Diebin

Kyra

Mitglied
DIEBIN
Wawa saß mit angezogenen Beinen auf der Fensterbank und beobachtete den Hausmeister der die verstaubten Theaterkulissen mit einer Axt zerteilte. Diese alten Holzkulissen benützte er immer zum Anheizen des mächtigen Kohleofens. Während die Axt einen leuchtend blauen See mit Schwänen, Kahn und einem Tannenwald dahinter zertrümmerte hörte Wawa ihrer Mutter aufmerksam zu, die grade sagte,
„Es ist ganz einfach, du gehst leise in die Küche, wenn Großmutter kommt tu einfach so als wenn Du ein Glas Wasser willst. Hast du das verstanden?“
Wawa nickte ohne ihre Mutter anzusehen. Sie hatte verstanden was sie tun sollte, aber warum sie ihre Urgroßmutter bestehlen sollte, verstand sie nicht genau. Ihre Mutter war schon seit einigen Tagen in fröhlicher Stimmung, hatte sogar ihre Staffelei und Farben ausgepackt und eine Leinwand grundiert. Auch angezogen hatte sie sich, sie stand in ihrem engen schwarzen Rock mit roter Bluse vor Wawas Fensterplatz und zog etwas ungeduldig an Wawas langem Zopf.
„Hörst Du mir überhaupt richtig zu? Stell dir jetzt einfach vor wir haben überhaupt kein Geld mehr und großen Hunger. Wenn ich etwas stehle komme ich vielleicht ins Gefängnis, aber du bist ein Kind, dir passiert nichts. Du sollst es ja nur machen um das zu üben, denn wenn wir von hier weggehen haben wir wahrscheinlich erst einmal überhaupt kein Geld“
Der Hausmeister trieb seine Axt jetzt mitten in den See und halbierte mit einem Schlag einen der beiden Schwäne. Ohne ihre Mutter anzusehen, sagte Wawa,
„Aber ich kann sie doch fragen, ob sie uns was zu essen gibt. Sie gibt uns bestimmt was. Ganz bestimmt!“
Die Mutter hatte begonnen Wawas Zopf neu zu flechten, erst zog sie gereizt die einzelnen Strähnen glatt während sie weiter sprach,
„Wenn wir zusammen nach Russland gehen gibt es da keine Großmutter, dann müssen wir beide zusammenhalten. Wir beide sind dann allein.“
Wawa zuckte vor Schmerz zusammen, als die Mutter den Zopf so straff ansetzte, als wolle sie eine Peitsche flechten.
„Also, du gehst in die Küche und wenn da keiner ist, schleichst du in die Speisekammer. Du nimmst soviel mit, dass wir uns ein Mittagessen davon machen können. Du bist jetzt acht, viele Kinder müssen mit acht Jahren schon arbeiten. Du sollst nur in die Speisekammer gehen und sehen was da ist. Dann überlegst du was wir damit zu essen machen können und bringst es unter deinem Pullover hierher. Das kann eine Fünfjährige.“
Wawa warf einen letzten Blick zum Hausmeister der inzwischen bei dem Nachen angekommen war. Der jedoch widersetzte sich standhaft den Axthieben da auf der Rückseite eine Querstrebe angenagelt war. Sie rutschte unwillig von der Fensterbank und meinte,
„Warum müssen wir nach Russland, ich will nicht weg von hier“
Während die Mutter sie ungeduldig zur Tür schob wisperte sie ihr ins Ohr,
„Darüber haben wir doch schon oft genug gesprochen, wir gehören nicht hierher, wir sind Tataren. Glaub mir es wird schön, nur wir beide. Du musst keine Angst haben, wir kommen schon durch. Aber du musst dich eben auch etwas anstrengen.“
Nachdem die Tür sich hinter Wawa geschlossen hatte, blieb sie einen Augenblick im dämmrigen Flur stehen. Ja, sie war eine Tatarin, und Tataren waren wild, furchtlos und kannten nur ihr Gesetz. Sie töteten ihre Feinde. Verräter wurden grausam gefoltert. Mit glühenden Eisenstangen wurden ihnen die Augen ausgebrannt, sie wurden an wilde Pferde gebunden und zu Tode geschleift oder von vier Pferden zerrissen. Manche mussten so viel trinken bis ihnen der Bauch platzte, anderen wurde ein Pfahl in den Mund gerammt, so tief, dass er zwischen den Beinen wieder herauskam. Die Frauen ihrer Feinde zwangen sie ihre eigenen Kinder zu essen. Das wusste sie alles aus den Erzählungen ihrer Mutter.
Als Wawa in Richtung Küche schlich, stellte sie sich vor es wäre das Lager ihrer Feinde und sie müsste ihre Mutter vor dem verhungern retten.
Schwanz wedelnd und winselnd kam Wawa ihr Spitz entgegengelaufen. Damit der Hund ihr nicht folgen konnte, schloss sie ihn in die Toilette ein. Die Zimmertür ihrer Großmutter war nur angelehnt, die leisen Selbstgespräche der alten Frau begleiteten Wawa in die Küche. Hier traf sie auf Fräulein Zink. Die war zwar nicht ganz richtig im Kopf, aber Wawa wollte nicht dass jemand sie beim Stehlen sah. Sie saß, wie immer, am dreckigen Küchentisch und bröselte den Tabak aus Kippen die sie gesammelt hatte. Sie hatte schon einen stattlichen Haufen zusammen und holte aus ihrer dreckigen Einkaufstasche immer neue heraus. Manchmal beobachtete Wawa Fräulein Zink, wenn sie Einkäufe für die Großmutter machte. In einer Hand hatte sie das Einkaufsnetz in der anderen diesen schmutzigen Sack. Wenn sie eine Kippe bemerkte, sah sie sich rasch um, ob auch niemand sie beachtete, dann ließ sie den Beutel scheinbar versehentlich fallen und hob ihn mitsamt dem Zigarettenstummel wieder auf. Hatte sie genug Tabak, begann sie mit zurechtgeschnittenem Zeitungspapier und dünnem Lein ihre eigenen Zigaretten zu drehen. Dafür nahm sie nicht irgendwelche beliebigen Zeitungsausschnitte. Sorgfältig arbeitete sie täglich die „Süddeutsche“ durch um Fotos oder Texte zu finden, die irgendetwas mit Katholizismus zu tun hatten. Fand sie einmal ein Bild des Papstes, wurde das Rauchen für sie ein solcher Genuss, dass ihre schmalen Schultern vor stummem Gelächter bebten. Wawa hatte sich nie dafür interessiert, warum Fräulein Zink Katholiken so erbittert hasste, aber jetzt gab es ihr die Möglichkeit sie aus der Küche zu vertreiben. Sie lehnte sich an den Küchentisch, beobachtete kurz wie geschickt die alten Hände mit den schwarzen Fingernägeln den letzten Tabakkrümel aus jedem Stummel holten und meinte dann beiläufig,
„Gleich kommt Fräulein Bauer mit ihrem Freund, sie wollen eine Hühnersuppe kochen. Ich habe das Huhn gesehen, es ist riesig“
Der Freund von Fräulein Bauer war katholisch, so katholisch dass er gerne über die Kirche, den Pabst und seinen festen Glauben sprach. Fräulein Zink zuckte zusammen, raffte unter verhaltenen Flüchen ihre Sachen vom Tisch und verschwand in Richtung ihrer Dielenecke.
Wawa horchte noch einmal ob ihre Großmutter auch nicht käme, dann schlüpfte sie in die Speisekammer. Hier standen in Regalen Gläser mit eingemachtem Obst, selbstgekochte Marmeladen in denen sich immer tote Wespen fanden, Fleischkonserven und Sardinenbüchsen. In einer kleinen Holzkiste lagen Kartoffeln, daneben ein Sack Zwiebeln. Auf einem blankgescheuerten Regalbrett reiften, in Windelstoff eingeschlagen, zwei selbst gemachte Käse. Ein dritter Käse war bereits reif und lag angeschnitten auf einem Teller. Unschlüssig stand Wawa vor dem Regal. Sie musste jetzt genau überlegen was sie mitnahm, sie war jetzt zwar ins Lager der Feinde vorgedrungen, aber alles hing jetzt davon ab, ob sie auch das richtige zurückbrachte.
Schließlich entschied sie sich für fünf Kartoffel und drei Zwiebeln. Dazu schnitt sie ein Stückchen von dem Käse ab, wickelte ihn in ihr fast sauberes Taschentuch und steckte ihn in die Hosentasche. Kartoffeln und Zwiebeln verstaute sie unter Ihrem Pullover. Als sie schon fast draußen war, entschloss sie sich noch eine Fleischkonserve mitzunehmen. Niemand begegnete ihr auf dem Weg zum Zimmer der Mutter. Nur als sie die leise Stimme ihrer Großmutter hörte, die sich selber aus der Zeitung vorlas, fühlte sie eine traurige Schuld von ihrer Brust den Hals emporsteigen. Aber dieses Gefühl war sofort verschwunden, als ihre Mutter sie überschwänglich in Empfang nahm. Sie durfte sich in den großen Sessel setzten, bekam ein neues Mickey Mouse Heft und ihre Mutter begann an der kleinen Kochplatte zu hantieren. Kartoffeln und Zwiebeln wurden klein geschnitten, da sie kein Wasser hatte, goss sie etwas Bier dazu und ließ das ganze eine weile kochen. Später kam das Dosenfleisch dazu und zuletzt der Käse.
Feierlich zündetet Wawas Mutter eine Kerze an, als sie sich an den Tisch mit den japanischen Kacheln setzten und sagte,
„das ist das erste Essen was du selber besorgt hast. Darauf kannst du sehr stolz sein. Du darfst nie vergessen, dass du auch alleine durchkommen kannst. Schließlich kann ich ja einmal krank werden…“
Wawa hatte inzwischen auch Hunger, so häufte sie sich den Teller mit der graubraunen Masse voll. Schon beim ersten Löffel den sie aß war sie überrascht wie gut es schmeckte. Vorsichtig pickte sie ein Stückchen Kartoffel heraus um herauszufinden was den Geschmack verändert hatte. Mit der Zunge zerdrückte sie die Kartoffel am Gaumen, etwas war anders, nur konnte sie nicht sagen was es war. Selbst der Käse, den sie sonst nicht sehr mochte, schmeckte plötzlich würzig und aufregend. All die Dinge auf ihrem Teller waren ihr vertraut, aber sie hatten sich verwandelt, obwohl sie noch genauso so aussahen wie sonst. Während sie gierig ihren Teller leerte, versuchte sie zu verstehen wodurch Kartoffeln und Zwiebeln sich so verändert konnten.
Gedämpft hörte sie ihre Großmutter nach dem Hund rufen, den sie in der Toilette vergessen hatte. Unerwartet fühlte sie ihr schlechtes Gewissen wieder in der Kehle brennen. Allein als sie den nächsten Bissen nahm, verwandelte dieses Brennen den Geschmack des zusammengekochten Breis in eine himmlische Speise.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
mannomann,

was hast du für eine erziehung genossen! ja, mit acht jahren macht man noch, was einem gesagt wird. ich nenne das, was deine mutter da mit dir gemacht hat, mißbrauch. aber langsam würde mich interessieren, was für bilder sie malte und ob sie damit erfolg hatte. ganz lieb grüßt
 

JCC

Mitglied
Soll das heißen, das ist selbst erlebt?

Die Beschreibung der Mahlzeit am Ende finde ich sehr gut.
Die alte Frau ist allerdings einmal Urgroßmutter und einmal Großmutter der Erzählerin, oder habe ich etwas falsch verstanden?
 

Kyra

Mitglied
Hallo JCC

ja, selbst erlebt ist es, aber das spielt keine so grosse Rolle mehr, es ist verjährt ;-))
Mit der Großmutter bzw Urgroßmutter verhält es sich so, es ist tatsächlich meine Urgroßmutter, nur manchmal verschreibe ich mich...für mich spielt es keine Rolle weil es keine Großmutter gab, beim Leser kann es natürlich Verwirrung hervorrufen ;)

Viele Grüße

Kyra
 



 
Oben Unten