auf einen Berg fahren zu müssen, doch bereits auf halbem Wege hatte sich die Landschaft derart gewandelt, daß die Mädchen ihr Kichern einstellten und sogar der Fahrer seine Grantigkeit vergaß. Sie waren zunächst durch einen dichten Nebel gefahren. Der Fahrer fluchte unflätig, da er trotz Nebelscheinwerfern die Straße nicht erkennen konnte. Dann hatten sie plötzlich die Wolkendecke durchstoßen. Mächtige Berggipfel erschienen vor ihnen und in weiter Ferne über den Wolken schwebend. Der Himmel war sauber, die Wolkendecke unter ihnen wirkte wie frisch gewaschen, und niemand erinnerte sich noch daran, daß diese sanfte Daunendecke auf dem trüben Gewühl einer häßlich feuchten Stadt lag.
[ 8] Ein eisklarer Wind pfiff über den Gipfel und durch die Kleidung der Menschen. Wie ein gigantischer Kamm strich er durch die wogenden Gräser und Bambusbüsche. Die Pyramiden vor ihnen waren sicher vulkanischen Ursprungs. Silbernes Licht wurde von den Gräsern reflektiert, deren Wellen wie züngelnde Flämmchen um die Berggipfel leckten, und zwischen diesen lodernden Berginseln zerflossen die Wolkenströme mit phantastischer Geschwindigkeit.
[ 8] Nun war auch das hintere Taxi mit Maria auf dem Vordersitz angelangt. Wortlos verharrten alle für einige Minuten.
[ 8] Dann begannen sie schweigend den Abstieg.

Der Wind hatte sich weitgehend gelegt, als sie eine sonnige Hochebene erreichten. Ein leicht schwefliger Geruch lag in der Luft und mochte ein weiteres Zeugnis für den vulkanischen Ursprung des Gebirges sein. Die Gruppe der Wanderer hatte sich in kleine Trupps geteilt, und W. und Maria bildeten die Vorhut.
[ 8] Die scharfen Schatten von Blättern und Gräsern zuckten vor ihren Füßen. Oft huschten blaugeschwänzte Echsen über ihren Weg. Auf einem glühenden Felsstein sonnte sich eine große salamanderförmige Eidechse.
[ 8] Plötzlich durchzuckte Marias Körper in blitzartiger Ruckhaftigkeit. Ihr Fuß zielte nach dem Tier, welches unmittelbar enthuschte.
[ 8] "Fräulein Ma!" sagte der Ausländer. "Hoffentlich werde ich in meinem nächsten Leben kein Salamander sein." Maria erstarrte für einen Moment. Wortlos kniff sie W. in den Rücken, daß es schmerzte. Er musterte seine Schülerin, die nun wieder ihre vornehme Zerbrechlichkeit zurückgewonnen hatte und ihn mit fragenden Augen anblickte.
[ 8] Da sie eine Weggabelung erreicht hatten, warteten sie auf den Rest der Gruppe. W. wollte den längeren Kletterpfad nehmen, der nach oben führte. Maria widersprach und schickte sich an, den kürzeren Weg nach unten zu verfolgen. Sie spielten schnell mit den Händen ‘Stein-Schere-Papier’, W. gewann, und die Studentinnen des Seminars folgten ihm auf dem Kletterpfad, der in einen verzauberten Regenwald mit uralten majestätischen Kamphorbäumen führte. Nach einer Weile ging es wieder bergab. Der Boden unter ihren Füßen wurde zunehmend feuchter, und die Wanderer mußten sich auf ihre Schritte konzentrieren, um nicht von den schlüpfrig bemoosten Steinen abzurutschen. Sie hatten nun die Region der Wolken erreicht, und die phantastischen Verästelungen gestorbener Urwaldriesen streckten ihre klagenden Gespensterklauen in den feuchten Nebel.

Plötzlich standen sie auf einer großen, mit schilfartigem Gras bewachsenen Wiese, die sehr ebenmäßig rund schien und auf allen Seiten von Urwald bewachsenen Bergen umwallt war. Es mochte wohl der Boden eines bewachsenen Kratersees sein. Ein leicht schwefliger Geruch lag über dieser Kraterwiese. Der Nebel veränderte sich mit großer Unruhe. Bald riß er auf, ließ Stücke des blauen Himmels und der umliegenden Bergmauern erkennen, dann verschleierte er wieder gespenstisch die Szene. Genau in der Mitte der Wiese stand ein mannshoher schwarzer Stein. ‘Ein Meteor.’ dachte W.; aber man konnte noch das verblichene Rot eines buddhistischen Hakenkreuzes erkennen, und die verkohlte Erde, die Reste der Räucherstäbchen und des Totengeldes zeigten, daß dieser Stein ein religiöses Kultobjekt war.
[ 8] W.’s Schülerinnen lagerten sich in einem großen Kreis um diesen Stein. W. stellte sich vor den Stein. Er murmelte beschwörende Zauberformeln und spreizte die Arme von sich. Im Nebel erinnerte er an einen gestorbenen Urwaldriesen. Die Schülerinnen kicherten und ermunterten W. zu immer dramatischeren Gebärden, während sie ihn begeistert photographierten.
[ 8] Maria beteiligte sich nicht an diesem Spektakel. Sie saß abseits von den anderen, außerhalb des Kreises und wirkte sehr müde. W. beendete seine Vorstellung unter großem Applaus und setzte sich neben Maria. Die Studentinnen verteilten Kekse und Schokolade. W. hatte eine Flasche XO Cognac dabei, aber außer ihm trank nur Maria davon.
[ 8] "Darfst Du trinken?" fragte er. Maria zuckte mit den Achseln und blickte fragend auf W.
[ 8] Der Nebel hatte sich nun so verdichtet, daß die Berge verschwunden waren. Der buddhistische Stein und der Kreis der Andächtigen schwebte in einer milchigen Unendlichkeit. Hinter dem hohen schilfartigen Gras verbarg sich das weißgetünchte Beton eines Klohäuschens im Nebel.
[ 8] Dieses Klohäuschen hatte nun den buddhistischen Meteor als Kultobjekt neuer Zeremonien verdrängt. Die Mädchen gingen pärchenweise durch das Gras. "Wer kommt mit mir?" fragte eine Studentin. "Ich komme." rief eine andere, und dieses Ritual wiederholte sich vier- oder fünfmal.
[ 8] Den Ausländer befremdete dieses exotische Ritual. ‘Dies sind alles Pinkelfreundschaften.’ dachte er.
[ 8] "Wer kommt mit mir?" fragte er zum Scherz und erhob sich. Die Studentinnen kicherten. Maria erhob sich wortlos und begleitete den Ausländer durch das Gras.
[ 8] "Warte hier!" sagte er vor dem Männereingang des Klohäuschens, denn er befürchtete, daß Maria ihn vielleicht auch noch beim Pinkeln beglitte. Eigentlich mußte er gar nicht pinkeln. Da er jedoch einmal in dieser stinkenden Latrine war, näherte er sich dem Plumpsklo. Im Halbdunkel erkannte er eine formlose Masse im Porzellanbecken, und es ekelte ihn. Plötzlich durchzuckte es diese Masse. W. glaubte eine Krebsschere zu erkennen. Ein größeres Tier war ruckartig untergetaucht. W. starrte reglos in das leere Klobecken und wartete darauf, daß das Ungeheuer wieder auftauchen würde. ‘Wahrscheinlich ist es eine große Kröte." dachte er.
[ 8] "Gibt es Probleme?" fragte Maria von draußen. W. erwachte aus seiner Erstarrung und verließ das Klohäuschen. "Gibt es Krebse oder Kröten im Klo?" fragte er. Maria schien angewidert von Kröten. Durch das schilfartige Gras konnten sie die Gruppe der Studentinnen undeutlich im Nebel sehen. Wahrscheinlich gafften sie zum Klohäuschen. Man konnte ihr Kichern hören.
[ 8] "Warum sind sie so albern?" fragte der Ausländer.
[ 8] "Stört es Dich?" fragte Maria. "Komm’. Kümmere Dich nicht um sie." sagte sie und zog W. am Arm.
[ 8] "Sollen wir sie einfach so verlassen?" fragte W. und folgte Maria zögernd.
[ 8] "Hast Du Angst?" fragte sie. Ungesehen von den anderen entfernten sich die beiden von der Kraterwiese und nahmen einen anderen Kletterweg, der hinanführte.
[ 8] ‘Diese Maria ist völlig verrückt.’ dachte der Ausländer. "Bist Du ein Ausländer?" fragte er. Maria nahm ihn an der Hand und blickte ihn fragend an.


weiter: (Teil 5)
 



 
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