Die wunderlichen Abenteuer

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BenAlibi

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Die wunderlichen Abenteuer

Es ist ein Moment von Samstagabend. Germaine, die Hauptperson dieser kleinen Geschichte, sitzt wiedereinmal gelangweilt in ihrer Bude vor dem Spiegel. "Und wiedereinmal." sagt sie zu ihrem Gegenüber und sieht, wie diesem eine Träne die Wange entlang kullert. Sollte jetzt der Eindruck entstanden sein, dass Germaine eine Träne vergossen hat, weil sie jeden Samstagabend alleine ist, so ist dies falsch. Germaine sitzt jeden Abend alleine zu Hause. So gut wie. Germaine hat keine Freunde, zumindest keine echten Freunde. Natürlich kennt sie jede Menge Leute. Schule, Arbeit, Familie. Klar, da kommen schon einige Namen zusammen, aber zu keinem hat Germaine mehr Kontakt, obwohl man sich früher doch prima verstanden und den ganzen Tag lang zusammengehangen hat. Früher. Germaine betrachtet ihr Spiegelbild und denkt, denkt an früher. Sie ist vierundzwanzig Jahre alt. Früher. Das ist doch alles noch nicht so lange her. Obwohl, manchmal kommt es ihr vor als ob sie das, was sie früher erlebt hat, nie selbst erlebt hat. Sieht es aus einer Zuschauerposition. Ja, wie eine Zuschauerin, die die vorbeiziehende Parade beobachtet. Geht etwas schief, so ist sie nicht dafür verantwortlich. Früher. Da sprühte Germaine nur so vor Lebensfreude. Hatte viele Freunde, war überall gerne gesehen, dauernd verliebt und sowieso das klassische Beispiel eines frühreifen Teenagers. Heute sieht sie zwar die Bilder von damals noch vor sich, hat aber keinerlei emotionalen Bezug mehr dazu. Ja, so als hätte sie es nie erlebt. Merkwürdiger Moment. "Was soll's." denkt Germaine. Natürlich gefällt ihr der Zustand nicht. Doch nach außen hin lässt Germaine es sich nicht anmerken, dass sie tieftraurig ist. Für traurige Menschen ist in der Gesellschaft kein Platz. Obwohl, wenn es die Gesellschaft nicht gäbe, wäre Germaine auch nicht traurig. Sie erinnert sich an früher, oder besser gesagt an das „nochnichtsolangeher“ früher. Sie war siebzehn als sich in ihrem Leben alles änderte. Als sie sich mit Betrachteraugen sah und sich absolut lächerlich fand. Alles was sie tat, sagte, ihr Verhalten überhaupt und insbesondere anderen Menschen gegenüber. Es war oftmals sicher verletzend, denkt Germaine, und seit dem Tag an dem sich alles in ihrem Leben änderte, einem Freitag im November 1988, schämte sich Germaine vor anderen Leuten. Sie stellte sich vor, dass wenn sie ein Zimmer betritt alle Leute darin denken würden, dass sie sie ist. Ja, sie, die sich über andere lustig gemacht hat und selbst doch nicht perfekt ist und sie, die immer oberflächlich ist und nie ernst sein kann, nur ihr Vergnügen im Kopf hat. Und Germaine begann sich zu Verinnerlichen. Damals war’s ihr gar nicht so bewusst, doch heute... Sie weiss noch wie sie immer weniger mit ihren Freunden unternahm (heute würde sie diese nicht mal mehr als Freunde bezeichnen), immer weniger sagte, ihre Gedanken vor allem nicht mehr aussprach und fand, dass dies der richtige Weg sei. Um ehrlich zu sein, findet sie das in manchen Punkten auch heute noch und wahrscheinlich hat sie recht. Ihr Charakter ist, so könnte man sagen, nahezu perfekt. Er wurde es spätestens im Jahr 1993, denn seitdem hat Germaine sich vorgenommen nicht mehr zu lügen. Und sie hat es bis heute durchgehalten. Auch nicht mehr die kleinste Lüge. Das hat Germaine zwar ein paar gute Chancen gekostet, vor allem beruflich und privat, aber sie fühlt sich gut dabei. Sie ist einfach ehrlich, und das kann doch nicht verkehrt sein, oder? Bestimmt nicht. Und trotzdem ist sie nicht so glücklich, wie sie es eigentlich sein könnte, denkt sie. Vielleicht liegt es daran, denkt sie, dass sie immer alles früher hatte und erlebte als andere in ihrem Alter. Das erste mal richtig verliebt mit dreizehn, als andere das Wort verliebt nur aus irgendwelchen Teeniezeitschriften kannten. Als sie so darüber nachdenkt fällt ihr auf, dass sie immer die jüngste war, in der Schulklasse, in der Ausbildung, bei ihren Jobs, in der Familie, immer war sie die jüngste. Vielleicht hängt es ja damit zusammen, dass sie wenn sie sich heute verliebt (das kommt selten vor, aber es passierte ihr erst vor kurzem) es immer ältere sind. Aber vielleicht ist das ja auch nur Zufall. Germaine verliert für kurze Zeit den Blickkontakt mit ihrem Spiegelbild. Aber das liegt nur daran, weil sich gerade eine Träne den Weg aus ihrem Auge bahnt. Tränen. Germaine hat in letzter Zeit viele vergossen. Man sagt, sie sei melancholisch. Doch das stört sie nicht. Eigentlich schon. Nicht, dass sie melancholisch ist, sondern dass Leute sich das Recht nehmen über sie ein Urteil zu fällen und ihren Charakter beschreiben wollen, obwohl niemand sie wirklich kennt. Niemand sie wirklich kennt, was Gefühle und Träume angeht. In ihren Träumen war Germaine nämlich schon überall, in der Zukunft und in der Vergangenheit. Das hat sie von ihm. 11.November 1988, ein Freitag. Sie kam mehr durch Zufall dahin. Er erzählte ihr von Träumen, sang Lieder von Melancholie, wischte ihre Oberflächlichkeit mit eine Geste davon und mit unbeschreiblicher Mimik, Poesie, Romantik und vor allem Ehrlichkeit zog er Germaine auf seine Seite. Noch heute ist sie da. Er musste sie nicht groß überreden, damals. Es war schon in ihr. Nur hat es niemand abgerufen. Weder Schule, Familie, Freunde - keiner. Er machte den Anfang. Ob er weiß, was er da angerichtet hat? Dreimal traf sie ihn seitdem noch mal. Sie verehrt ihn nicht und er ist auch nicht ihr Vorbild, dass besondere an ihm ist, dass er so ist wie sie, nur dass er es schon war und sie es wurde. Ja, so fing es damals an. Melancholisch, sagen sie. Weil sie verträumte Musik hört, Gedichte liest und zu der Musik vertonter Gedichte stundenlang träumen kann? Sie fühlt sich doch wohl dabei, also kann es nicht verkehrt sein. Oder? Na ja, denkt Germaine. Sie löst sich von früher. Wenigstens für den Moment. Es ist jetzt schon eine halbe Stunde später als vorher. "Wiedereinmal." sagt Germaine. Sie ist zwar erst vierundzwanzig aber irgendwie wird sie das Gefühl nicht los, dass ihr die zeit fortläuft. Sie hatte sich ihr Leben mit vierundzwanzig jedenfalls ganz anders vorgestellt. Nicht unbedingt eine eigene Familie, aber jemand zum Anlehnen, ausweinen, kuscheln, Dasein für sie, ausgehen, lieben, sich freuen, aber das scheint so weit weg. Nicht erreichbar für sie. Wenn sie mal weggeht, privat und meist alleine, dann wird sie oft wehmütig, wenn sie die anderen Pärchen so sieht und manchmal versteht sie es nicht, dass sie alleine ist, wenn sie sieht wie sorglos andere damit umgehen. Sollte Liebe wirklich was mit Sensibilität, Zärtlichkeit, Ehrlichkeit und so zu tun haben, dürfte sie auch nicht alleine sein. Merkwürdiger Moment. Germaine denkt an ihr letztes verliebt sein. Fünf Jahre älter als sie. Sie kannten sich schon ein paar Monate als aus ihrer Sympathie Schwärmerei und Verliebtheit wurde. Doch wie so oft in ihrem Leben wurden ihre Gefühle nicht nur nicht erwidert sondern auch lächerlich gemacht. Sie heulte tagelang und wenn sie wie jetzt daran denkt, kann sie Tränen auch nur schwer zurückhalten. "Aber wir leben noch." sagt sie zu ihrem Gegenüber und meint eigentlich, dass dies nur auf die biologischen Abläufe in ihrem Körper zutrifft. Da fällt ihr ein Traum von neulich ein. In dem Traum hat ihr jemand erklärt wie das funktioniert und wieso das mit dem Leben so ist wie es ist. Die, die für die Erde zuständig sind würden nur Situationen testen, bestimmte Zeiträume. Und am Ende dieser Zeitabschnitte sterben dann alle und der Zeitraum wird entweder wiederholt mit den meisten Leuten die bereits zuvor teilgenommen haben, nur dass nicht jeder mit denselben Personen zu tun hat oder am selben Ort wieder auftaucht oder es wird eine komplett neue Situation erprobt. Ziemlich verwirrend. Auch für Germaine. Sie hatte Kopfschmerzen als sie aus diesem Traum erwachte. Das erste Mal in ihrem Leben. Im Traum erzählte man ihr auch, dass sich eigentlich niemand daran erinnern sollte. Haben die wohl einen Fehler gemacht. Ob die Kopfschmerzen etwas damit zu tun haben? Sie erinnert
sich daran, dass sie in diesem Traum, kurz bevor ihr Leben endete, also die Situation beendet wurde, alle Bescheid wussten und sie mit einem Messer eine Kerbe in einen Stuhl ritzte und sie sagte, dass man, wenn man die Kerbe sehen würde sich doch in einer Wiederholung der Situation daran erinnern müsste. Man sagte ihr auch, dass Möbel und ähnliches von ihnen nicht getauscht oder kontrolliert würden. Germaine zögerte lange jenen Stuhl nach der Kerbe zu untersuchen. Als sie es schließlich doch tat, mit einer ernstzunehmenden Gänsehaut, fand sie sie wirklich. Genau an der Stelle, an der sie sie auch im Traum eingeritzt hat. Merkwürdiger Moment. Aber so sehr sie das auch beeindruckt hat, es hat keinen Einfluss auf ihr Leben. Naja. War auch nur so ein Gedanke, denkt Germaine. Germaine bewundert ihr Spiegelbild, denn es sieht gut aus. Wenn Germaine das Spiegelbild ihres Spiegelbildes betrachtet, also so wie die Leute sie sehen, sieht sie nicht so gut aus. Germaine würde gerne so aussehen wie ihr Spiegelbild. Germaine hat in letzter Zeit viel Geld ausgegeben. Für Kleidung die sie kaum trägt weil sie so an ihren alten Sachen hängt, für Tücher, Hüte und andere Dinge, die sie eigentlich nicht wirklich braucht, aber die ihr einfach gefallen. Im Gegensatz zu vielen anderen kennt Germaine keine Geldprobleme. Hatte sie nie. Ihr Gehalt könnte man mehr als symbolisch bezeichnen, aber sie hat noch jede Menge Reserven von früher. Hat sie alles selbst verdient und erspart. Aber Geld macht nicht glücklich, sagt man. Was Germaine angeht, ist das Hundertprozent bewiesen. Ihre große Leidenschaft sind, seitdem sie ihn damals traf, Konzerte und Theater. Aber sie muss meistens alleine hin, weil es anderen zu teuer ist und will sie mal jemand einladen, fühlen sich die Leute verpflichtet oder glauben, dass sie irgendwas von ihnen wollte und sagen lieber ab. Geld ist, laut Germaine, die schlechteste Erfindung der Menschheit. Germaines Blicke gleiten zum Fenster. Es ist ein sternklarer Abend, in der Zwischenzeit könnte man fast Nacht sagen. In so einer Nacht sieht man besonders gut, dass man nur ein Detail einer großen Wirklichkeit ist, denkt Germaine. Solche Ausblicke würde sie gerne festhalten. Es ist so friedlich, so einfach, so ruhig. Wenn sie da an morgen denkt. Da muss sie wieder zur Arbeit. Muss, denkt Germaine. Als sie den Job anfing hat sie sich darum gerissen, dort arbeiten zu können. Obwohl arbeiten das falsche Wort ist. Germaine behauptet, wenn man zu einem Job Arbeit sagt, ist es auch schon vorbei damit und wenn man keinen Spaß bei dem hat was man macht, sollte man es lassen. Warum sie es nicht lässt? Bequemlichkeit. Germaine hasst Erklärungen und Rechtfertigungen. Zu oft ist sie in ihrem Leben damit konfrontiert. Und die Bequemlichkeit hängt ja auch irgendwie mit der Melancholie zusammen, denkt Germaine. Germaine hatte sich erhofft, mit ihrem Beruf etwas bewegen zu können, so wie er es damals mit ihr tat, etwas wachzurütteln, aber man hatte sie sehr eingeschränkt und jetzt wo sie ein paar mehr Freiheiten genießt ist sie zu matt, hat bereits resigniert. Schade, denkt Germaine. Sie stand schon oft kurz davor aufzuhören, aber was soll sie dann machen? Sie hat viele Träume aber so etwas wie einen Traumberuf hatte Germaine nie. Als Kind nicht und als Erwachsene erst recht nicht. Singen tut sie gerne, aber nur wenn sie alleine ist, zu Hause, bei Autofahrten. Und Saxophon spielen würde sie gerne, als Kind hat sie sowas nicht interessiert und heute mit vierundzwanzig, nein, sie hat sich zwar schon mal erkundigt was Unterricht angeht, aber die richtige Motivation fehlt ihr. Es ist wohl die Melancholie, die sie hindert. "Wiedereinmal." sagt Germaine zu ihrem Spiegelbild. Dafür hat sie vor kurzem angefangen zu schreiben, alles was ihr so im Kopf rumgeht. Stapelweise Papier hat sie vollgeschrieben. Und vor kurzem auch fast alles weggeworfen. Sie musste aufräumen. Der Liebeskummer. Heute bereut sie es etwas, waren ein paar tolle Sachen dabei, aber in dem Moment tat es ihr einfach gut. Merkwürdiger Moment. Letztes Jahr hat sie sich auch einen Computer zugelegt um einigen ihrer handschriftlichen Werke einen professionellen Touch zu geben und einige hat sie ihm geschickt. Außer ihm weiß eigentlich niemand, dass sie schreibt, bis auf einen neuen Freund. Schreiben ist mit das intimste, denkt Germaine. Und es jemanden zum lesen zu geben ist ein hoher Vertrauensbeweis, da ist sich Germaine sicher. Germaines neuer Freund ist ihr erster richtiger Freund, so wie es das Wort sagt. Sie hat ihm Dinge anvertraut über die sie noch mit niemandem geredet hat und Wünsche und Sehnsüchte mit ihm geteilt, die sie vor anderen, auch ihrer Familie, nicht mal im Traum erzählt hätte. Die Gesellschaft behauptet zwar, dass ein Mann und eine Frau keine Freunde sein könnten, aber Germaine weiss das es funktioniert. Warum auch nicht. Wenn ein Mann und eine Frau Freunde sind, sind ein Mensch und ein Mensch Freunde, eine Person und eine Person, ein Charakter und ein Charakter, sowie wenn ein Mann und ein Mann oder eine Frau und eine Frau Freunde sind auch ein Mensch und ein Mensch Freunde sind. Es funktioniert bestimmt, hofft Germaine. Denn ihr ist sehr an dieser Freundschaft gelegen. Germaine hat fast ihr gesamtes Leben versucht alles alleine zu regeln, allen Schmerz alleine bewältigt, alle Freude alleine erlebt, aber sie ist müde geworden. Sie ist zwar erst vierundzwanzig aber sie kann es nicht mehr alleine. Ihre Seele und ihr Herz schreien nach Hilfe. Und sie geniert sich auch nicht Hilfe anzunehmen und jemand um Hilfe zu bitten, nicht mehr. Inzwischen ist es bereits tiefste Nacht. Während anderenorts bereits die ersten vergnügt von ihren Wochenendverabredungen verabschiedet werden, sitzt Germaine mit ihrem Gegenüber immer noch alleine in ihrer Bude. Sie legt eine CD von Cindi Nassi auf und stellt fest, dass ihre CD-Sammlung fast ausschließlich aus melancholischer Musik besteht. Wahrscheinlich weil sie den CD-Spieler erst gekauft hat, als sie ihn bereits kannte. Wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie ihn nie getroffen hätte? Ob sie jetzt vielleicht auch gerade von daher zurückkommen würde, wie all die anderen? Und während sie so nachdenkt und soulige Musik den Raum erfüllt, schläft sie ein und träumt. "Wiedereinmal." würde ihr Spiegelbild sagen, wenn es nicht auch schlafen würde. Wiedereinmal.
 

Rainer

Mitglied
hallo benalibi,

ein feinziseliertes bild, stimmig (so weit ich es beurteilen kann) und sympathisch erzählt. allerdings scheint es mir mehr ein fragment zu sein, irgendwie fehlt etwas.

gruß

rainer
 
D

Dominik Klama

Gast
Eine junge Frau, Mitte zwanzig, sitzt alleine zu Hause vor dem Spiegel und wühlt sich sinnierend in ihre gegenwärtige Existenz, so wie sie sie versteht, und in ihre Vergangenheit hinein. In ihrem Leben hat es vor einigen Jahren eine große innere Wandlung gegeben, welche inzwischen dazu geführt hat, dass sie eine Einzelgängerin geworden ist, ein Sonderling. Ein Nicht-dazu-Gehören, das sie einerseits als schmerzlich zu erfahren scheint, auf das sie allerdings auch stolz ist. Der Umkehrimpuls im Leben eines, wie sie sagt, frühreifen, etwas oberflächlichen Teenagers kam mit einem Mann. Über ihn und die Art ihrer Beziehung wird fast nichts mitgeteilt. Obwohl der gesamte Text eine Dialog-mit-dem-eigenen-Ego-Struktur hat, an äußerer Handlung nichts geschieht, erfährt der Leser am Ende immerhin noch, dass es in ihrem Leben inzwischen einen neuen Mann gibt, den Freund, was wohl als platonischer Seelengefährte, nicht als Sexualpartner verstanden werden soll. Jedoch auch hier: Kaum erwähnt, verschwindet diese Figur wieder aus dem Bereich des Textes, dessen Heldin über ihrem Selbstgespräch einschläft. Wieder einmal, wie die letzten Wort lauten.

Am Anfang des Textes war ich sehr gespannt. Das hätte mich interessiert und mir bestimmt gefallen, wenn einigermaßen plausibel gemacht worden wäre, wie es sich anfühlt und lebt, ein junges Mädchen zu sein, das ganz anders ist als alle anderen. Gerade deshalb, weil ich als älterer Mann das nun mal nicht bin und nie war. Der Text hätte mich in eine fremde Existenz transponieren können, das wäre seine große Leistung gewesen.

Doch ich sehe das hier nicht gelingen. Ich finde, der Text funktioniert nicht – und er kann auch gar nicht funktionieren auf die Art, wie er vorgeht. Das liegt daran, dass alles so fürchterlich allgemein bleibt, abstrakt, dass ständig behauptet und nicht bewiesen wird. Es liegt auch daran, dass der Kopf einer einzigen Person möglichst nicht verlassen werden soll. Was wider die Natur einer Geschichte in Prosa ist.

Bei Texten haben wir es mit einem Spiel zu tun, das zwischen einem Produzenten und dem Adressaten, dem Leser gespielt wird. Schon dies bedingt, dass agiert werden muss – und zwar zwischen mehr oder weniger Fremden. In einem Prosatext, in einer Story haben wir es dann mit Figuren, also Dritten zu tun, die zwischen Ego 1 (Autor) und Ego 2 (Leser) aufmarschieren und spielen. Hierbei tun sie im Allgemeinen so, als befänden sie sich in einer Welt, wo sie von diesen Leuten, die da von oben herabsehen auf sie, Autor und Leser, keine Kenntnis hätten. Deshalb ist es geschickt, wird in den allermeisten Fällen getan und so auch erwartet, dass auf dem Spielfeld der Story nicht nur eine Figur steht, sondern mehrere. Denn eine Figur hat nur wenige Möglichkeiten mit sich allein zu spielen.

Ausgeschlossen ist es zwar nicht, aber der monologische, der sinnierende, tief fühlende, aber kaum handelnde Zug, wie ihn diese „Erzählung“ haben will, ist in der Lyrik oder im Tagebuch wesentlich besser aufgehoben als in der Prosaerzählung oder im Schauspiel. Das heißt: Man kann das machen, was die Autorin will, aber man macht es sich damit extrem schwer, man erzeugt Erwartungen nach höchster Artistik, denen man als Anfänger nie wird entsprechen können.

Da aber nun ja ich, der Leser, eine Person bin, mit der er oder sie, die andere Person, der Autor spielt durch diesen Text, darf ich als Minimum doch wohl erwarten, dass ein Autor, welcher mir in seiner Geschichte nur eine einzige Figur zeigt, zumindest dafür Sorge trägt, dass ich für diese Figur, die ja fremd ist, die ja nicht ich ist, mich solange interessiere, wie der Text „läuft“. Denn gezwungen, irgendwas zu Ende zu lesen, bin ich, der Leser, nicht.

Klar ist, wenn ein junger Autor einen Text erfindet, in dem nur eine Figur wirklich wichtig ist, dann ist nicht ausgeschlossen, dass diese Spielfigur mit der Realperson des Autors mehrere Gemeinsamkeiten aufweist. Wäre das so, dann wäre klar, dass der Autor nicht unter dem Leistungsdruck steht, seine Spielfigur interessant zu machen für sich, den Autorn. Denn soweit er die Figur selbst ist, interessiert sie ihn auch, ob er will oder nicht. (Zeigen, wie es wäre, wenn jemand sich für sich selbst mehr oder weniger nicht interessiert, wäre eine interessante Schreibaufgabe, fällt mir ein.) Da aber ich, der Leser, weder der Autor bin noch dessen Figur, noch irgendetwas mit diesen Leuten notwendigerweise gemeinsam haben muss, kann eintreten, dass ein Autor sich und eine seiner Figuren, die ihn irgendwie spiegelt, höchst bedeutsam findet, während ich, der fremde Leser, es langweiligen Käse finde, der mit mir nicht das Allergeringste zu tun hat. Dann steige ich aus. Und das darf nicht passieren. Sonst ist der Text tot ab diesem Punkt. Als Autor müsste man also dem Leser irgendeine Art von Zucker verabreichen, der ihn daran hindert, sich vom Feld zu machen. Und diesen Zucker finde ich hier nicht.

Nämlich eben, weil alles nur behauptet und nicht wirklich gezeigt wird. Wenn mir eine Figur sagt: „Ich bin ganz anders als die normalen Mädchen in meinem Alter“, dann will ich das sehen, ich will was erzählt bekommen, wo diese Figur sich tatsächlich einmalig verhält. Hier aber: Sie geht jeden Tag arbeiten. Sie hat Geld auf der Bank. Sie kauft sich gerne was zum Anziehen. Sie liebt ältere Männer. Sie interessiert sich für ihr Bild im Spiegel. Sie geht ins Theater und ins Konzert. Sie legt melancholische Musik auf. Sie wurde am Arbeitsplatz dran gehindert, ihren ursprünglichen Elan produktiv einzusetzen, findet jetzt, diese Arbeit habe mit ihr selbst eigentlich wenig zu tun und mache auch kaum noch Spaß. Sie fühlt sich oft müde, obwohl sie lange nicht dreißig ist. Sie bemüht sich, schonungslos ehrlich zu sein, und verprellt damit reihenweise Leute, die so etwas nicht ertragen können. Sie redet mit Freundinnen, die sie aber nicht wirklich für „wahre Freundinnen“ ansieht. Dagegen ist sie gerne mit einem bestimmten Mann zusammen, weil sie den menschlich schätzt, nicht weil sie ins Bett geht mit ihm. Sie ist oft allein; oft ist sie ganz gern allein, manchmal mag sie es aber nicht so, alleine zu sein. Wa-a-a-a-a-hsinn! Das Einhorn im Wald unserer Gesellschaft! So jemand wird nur alle 200 Jahre hier durchkommen! Und wir merken es dann wieder mal nicht, wie extrem außergewöhnlich und darum wie außergewöhnlich wertvoll der für uns alle doch gewesen wäre.

Ganz bewusst versucht der Text uns Leser zu ködern, indem er uns frühzeitig sagt: Diese Figur ist anders, dann: Diese Figur war zwar immer schon anders, aber an einem bestimmten Datum ist sie ganz anders geworden, dann: Da ist ein Mann in ihrem Leben gewesen! Das darf der Text selbstverständlich. Und entsprechend neugierig dürfen wir werden auf die Lösung „des Geheimnisses“. Doch erzählt bekommen wir nur Folgendes:

„Er erzählte ihr von Träumen, sang Lieder von Melancholie, wischte ihre Oberflächlichkeit mit eine Geste davon und mit unbeschreiblicher Mimik, Poesie, Romantik und vor allem Ehrlichkeit zog er Germaine auf seine Seite.“
Papier, Papier, Papier! Jetzt krieg das erst mal hin, dass du wenigstens ein seltsames Mienenspiel, eine poetische Sekunde, eine romantische Stunde und einen ehrlichen Satz so hinschreibst, dass wir, die fremden und ja vielleicht überaus skeptischen Leser (warum sollten wir das nicht sein dürfen?) ebenfalls finden: Ja, ja, hat sie Recht, das war schon unbeschreiblich, poetisch, romantisch und erfrischend ehrlich. Nur eins von jedem von diesen – und es wäre extrem was gewonnen für deinen Text.

Das aber will diese Autorin – und das wollen, wie ich hier in der Umschau finde, auch viele andere Autoren nicht: Sie haben mal was gefühlt. Sie haben mal was gedacht. Und sie möchten uns nun das auch fühlen und denken lassen, ohne uns allerdings sagen zu wollen, in welchen Umständen sich das zugetragen hat. Denn das wäre irgendwie zu persönlich, zu privat. Würde zu nah an den fremden Leser herantreten und den fremden Leser auch zu nah an sie, die Schreibenden, rantreten lassen. Was auch passieren könnte, sehr leicht sogar, dass, je mehr ich die konkrete Situation beschreibe, der fremde Leser innerlich sich immer weiter verabschiedet. Denn es sind zwei Dinge: etwas zu erleben und zu fühlen oder ein Konstrukt aus Buchstaben zu entziffern, in welchem etwas erlebt und gefühlt wird. Was in Wirklichkeit Herz zerrreißend oder Glücks überströmend war, kann beim Leser Gähnen auslösen oder hämisches Gelächter.

Das ist genau, was ich riskiere, wenn ich so etwas mache. Wenn ich nicht einfach schreibe: Ich habe das und das gefühlt, sondern: Ich habe das getan, er hat das getan, ich hab das gesagt, er hat das gesagt, und da hab ich das und das gefühlt! Etwas, was tatsächlich hoch bedeutsam gewesen ist, wird vielleicht klein und schäbig, wenn man es durch Augen sieht, die fremde sind.

Um dem zu entgehen, gibt es den einfachen Weg, nicht wirklich die Figur zu beschreiben, die ich eigentlich selber bin, sondern eine andere, eine Fremde zu erfinden. Diese tut und sagt dann auch nicht, was ich gesagt und getan habe, sondern etwas, was zu ihr, die ja nicht ich ist, passt. Doch immer noch geschieht das Ganze auf dem grünen Rasen zwischen mir, Schreiber, und ihm, ungläubigem Leser! Wenn ich gut bin, kriege ich es hin, dass Person 2, der Leser, das fühlt, was ich, Person 1, gefühlt habe, als ich X erlebte, während er zusieht, wie Figur G, die weder er ist noch ich, nicht X erlebt, sondern Y.

Oder meinetwegen das gleiche Geschehen, die gleichen Reden, die gleichen Handlungen wie seinerzeit bei mir, dem Schreibenden. Aber irgendwas muss halt mal konkret dastehen. Irgendwas halbwegs Interessantes für Außenstehende. Nur zu schreiben: Ich bin anders, ich fühle... - das ist: Leider keine Neuigkeit. Gilt nämlich für jeden von uns.


(P.S.: Geschrieben habe ich meine Antwort nach der Lektüre des Textes in der pdf-Datei der LL-Prosagesamtausgabe. Also nicht im Internet. Jetzt, wo ich das hier absetze, klicke ich noch ein wenig in der Lyrik der Autorin herum. Und wundere mich. Positiv. Das dort scheint mir ja recht oft ganz gelungen, irgendwie frisch, um nicht gleich zu sagen, Rocksong-nah. Könnte wirklich was sein. Gibt wohl doch nen gravierenden Unterschied zwischen Prosaisten und Lyrikern.)
 



 
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