Die verschwundene Hochzeitsgesellschaft am Untersberg

Die verschwundene Hochzeitsgesellschaft am Untersberg

15. August 1500
Es war an einem herrlichen Sommermorgen im Jahre 1500, als Michel morgens, als er die Augen aufschlug, daran dachte, was für ein besonderer Tag heute war. Es war der 15. August und sein Hochzeitstag. Wie bald würde Barbara die Seine sein! Er lächelte vor sich hin, als er an ihre langen dunklen Haare, ihre schönen braunen Augen und ihren wippenden Busen dachte. „Noch nie hat sich ein Mann so auf die Hochzeitsnacht gefreut wie ich“, dachte er. Michel zählte bereits 32 Jahre, was eher ungewöhnlich war. Er hatte sich mit seiner Hochzeit lange Zeit gelassen, bis er seiner Meinung nach die Richtige gefunden hatte. Seine Braut war 16 Jahre alt und ihm schien, das sei das angemessene Alter für eine Braut. Sie würde noch lange jung und hübsch bleiben und ihm viel Freude machen.

Zwei Stunden später war er für seine Hochzeit fertig angekleidet. Er machte sich auf den Weg zum Hause seiner zukünftigen Schwiegereltern, um die Braut abzuholen und sich mit ihr und ihrer Familie auf den Weg zur Kirche zu machen. Seine Eltern hatte er nie gekannt; er war bei einem Onkel aufgewachsen, der vor ein paar Jahren gestorben war. Er wusste nicht mal, ob Onkel Ulrich sein wirklicher Onkel gewesen war, aber er hatte ihn sehr gemocht. Er hatte ihn aufgezogen wie seinen eigenen Sohn und es hatte ihm nie an etwas gefehlt. Ein leiser Anflug von Trauer überkam ihn, als er daran dachte, dass Onkel Ulrich nun die Trauung nicht mehr erleben könnte – aber vielleicht sah er ja vom Himmel aus zu. So tröstete sich Michel mit dem Gedanken, dass sein Onkel sicherlich bei der Hochzeitsgesellschaft im Stillen anwesend sein würde.

Schon von weitem sah er seinen zukünftigen Schwiegervater Endres, der ihm entgegen eilte. Als er bei ihm war, schüttelte er ihm herzlich die Hand. „Mein lieber Michel! Wie freue ich mich, dich nun in unsere Familie aufzunehmen! Wie sagt man doch: Ich verliere keine Tochter, sondern gewinne einen Sohn hinzu!“ Aber nach dieser überschwänglichen Begrüßung sah Endres sich vorsichtig um und senkte dann die Stimme, um ihm eine offenbar unangenehme Neuigkeit mitzuteilen: „Leider müssen wir beim Weg zur Kirche über den Untersberg. Es hat einen Erdrutsch auf der anderen Seite des Berges gegeben, wo man ohne Gefahr hätte gehen können und dort ist der Weg nun durch Geröll versperrt. Es ist unmöglich, sich dort hindurch zu kämpfen.“
„Nun, dann nehmen wir eben den Weg über den Untersberg“, antwortete Michel. Er wusste, dass sich um den Untersberg Sagen rankten und die Rede von einem sogenannten „Zeitloch“ war, das angeblich Menschen verschluckte. Michel glaubte nicht daran. „Mach dir keine Sorgen“, versuchte er seinen zukünftigen Schwiegervater zu beruhigen, „das sind nur Märchen und Legenden, was man da sich da vom Untersberg erzählt. Du wirst sehen, wir werden sicher ankommen und es wird ein tolles Hochzeitsfest werden.“
„Ich hoffe es sehr, mein lieber Michel“, antwortete Endres, wirkte aber immer noch ein wenig bekümmert.
„Möchtest du nicht meine Braut holen?“ fragte Michel, teils um Endres abzulenken, vor allen Dingen aber, weil er es kaum noch erwarten konnte, Barbara im Hochzeitskleid zu sehen.

„Natürlich, natürlich!“ Endres eilte ins Haus, und kurze Zeit später trat er mit einer strahlenden Barbara, die ein wunderschönes langes Hochzeitskleid in feierlichem Weiß trug, aus dem Eingang. Sie lächelte Michel zu, es war nicht zu übersehen, wie sehr sie ihm zugetan war. Michel trat auf sie zu und reichte ihr feierlich seine Hand. „Bald wirst du die Meine sein“, ,flüsterte er ihr leise zu, und Barbara sah ihn an mit einem Verlangen, das seinem, so schien es ihm, in nichts nachzustehen schien.

Sie trug einen riesengroßen Strauß Blumen, den sie mit ihrer Mutter zusammen am vorherigen Tag gepflückt hatte. Stunde um Stunde hatten sie damit verbracht, die schönsten Blumen zu finden, und es hatte sich gelohnt. Nicht nur für Barbara, auch für die beiden Brautjungfern Margret und Agnes hatten sie Sträuße gewunden. Nun kamen nach und nach alle aus dem Haus – die Brautjungfern, Barbaras Mutter und Geschwister, und die eingeladenen Verwandten und Freunde des Hochzeitspaares, bis alle Hochzeitsgäste vollzählig vor dem Haus versammelt waren.

Als es soweit war, klatschte Endres in die Hände und rief: „Meine lieben Gäste! Nun werden wir uns auf den Weg zur Kirche machen, um dort Braut und Bräutigam zu vermählen!“ Und er schritt voran, mit seiner Tochter am Arm, gefolgt vom Bräutigam, der Endres' Frau führte, und den Gästen. Als sie ein Stück des Weges gegangen waren, fingen die Gäste an zu tuscheln, erst leise, dann wurden einige unwillige Stimmen immer lauter, und schließlich sprach es jemand aus: „Wo führst du uns hin, Endres? Dieser Weg zeigt in Richtung Untersberg! Jeder weiß, was uns dort erwarten könnte! Lass uns umkehren!“ Es war Peter, der gesprochen hatte, ein Vetter von Barbara. Endres antwortete mit denselben Worten, die er schon zu Michel gesprochen hatte: „Auf der anderen Seite des Berges hat es einen Erdrutsch gegeben. Es ist unmöglich, sich dort hindurch zu kämpfen. Wir müssen über den Untersberg!“ Aber entgegen seinen eigenen Befürchtungen, die ihn trotz Michels Worten nicht losgelassen hatten, fügte er nun hinzu: „Seid guten Mutes! Gott wird uns schützen, wenn wir auf dem Weg zur Kirche sind, um ein Brautpaar zu vermählen.“
Peter sah nicht überzeugt aus, und auch die anderen Hochzeitsgäste waren stehengeblieben und schauten eher zweifelnd ob dieser Mitteilung.
Doch Michel riss das Wort an sich. „Liebe Freunde!“ rief er laut. „Wir werden uns nicht vor albernen Märchen und Sagen fürchten! Ich möchte meine Braut heute zum Altar führen, und ich wäre auch bereit, mein Leben für sie zu opfern! Aber das wird nicht nötig sein – uns wird nichts passieren! Ich verspreche es euch! Aber wer dennoch Angst hat, darf umkehren!“

„Ich habe keine Angst!“ wehrte Peter nun ab, „ich will nur niemand einer Gefahr aussetzen! Aber so sei es nun, wie du sagst. Ich werde mit euch gehen.“ Das wirkte. Niemand wollte sich nun der Schmach aussetzen, vor Angst nicht mitgegangen zu sein, und so setzte sich die Hochzeitsgesellschaft wieder in Bewegung. Der Weg war lang und obwohl es auf dieser Seite keinen Erdrutsch gegeben hatte, dennoch beschwerlich; einmal stolperte Barbara beinahe über einen großen Stein, und ihr Vater hielt sie im letzten Moment mit seinen starken Armen fest, sodass sie sich wieder fing und nichts weiter passierte. Hatte die Hochzeitsgesellschaft vorher trotz des Wagnisses, über den Untersberg zu gehen, teilweise noch gescherzt und gelacht, so wurden nun die Mienen doch finsterer; manch einer sah dies als schlechtes Vorzeichen.

Michel indes dachte nur daran, wie bald er seine Barbara in der Hochzeitsnacht in den Armen halten würde, und das war ihm jedes Wagnis wert, auch glaubte er nicht wirklich an den ganzen Spuk, wie er es bei sich nannte, den man sich über den Untersberg erzählte. Die Leute hatten manchmal einfach nichts zu tun und erfanden Geschichten. Das konnte man ihnen nicht übelnehmen; man sollte ihnen aber auch nicht alles glauben. Um die Gesellschaft aufzuheitern, rief er munter: „Ich habe auch gehört, dass am Untersberg Geister Wanderer reich beschenken. Wenn das so ist, dann mögen sie gerne kommen!“ Er hielt seine Hände an den Mund, formte einen Trichter mit ihnen und rief, so laut es ging: „Kommt her, ihr Geister! Wir lassen uns gerne beschenken!“ Dies entlockte nun doch dem einen oder anderen Hochzeitsgast ein Schmunzeln und trug zur Beruhigung aller bei. Einmütig gingen sie nun weiter und niemand machte nun noch ein mürrisches Gesicht.

Doch dann sah Michel auf einmal eine Gestalt in der Ferne. Etwas an der Gestalt kam ihm bekannt vor, und als sie näher kam, dachte er: „Nein! Das kann nicht sein. Es kann nicht Onkel Erich sein.“ Er wollte es selbst nicht glauben, aber die Gestalt sah seinem Onkel aus der Ferne zum Verwechseln ähnlich. Sobald sie näher kam, verflüchtigte sich dieses Bild jedoch und als der Mann endlich vor ihnen stand, war jegliche Ähnlichkeit mit Onkel Erich verschwunden. Der Mann war klein und von der Scheitel bis zur Sohle grau gekleidet. Grau war sein Hut, den er zur Begrüßung lupfte sowie sein gut geschnittener Anzug und seine Schuhe. Michel betrachtete ihn zunächst verwundert, aber ehe er etwas sagen konnte, kam der kleine Mann in Grau ihm zuvor: „Seid gegrüßt, liebe Hochzeitsgäste! Auf dem Weg zu eurem Fest möchte ich euch einladen, an meiner Tafel Speis und Trank zu euch zu nehmen. Der Pfarrer ist aufgehalten worden und kann erst zwei Stunden später kommen. Er bittet euch, mein Angebot anzunehmen, damit euch die Wartezeit nicht so lang wird. Folgt mir einfach, ich führe euch hin.“

Michels Verwunderung hielt an; er ließ sich jedoch nichts anmerken und dankte dem kleinen, ganz in Grau gekleideten Mann für die Einladung. Dann wandte er sich an die Hochzeitsgesellschaft und sprach: „Es tut mir leid, dass der Pfarrer aufgehalten worden ist. Wir werden nun aber die Einladung, die uns überbracht worden ist, gerne annehmen.“ Manche Hochzeitsgäste schauten etwas misstrauisch oder zumindest überrascht, den meisten aber war es ganz recht, vor der langen Hochzeitszeremonie schon etwas zu essen und zu trinken zu bekommen, und so folgten alle ohne Widerworte dem kleinen grauen Mann nach.

18. August 1500
Pfarrer Marcus ließ müde die Zeitung sinken, die er sorgfältig studiert hatte. Es war ein lauer Sommerabend, und eigentlich ein wunderschöner Tag, um Gott dafür zu danken, am Leben zu sein und ein Heim und genug zu essen und zu trinken haben. Aber ihm machte der Artikel, den er gerade gelesen hatte, großes Kopfzerbrechen. Er war mit der reißerischen Überschrift „Verschlingt der Untersberg Menschen?“ versehen und handelte von einer angeblich im Untersberg verschwundenen Hochzeitsgesellschaft, die man zuletzt gesehen haben wollte, als sie auf dem Weg über den Untersberg zur Kirche waren. Pfarrer Marcus wusste nicht, ob er dieser Geschichte Glauben schenken sollte. Aber merkwürdig war es ja schon.
Als er vor ein paar Tagen zu einer Trauungszeremonie aufbrechen wollte, kam ein Bote mit einer Nachricht zur Pfarrei, die besagte, dass die Trauung erst einen Monat später stattfinden sollte, da die Braut gestolpert sei und sich verletzt hätte, sodass sie ihren Fuß ruhigstellen müsse und nicht den beschwerlichen Weg zur Kirche auf sich nehmen könne. Dieser Bescheid würde allen Hochzeitsgästen per Bote zugestellt werden.
Marcus hatte den Boten nicht gekannt; aber er hatte keinen Grund gesehen, an der Nachricht zu zweifeln. Nun war er sich nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte. Ob die Gesellschaft nun wirklich von einem Berg „verschluckt“ worden war, wusste wohl niemand. Aber niemand hatte auch Braut, Bräutigam, Brauteltern und die eingeladenen Gäste seither wieder gesehen. Darüber ließ sich der Autor des Artikels jedenfalls in vollem Umfang und – man könnte fast denken, genüßlich – aus.

Pfarrer Marcus beschloss, die Hochzeitsgesellschaft in seine Gebete einzuschließen und am nächsten Sonntag eine Messe für sie zu halten.


16. August 2000
Aus einem Artikel im Wochenblatt

Gestern erschien ein offensichtlich verwirrter Mann in der hiesigen Pfarrei. Er behauptete, einen Hochzeitstermin zu haben, konnte aber weder eine Braut noch einen Termin vorweisen und hatte ebenso keine Papiere bei sich. Der Pfarrer, dem der Mann etwas „suspekt" vorkam, alarmierte die hiesige Polizeiwache, die den Mann vorübergehend in Gewahrsam nahm. Er gab an, mit Vornamen Michel zu heißen und 32 Jahre alt zu sein, was sich nicht überprüfen ließ. Schließlich wurde er mit der Empfehlung, sich ärztlichen Rat einzuholen, wieder freigelassen.

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Anmerkung der Autorin
Ich habe zufällig einen Artikel über „Das Zeitloch im Untersberg" gefunden, in dem auch die verschwundene Hochzeitsgesellschaft erwähnt wurde. Es reizte mich, eine Geschichte darüber zu schreiben.
 



 
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