Die silberne Etagere

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Brise

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Die silberne Etagere

Mit zaghaften Schritten betritt Carola ihr Wohnzimmer. Da ist sie! Auf der Fensterbank steht die silberne Etagere. Vier Schälchen übereinander, nach oben immer kleiner werdend, ringen sich um einen silbernen Stander, der oben einen kleinen Griff hat, damit die Etagere hochgenommen werden kann ohne dass Fingerabdrücke auf den Silberschälchen zurück bleiben. Die Etagere ist sicher sechzig Zentimeter hoch, wirkt aber sehr filigran, verspielt, sehr klassisch.. Seit die kleine Familie vor kurzem in das alte, geschichtsträchtige Haus mit den hohen Räumen eingezogen ist, steht die Etagere an dem Südfenster, im Blick über den Weinhang und Schloßgarten.

Auf der Etagere liegen keine kleinen, feinen Schokoladen, keine Pralinen, keine Bonbons. Die Etagere ist bestückt mit Steinen, Muscheln, getrockneten Blüten. In der oberen Schale befindet sich nichts.

Seit über zwanzig Jahren besitzt Carola diese Etagere. Bekommen hat sie sie nach dem Tod ihrer Großmutter, versprochen wurde sie ihr schon davor, von der Großmutter selbst. Mit ihren Steinen, Muscheln und getrockneten Blüten. Carolas Großmutter hat die Etagere als einziges Familienerbstück auf der Flucht aus Königsberg im Februar 1945 zerlegt mit nach Norddeutschland gebracht. Sie hat sie gehütet, versteckt, beschützt - mit sehr viel Phantasie. Ein paar Jahre war sie sogar vergraben in einem moorigen Waldstück, weil sie verborgen werden musste vor neugierigen Blicken, vor Menschen, die meinten, die Flüchtlinge sollten froh sein, ein Dach über dem Kopf zu haben, Schmuck, Bestecke, Bilder bräuchten sie nicht zu besitzen. Aus Erzählungen in der Familie weiß Carola, dass es sicher viele Momente gab, in denen die Großmutter stark sein musste, gegen den Drang ankämpfen musste, die Etagere gegen eine Kartoffelmahlzeit einzutauschen, oder gegen eine Lage Stoff, um daraus Kleidung für ihre Kinder nähen zu können. Sie hat es geschafft. Sie hat die Etagere Jahre später mitgenommen in ihre neue Wohnung in Hamburg, hat sie dort auf einen Paradeplatz gestellt, damit ein Stück Heimat geschaffen. Auf verschiedenen Fotografien aus den 60er Jahren ist die Etagere im Hintergrund zu sehen. Immer blinkend, immer poliert.

Über viele Jahre bestückte die Großmutter die Etagere. Fast so, wie sie heute bestückt ist. Ihr Leben lang liebte sie Steine und von all ihren Reisen, die sie gemeinsam mit Carolas Großvater unternahm, als es der Familie langsam besser ging, brachte sie einen Stein mit. Einen. Sie war sehr sorgfältig bei der Suche, schaute genau hin, nahm bewußt an einem Tag ihres Urlaubs Zeit, diesen Stein für die Etagere zu suchen. Von jedem der in der untersten Ebene der Etagere liegenden Steine wußte sie die Herkunft und den Tag an dem sie ihn gefunden hatte. Genau so war es mit den Muscheln. Es sind nicht viele, zwölf Stück. Elf Muscheln hat sie gesammelt in all den späten Jahren, in denen sie im Sommer mit ihrem Mann nach Sylt gereist ist. Die zwölfte Muschel ist aus Schweden. Gefunden während eines Landgangs, den sie im Verlauf einer Nordmeerkreuzfahrt unternahmen. Auf der dritten Ebene liegen getrocknete Blüten, mehrere Rosen, Lavendel, eine Lampionblüte, eine getrocknete Kaktusblüte und andere. Die Blüten stammen alle entweder aus dem Garten von Carolas Großvaters oder aus zahlreichen Blumentöpfen ihrer Großmutter, die die Wohnung zierten. Sie hat auch hier sehr genau geschaut, sehr geflissentlich getrocknet und dann ganz genau gewußt, aus welchem Jahr welche Blüte ist.

Auf der oberen Ebene lagen solange die Großmutter lebte Pralinen. Carolas Großmutter aß jeden Nachmittag eine Praline. Sonst keine Süßigkeiten. Nur diese eine Praline täglich. Sonntags wurde die Etagere erst gesäubert, alle Steine, Muscheln und Blüten sorgfältig entstaubt, die Schälchen ausgerieben, poliert, dann wieder bestückt und dann kamen sieben handverlesene Pralinen in das oberste Schälchen. Der Großvater aß keine Schokolade, so wurden die Pralinen einzig für die Großmutter ausgesucht und sonntags dort oben, über all den Erinnerungsstücken, ausgelegt. Es waren herrliche Kreationen, dunkle und helle Schokolade umfassten immer andere Kerne aus zartschmelzendem Trüffel, knackigem Krokant, weichem Marzipan oder zuckriger Creme. Die Pralinen wurden samstags in der Confiserie gekauft. Jede Woche war es ein ehrfürchtiges Ritual und Carola ist sich sicher, in den späten Jahren wurden die alten Herrschaften in dem Geschäft samstags gegen 11h bereits erwartet. Als Kind hat Carola gestaunt über so viel Korrektheit, hat sie ehrfürchtig die Etagere betrachtet und sich immer wieder - die Nase über dem schokoladigen Duft - erklären lassen, woher die Steine oder Muscheln stammten und wann und zu welchem Anlass diese oder jene Blüte geschnitten worden war.

Heute steht die Etagere auf Carolas Fensterbrett. Ihre Großmutter ist schon lange tot. Bis zuletzt hat sie jeden Tag eine Praline gegessen. Auch, als sie sonst wegen ihrer Erkrankung fast nichts mehr essen konnte. Dieses Ritual hat sie aufrecht gehalten, hat sie geführt über ihr letztes Weihnachtsfest und auch über den anschließenden Jahresbeginn. Tapfer war sie. Gefasst hat sie Carolas Mutter damals zugesehen, wenn diese die Etagere für die neue Woche herrichtete. Selbst war sie zu schwach dafür. Von Woche zu Woche wußte die Familie nicht, ob sie noch alle Pralinen würde essen können. Sie starb schließlich an einem Samstag.

Heute ist Samstag und heute hat Carola ein Tütchen mit sieben handgefertigten Pralinen gekauft.
 

Eve

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Hallo Brise,

erstmal herzlich Willkommen auf der Lupe :) eine sehr gefühlvolle Geschichte hast du da geschrieben, wie eine "leichte Brise" weht sie daher ... sehr stimmungsvoll mit all den Erinnerungen ...

Viele Grüße,
Eve
 



 
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