Die zwei Schwestern

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Ohrenschützer

Mitglied
Die zwei Schwestern

Zer kratzt dich. Zer beißt dich.
Zer frisst dich. Zer reißt dich.
Bis Zer fällt.
Bis sie nichts hält.

Ent führt dich. Ent ehrt dich.
Ent täuscht dich. Ent leert dich.
Bis Ent spricht.
Oder auch nicht.

Zer, die nagende Ungewissheit.
Ent, die zähe Hoffnung.

Zer sprengt dich. Zer splittert dich und Zer setzt.
Zer stört dich. Zer knittert dich und Zer fetzt.
Bis Zer birst.
Du endlich sicher wirst.

Ent hemmt dich. Ent nervt dich und Ent wendet.
Ent härtet dich. Ent schärft dich und Ent sendet.
Bis Ent bindet.
Neue Opfer findet.
 
K

Kadra

Gast
Hallo Ohrenschützer,

erst heute habe ich, beim Blättern in den hinteren Seiten, diese sehr ideenreichen Zeilen entdeckt. Sehr guter Ansatz, ich mag solche Wortspielereien und Sinnakrobatik.

Wären es meine, würde ich noch weiter straffen. Besonders der Endteil wird langatmig. Weil ich als Leser, das Wortspiel verstanden habe und nun nach verdichtetem Sinn suche. Das könnte man komprimierter machen.

Lieben Gruß von
Kadra
 

Ohrenschützer

Mitglied
Eineinhalb Schwestern

Hallo Kadra,

Vielen Dank für die an sich positive und dazu noch konstruktive Kritik. Derzeit habe ich bei den Moderatoren scheinbar besonders hohe Sympathiewerte...

Du meinst, dem Gedicht würde eine Kürzung/Straffung gut tun. Dem muss ich deutlich widersprechen, auf die Gefahr hin, trotzig zu erscheinen. Der zweite Teil ist für mich eine unerlässliche Steigerung des ersten; sprachlich (zB durch den reichen Reim), der Form nach (durchgehaltene Struktur), und vor allem von der Aussage her.

Natürlich ist sehr viel in wenigen Worten dicht verpackt, da gebe ich dir vollkommen Recht. Aber die Aussage des Gedichts wäre ohne den zweiten Teil unvollkommen, weil nicht die notwendige Tiefe ausgeleuchtet wird. Was ich mit Tiefe meine, mache ich dir am besten deutlich, indem ich Gedanken wiedergebe, die aus einer Diskussion über das Gedicht heraus entstanden sind:

Zer als die aggressive Schwester; Ent die widersprüchliche.
Wie ist die Ungewissheit zu sehen? Hält sie uns in einem Schwebezustand, oder halten wir sie? Sie fällt auf jeden Fall, weil sie nichts mehr hält. Trägt sie in sich schon den Keim der Gewissheit, welche zuguterletzt aus ihr durchbricht oder löst sie sich selbst auf, sind wir der Reibebaum, an dem sie vergeht? Obwohl die Ungewissheit uns Qualen bereitet, sie wird niemals Sieger bleiben. Entweder sie wird von der Gewissheit verdrängt oder gerät ins Abseits, wo sie leise weiterätzen kann. Ihr einziger Triumph bleibt ihre Existenz.
Wann ist die Hoffnung zu Ende? Wenn sie die Dinge konkret beim Namen nennt, oder wenn das Angestrebte Wirklichkeit geworden ist oder gar nicht mehr Wirklichkeit werden kann? Wenn sie verbindlich geworden ist oder wenn sie frei für anderes macht? Die Hoffnung löst die widersprüchlichsten Dinge in uns aus: Wie nahe beieinander sind letztlich doch die sich scheinbaren Gegensätze führen und entführen, wie negativ sowohl täuschen und enttäuschen, wie positiv sowohl schärfen und entschärfen. Sie ehrt uns vor uns selbst, weil wir ein Ziel haben, das wir zu verfolgen nicht aufgeben; sie entehrt uns vor uns selbst, weil wir es nicht erreichen. Wenn wir es dann erreicht haben und mit ihm verbunden sind, werden wir von dem Zwang des Weiterstrebens entbunden. Das Opfer der Hoffnung ist dann das angestrebte Ziel; wenn sie uns jedoch nicht loslässt, uns an sich bindet, und wir letztlich am Erreichen des Ziels scheitern: Dann sind wir selbst Opfer der Hoffnung geworden.

Das Interessante an dem Gedicht ist für mich die Aussage, dass es nicht nur wichtig ist, ob/dass etwas getan wird, sondern auch von wem. Die handelnde Person verformt die Handlung selbst bis zum krassen Gegenteil, womit man das Gedicht auf zwei Arten lesen kann. Aber das ist eigentlich ein Nebenaspekt.

Soweit meine etwas ausladende Antwort (vielleicht kann man diese ja noch kürzen ;)). Nochmals Danke für den gewogenen Kommentar, liebe Grüße
 
K

Kadra

Gast
Hallo Ohrenschützer,

klar, machen wir uns hier untereinander auf interessante neue Mitglieder aufmerksam. Rosinen picken, nenn ich sowas. ;)

Ich habe mich falsch ausgedrückt. Statt "komprimierter" hätte ich "deutlicher" schreiben sollen. Vielleicht bist du in die Falle getappt, in der ich mich selbst so oft wiederfinde. Du hast ein Vehikel, eine sehr interessante Form gefunden einen gewünschten Inhalt zu transportieren. Dieser Form wird aber nun alles untergeordnet und *schwupp* sie trägt den gewünschten Inhalt plötzlich nicht mehr. Was ich sagen will ist, du setzt voraus, dass der Leser deine Gedanken versteht - und überforderst hier an der Stelle.


Meine Idee dazu: Hoffnung versus Ungewissheit, bleibe streng bei diesem Inhalt. Mach den Kampf unmittelbarer. Überziehe die Aspekte der Ungewissheit NUR ins Negative und die der Hoffnung NUR ins Positive. Ist es doch ohnehin fraglich, ob die Hoffnung beispielsweise hemmt, oder ob dies nicht eben gerade ihr Schwester die Ungewissheit ist.
Du könntest auch durch einen differenzierteren Titel den Leser auf deine Fährte locken.

Alles nur meine völlig subjektiven Gedanken zu dem Thema. Es bleibt eine wunderbare Idee die du da hattest!

Lieben Gruß von
Kadra
 

Ohrenschützer

Mitglied
Rosine an Picker

Liebe Kadra,

Ich denke, ich verstehe, was du meinst. Du hast insofern Recht, als dass die Form in diesem Fall wichtiger als der Inhalt war, und damit der Leser ziemlich gefordert ist, Schlüsse zu ziehen. Mein Ansatz war aber nicht, dass man sofort den inhaltlichen Clou des Gedichts versteht, sondern sich an der sprachlichen Idee verhakt, beim Durchlesen plötzlich nicht mehr weiß, wie man die Verben nun lesen soll, sich ertappt, plötzlich das Subjekt wegzulassen und dadurch nachzuforschen beginnt, was nun wirklich gemeint sein kann, dies nicht erkennen kann und nun die beiden Lesarten vergleicht, zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten kommt und diese plötzlich auf den Begriff Hoffnung und Ungewissheit umlegen kann - du siehst, man kann den Vorgang sogar in einem Satz ausdrücken ;)!

Es ist mir bewusst, dass es viel direktere Lösungen geben kann, über diese Form den Inhalt zu übermitteln; aber in diesem speziellen Fall wollte ich die Grenzen der Form ausloten, auch auf die Gefahr hinaus, das Gedicht schwer lesbar zu machen. Ich möchte hinzufügen, dass es sich vielleicht gerade deshalb um ein besonderes Liebkind von mir handelt, das ich mir ungelogen schon an die tausend Mal durchgelesen habe, stetig auf meine eigenen Tricks hereinfallend. Daher übt es auf mich eine große Faszination aus, und aus diesem Grund der besonderen emotionellen Bindung würde es mich ausgesprochen große Überwindung kosten, es zu ändern. Am ehesten kann ich mir noch Adaptierungen am Titel vorstellen, aber da habe ich keine zündende Idee (wie wär’s mit „Nimm dir eine Stunde Zeit“? :D).

Danke schön für die intensive Auseinandersetzung, ich hoffe, du kannst auch meinen Standpunkt nachvollziehen – ich möchte den Eindruck eines „ich hab das geschrieben und basta“-Typs vermeiden, denn dann könntest du dir logischerweise jegliche konstruktive Kritik sparen. Deine offenen und aufbauenden Worte geben mir Mut und Motivation, mich wieder mehr, intensiver und besser aktiv in der Literatur zu engagieren.

Ein schönes Wochenende und liebe Grüße
 



 
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