Die vielen Leben einer Katze

Anonym

Gast
Das Leben lässt sich nur im Verhältnis zur Zeit beurteilen.
Wenn die Zeit verschwindet, verschwindet auch das Urteil.


Die vielen Leben einer Katze - Zwiegespräche

Es ist kalt.
Heute morgen schließt sie die Augen noch einmal.
Genießt einen letzten Augenblick die Wärme ihres Bettes und steht auf.
Alles war wie sonst. Der Raum, das Licht, die Möbel, sogar ihre Tochter lag mit dem gleichen friedlichen Gesichtsausdruck in ihre Bett und hatte das Läuten des Weckers wie üblich überhört.

Heute aber war alles anders. Etwas Grundlegendes. Etwas, das nur einem einzigen Wesen zugänglich war –
ihr selbst.
Ihr Selbst.

Sie war wieder da. Sie war sich ihrer selbst wieder bewusst. Die Sonnenstrahlen fielen direkt in ihre Augen. Der lange Schlaf war vorüber. Alle Albträume lagen hinter ihr und erhoben keinen Anspruch mehr auf Beachtung. Sie hatte die Achtung gänzlich genüsslich für sich allein. Ein Lächeln zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. Ein schönes zartes Lächeln.

Sie sieht die von der Sonne überstrahlten Regenwolken und das helle Blau, das ab und zu vorblitzt. Die Schatten malen Muster auf die Wiese und die Blätter der Herbstbäume, die stolz die letzten Reste ihrer Kleider tragen. Die Ästen werden zu Linien und Strichen, aus denen sie in ihrem Inneren ein Bild entstehen lässt.

Ihre Gedanken öffnen sich vor ihr wie eine Schatzkiste. Ihre Sinne ziehen sie zu allem, was lebt. Sie entdeckt ihre Lust, alles aufzunehmen, was ihre Sinne zu erfassen in der Lage sind und noch mehr. Alles macht Sinn. Rechtfertigungen und die ewige Frage nach Schuld sind nur noch Schatten vergangener Tage. Viele Tage – ihr Leben. Ihr Weg, ihre Entscheidungen, ihre Erkenntnisse, Erfahrungen, Irrtümer, Irrungen und Wirrungen. Jahre, in denen sie gelebt, geliebt, gesucht hat. Verzweiflungen, Risse im Inneren, Entbehrungen, Verständnislosigkeit.

All das hat sie wie einen Schleier von ihrem Gesicht gehoben, um die Dinge zu betrachten, wie sie wirklich sind. Sie weiß, dass sie jetzt den klarsten Blick besitzt. Sie hat die Gabe zu sehen. Bisher hatte sie nur das leidenschaftliche und zärtliche Sehen. Jetzt aber sieht sie wirklich. Zum ersten Mal betrachtet sie sich selbst - ohne Furcht, ohne Bedauern, ohne zu übertreiben.

Sie sieht seit heute, wer sie ist.
 



 
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