Dienstende

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multimind

Mitglied
Dienstende

Wenn ich in der Zeitung von einer Frau lese, die ihren Mann umgebracht hat, denke ich: Das hätte ich sein können. Dann sehe ich mich vor dem Richter stehen, eine Polizistin neben mir, meine Mutter heult hinten im Gerichtssaal, mein Vater stiert gerade aus, seine Kiefer treten hervor, gleich wird er losbrüllen.

„Hilde Hoffmann, haben Sie Ihren Mann getötet?“
„Nein, Herr Richter.“
„Haben Sie darüber nachgedacht, ihn zu töten?“
„Ja, Herr Richter. Viele Male. Tausende Male. Aber mein Mann hat in die Scheidung eingewilligt. Wenn nicht, hätte ich ihn umgebracht.“
„In Ordnung, Frau Hoffmann. Sie können gehen.“

Denn ich habe niemanden umgebracht. Ich hatte das Standesamt. Das Standesamt hat mich gerettet.

Ich arbeite seit zwanzig Jahren hier. Wir sind fünf Frauen, die leitende Standesbeamtin Margot Schirn, ihre Stellvertreterin, zwei andere Mitarbeiterinnen im Büro und ich. Wir sind alle geschieden.
Margot zum zweiten Mal. Sie sagt, sie würde nie behaupten, dass sie es nicht ein drittes Mal probiert.

Unser berühmtester Stammkunde hat sechsmal bei uns geheiratet. Er kommt uns hin und wieder besuchen, erzählt gut gelaunt, dass es diesmal wirklich gut aussieht, in seinem Alter hofft er, dass er endlich zur Ruhe kommt. Er ist einundsechzig. Angesichts seiner statistischen Lebenserwartung bin ich skeptisch. Sechsmal habe ich es schon in seinen Augen gesehen: diesmal ist es richtig. Die Suche ist zu Ende.

Das Standesamt ist ein magischer Ort. Die schlichten Türen in die modernen Büros mögen unauffällig sein. Aber das Amtsgebäude ist eine Burg mitten in der Stadt, ockergelb und rot verputzt, abgehoben von allen anderen Gebäuden, ein säulenbewehrtes Entree, ein marmornes, mächtiges Stiegenhaus, marmorne Gedenktafeln. Der Verkehrslärm bleibt draußen.
Hier werden Geburt, Tod, Staatsangehörigkeit gemeldet, verzeichnet und aufbewahrt, hier beginnt und endet das amtliche Leben der Bürger seit 140 Jahren, das lässt niemanden unberührt, nicht die Angestellten, nicht die Menschen, die hier jeden Tag hereinkommen.

Hier wird geheiratet.

An Margot bewundere ich, dass sie die Zeremonien so abhält, dass man ihr vielleicht hin und wieder eine leichte Ironie oder Skepsis anmerkt, aber doch das Gefühl hat, sie glaubt an die Möglichkeit einer guten Ehe. Ich könnte das nicht. An viel zu vielen Tagen sieht man mir meine Frustration an, ich weiß es. Ich bin genervt. Genervt und zornig, wenn ich wieder ein etwas hysterisches Paar einweisen und beruhigen muss, die Ausweise der Trauzeugen einsammle, die Ringe nach vorne auf das silberne Ringtablett trage, in den Saal hinein, aus dem ein staatlich anerkanntes Ehepaar wieder heraus kommen wird.
Ich darf die Brautleute natürlich nicht zu auffällig taxieren, aber ein paar Blicke werfe ich schon, versuche, mir ein Bild zu machen. Immer wieder ist es ein glückliches Bild. Mir steigt der Neid hoch, ich kann es nicht ändern. Das Bild einer glücklichen Ehe, harmonisch und liebevoll miteinander alt werden, glückliche Kinder. Ein kurzer Blick auf wachsende Bäuche unter dem Hochzeitsgewand oder mitgeführte heraus geputzte Kleinkinder oder Kinderwagen.
Allerdings habe ich oft eher das Gefühl, es geht zu einem Begräbnis und nicht zu einer Eheschließung, so bedrückt und still ist es. Oder giftiger Streit, der finale Aggressionsdurchbruch nur mühevoll unterdrückt. Ich kann nicht behaupten, dass mich das dann freut. Es macht mich traurig.

Ich bemühe mich ja auch, ich versuche, zu lächeln, gelassener zu sein.
Es ist schwer. Wirklich schwer.

Es war schwer.

Denn jetzt ist es geschehen. Ich werde das Standesamt verlassen, nach zwanzig Jahren.

Ich war nervös und gereizt an diesem Tag, deswegen war ich schon im Stiegenhaus und sah das Brautpaar mit einer Handvoll Gästen die Treppe herauf kommen. Alle sahen angespannt und unglücklich aus, das wäre noch nichts Besonderes gewesen. Mein Blick blieb am Bräutigam hängen. An seinem Schnurrbart. Ein dunkler Schnurrbart, nicht ganz perfekt geschnitten, deswegen sah er über den hellen Lippen des Mannes irgendwie fröhlich aus, und an den Seiten ein bisschen traurig. Noch nie hat mich ein Schnurrbart interessiert. Diesen wollte ich sofort küssen. Der Mann sah mich an, ich erschrak. Sah man, was ich dachte? Er blickte wieder weg, auf seine Braut, sie kamen die letzten Stufen herauf.
Die Braut war nicht sehr groß und etwas mollig, wie ich es auch bin. Jemand hatte sie schlecht beraten, ihr blaues Kostüm war zu eng, sie wirkte hinein gepresst, bewegungsunfähig. Sie war stark überschminkt, ihre Miene bewegungslos, sie schwitzte, auf der Stirn und unter den Augen glänzte es. Es war Mai, der erste sonnige, heiße Tag seit langem.

Ich sehe so viele Hochzeiten, bei denen das offensichtliche Unglück schon bei der Tür mit herein kommt. Aber diesmal wollte ich eingreifen, aufschreien, dazwischen funken. „Bitte, heiratet nicht, das klappt doch nie, werdet anders glücklich!“ Mit der Gleichgültigkeit der letzten Jahre war es vorbei. Es lag an diesem Schnurrbart und den Augen darüber, die noch einmal über mich hinweg wanderten, als ich den Trauzeugen die Ausweise abnahm und mit ihnen ins Büro ging.
Den bürokratischen Akt vollzog ich mechanisch, keine noch so große Aufregung könnte diese Routine durchbrechen, nie ist mir hier auch nur der kleinste Fehler passiert. Aber schon als ich Brautpaar und Gäste zur Aufstellung in den kleinen Saal vor dem Festsaal bat, merkte ich, wie heftig mein Herz pochte. Ich wusste, ich konnte nicht in das Büro zurück gehen.
Beim Einzug gab es keine Musik. Ich kann den Hochzeitsmarsch eigentlich schon nicht mehr hören (oder „I just called to say I love you“, das so viele als Alternative auswählen), aber an diesem Tag dachte ich: wenn sie wenigstens Musik hätten. Dann wäre es vielleicht nicht ganz so schrecklich und verkrampft. Alle fünf oder sechs Gäste setzten sich getrennt voneinander in den Saal mit einer Bestuhlung für sechzig Personen. Zwei Frauen hüstelten. Sonst war es vollkommen still, bis die Standesbeamtin herein kam, gemessenen Schrittes, in rot-schwarzer Robe.
Selbst sie zögerte einen Moment. Ich sah ihren kurzen irritierten Blick auf das Paar und in den Saal.
Dann fasste sie sich und begann ihre kurze Rede.
„Liebes Brautpaar, liebe Gäste…“

Der Bräutigam, der bisher geradeaus gesehen hatte, wandte seinen Kopf jetzt zu den Fenstern an seiner Seite. Der Himmel strahlte königsblau, wolkenlos. Ich stellte mir vor, dass gerade ein Vogel vorbei flog. Dann rückte ein Sessel.
Der Bräutigam war aufgestanden. Er legte der Braut die Hand auf die Schulter, streichelte sie leicht. Sie bewegte sich nicht. Im Saal blieb es still, die Standesbeamtin schwieg.
Seine Stimme hallte etwas.
„Es tut mir leid. Aber ich gehe besser.“

Er drehte sich um, ging den Gang zwischen den sechzig Stühlen entlang. Als er den kleinen Saal betrat, wich ich etwas hinter den Türflügel zurück, aber er sah mich. Er sah mir in die Augen. Dann ging er hinaus.

Falls es in dem Saal irgendetwas zu hören gab, hörte ich es nicht. Ich fühlte mich wie in einem Tunnel, links und rechts nicht einmal ein Notausgang.
Ich ging aus dem kleinen Saal, zu den Treppen, ging hinunter, nicht zu schnell, nicht zu langsam, ich hatte keinerlei Zweifel in diesem Moment, keine Angst, aber auch keine Wahl.

Ich traf ihn vor dem Eingang, wir gingen ein Stück in die nächste Seitengasse hinein und dort noch einmal um die Ecke in ein kleines Gässchen, weg von den Katastrophen, die in Kürze zu erwarten waren.
„Wie heißen Sie?“ fragte er und lehnte sich an eine staubige Häuserwand.
„Hilde. Ihren Namen weiß ich ja. Wolfgang.“
„Die meisten nennen mich Wolf. Einsamer Wolf. Sie haben so etwas vermutlich schon erlebt.“
„Ich habe erlebt, dass Hochzeiten abgebrochen werden, ja. Aber ich bin sicher noch nie mit dem Bräutigam mit gegangen.“
„Ex-Bräutigam.“
„Ex-Bräutigam.“ Mein Herz klopfte wieder stärker.
„Sind Sie verheiratet, Hilde?“
„Nicht mehr.“
Er lachte kurz. „Und wollen es wohl auch nicht mehr sein.“
„So sicher bin ich mir da nicht. Die Frage ist, ob es wichtig ist.“
„Doch, ich glaube schon, dass es wichtig ist. Deswegen bin ich ja jetzt auch gegangen. Inge wird verletzt sein, natürlich, aber es wird sie nicht unglücklicher machen. Sie ist in einen anderen verliebt, schon lange, eine komplizierte Geschichte. Ich war die zweite Wahl. Das hätte es nicht weniger kompliziert gemacht.“
„Und sie war ihre erste Wahl?“
„Nein. Ich hatte Angst. Ich dachte, mir läuft die Zeit davon. Allein bleiben wollte ich nicht. An Glück habe ich nicht mehr geglaubt. Wie viele glückliche Menschen kennen Sie?“
Ich konnte die Frage schon deswegen nicht beantworten, weil ich immer seinen Schnurrbart ansah. Ich wollte mich so gerne an diesen Mann lehnen, seinen Körper spüren und zart diesen Schnurrbart berühren. Sehr lange hatte ich das nicht mehr gespürt, nicht mehr gewollt.

Wahrscheinlich würde ich gekündigt werden. Ich konnte natürlich sagen, der Bräutigam war kurz vor dem Zusammenbruch, ich hätte ihm helfen müssen – aber dass ich nicht schon längst wieder zurück war, dafür hatte ich keine Erklärung.
„Was wollen Sie jetzt machen?“ fragte ich.
„Nach Hause fahren. Einen Kaffee trinken, duschen und dann am Balkon ein Glas Wein trinken.“
Welche Aussicht er wohl von seinem Balkon hatte?
„Und Sie? Gehen wieder in Ihr Büro?“
„Ich weiß nicht. Ich glaube, ich begehe gerade eine schwere Dienstverfehlung.“
Er stieß sich von der Wand ab, richtete sich auf und sah mir in die Augen. Ganz leicht berührte sein Handrücken meinen Handrücken.
„Vielleicht sollten wir über unsere Verfehlungen erst morgen wieder nachdenken.“
„Eine gute Idee.“

Die Aussicht auf seinem Balkon ging über die Häuserdächer Richtung Wienerwald. Der Tag endete mit einem schimmernden Sonnenuntergang, dem in der Nacht ein leichter Regen folgte.
Ich gestand ihm, dass ich mich in seinen Schnurrbart verliebt hatte. Dass ich das Gefühl hatte, er sprach regelrecht zu mir.
„Mein Trauzeuge und meine Braut sagten, er muss weg für die Hochzeit. Er ist nie wirklich ordentlich. Auf den Fotos wird er komisch ausschauen. Er wird mich beim Küssen kitzeln, sagte Inge, und ich werde das Gesicht verziehen. Ich war schon knapp davor, ihn weg zu nehmen, aber dann konnte ich es nicht. Was für ein Glück.“
„Dass er beim Küssen kitzelt, stimmt“, sagte ich.

Sehr früh am Morgen erzählte er mir, dass er aus einem kleinen Dorf in der Steiermark stammte. Er hatte dort ein Haus geerbt. Schon lange wollte er dorthin zurück.
„Den Standesbeamten der Gemeinde kenne ich schon seit meiner Jugend. Er wird bald in Pension gehen. Aber noch gibt es ihn.“
Ich stellte mir eine Hochzeit vor. Nur Wolfgang, ich, zwei Trauzeugen aus dem Dorf und der steirische Standesbeamte. Danach ein Essen in einer Buschenschank, bei der Theke lief das Radio. Wir brauchten kein Fest, keine Blicke der anderen, keine Erwartungen. Bei irgendeinem Schlager tanzten wir.
Da wusste ich, dass ich das Standesamt hinter mir lassen konnte. Die Säulen, die Gänge, das Büro; die Frustration, die halb eingestandenen Hoffnungen, ich brauchte es nicht mehr. Die Wut auf meinen Ex-Mann, meine Erziehung, die Wut auf mich selbst würden vergehen. Wenn ich es jetzt wagte. So wie ich Wolfgang die Stiegen hinunter gefolgt war, ohne weiter zu zögern. Ich musste die alten Räume zurück lassen.
Ich werde glücklich sein. Ich werde eine glückliche Ehe führen.
Die Chancen stehen höher als ein Lottogewinn. Wolfgang lacht, wenn er mich das sagen hört. Dann spielen wir doch auch Lotto, antwortet er und schauen wir, was passiert.

Also spielen wir.
 
A

aksapo

Gast
Deine Geschichte ist bezaubernd geschrieben, die Spannung hältst Du durch bis zum Schluß, die philsophischen Überlegungen passen ganz wunderbar in die Geschichte und der Inhalt an sich ist überraschend positiv.
Es war mir eine Freude, sie zu lesen.
Lg.Aksapo
 

Retep

Mitglied
Morgen multimind,

als ich die Länge deiner Geschichte sah, wollte ich schon aufhören zu lesen. Der Text hielt mich dann aber fest.
Nach erstem Lesen dachte ich, das kann nur eine Frau geschrieben haben, schaute dann in deinem Profil nach und sah, dass ich richtig lag.

Die Schreibidee finde ich gut.
Die Geschichte ist flüssig geschrieben, hat einen personalen Erzähler, eine sehr kurze Einleitung und eine Pointe am Schluss.Zwei Personen stehen im Mittelpunkt, du schilderst eine Situation, die durch starke Emotionen geprägt ist.Die Sprache ist dem Inhalt angemessen. Titel und Schluss passen.
Alles Kennzeichen einer gelungenen Kurzgeschichte.
Mich stört nur ein bisschen, dass sie so lang ist. Vielleicht zu lang?

Ich würde überlegen, was ich kürzen könnte, es gibt nach meiner Meinung etliche Stellen, die für deine Geschichte nicht notwendig sind.

Alles subjektiv.

Ich habe deine Geschichte gerne gelesen, habe mich amüsiert. Etliches steht zwischen den Zeilen.

Gruß

Retep
 

multimind

Mitglied
zu lange

Guten Tag Retep!

Vielen Dank für dein Kommentar und Feedback. "Zu lange" ist interessant. Falls du Zeit und Lust dazu hast, würde mich interessieren, was du kürzen würdest (es stimmt, dass einiges dabei ist, das nicht direkt mit der Geschichte zu tun hat. Einerseits denke ich, dass das "Fleisch an den Knochen der Geschichte" ist. Andererseits wäre es sicher interessant, ein kürzere Version auszuprobieren.)
 

Retep

Mitglied
Hallo multimind,

meine Vorschläge sind ziemlich subjektiv, lass dir deine schöne Geschichte nicht verbiegen. Manches müsstest du bei einer eventuellen Kürzung auch umformulieren.Ich denke, dass diese kleinen Kürzungen möglich sind.

Gruß

Retep

Dienstende

Wenn ich in der Zeitung von einer Frau lese, die ihren Mann umgebracht hat, denke ich: Das hätte ich sein können.

Dann sehe ich mich vor dem Richter stehen, eine Polizistin neben mir, meine Mutter heult hinten im Gerichtssaal, mein Vater stiert gerade aus, seine Kiefer treten hervor, gleich wird er losbrüllen.

[strike]„Hilde Hoffmann, haben Sie Ihren Mann getötet?“
„Nein, Herr Richter.“
„Haben Sie darüber nachgedacht, ihn zu töten?“
„Ja, Herr Richter. Viele Male. Tausende Male. Aber mein Mann hat in die Scheidung eingewilligt. Wenn nicht, hätte ich ihn umgebracht.“
„In Ordnung, Frau Hoffmann. Sie können gehen.“[/strike]
[strike]Denn [/strike]
ich habe niemanden umgebracht. Ich hatte das Standesamt. Das Standesamt hat mich gerettet.

Ich arbeite seit zwanzig Jahren hier. Wir sind fünf Frauen,

[strike]die leitende Standesbeamtin Margot Schirn, ihre Stellvertreterin, zwei andere Mitarbeiterinnen im Büro und ich.[/strike]

Wir sind alle geschieden.

[strike]Margot zum zweiten Mal. Sie sagt, sie würde nie behaupten, dass sie es nicht ein drittes Mal probiert. [/strike]

Unser berühmtester Stammkunde hat sechsmal bei uns geheiratet. Er kommt uns hin und wieder besuchen, erzählt gut gelaunt, dass es diesmal wirklich gut aussieht, in seinem Alter hofft er, dass er endlich zur Ruhe kommt. Er ist einundsechzig. Angesichts seiner statistischen Lebenserwartung bin ich skeptisch. Sechsmal habe ich es schon in seinen Augen gesehen: diesmal ist es richtig. Die Suche ist zu Ende.

Das Standesamt ist ein magischer Ort. Die schlichten Türen in die modernen Büros mögen unauffällig sein. Aber das Amtsgebäude ist eine Burg mitten in der Stadt, ockergelb und rot verputzt, abgehoben von allen anderen Gebäuden, ein säulenbewehrtes Entree, ein marmornes, mächtiges Stiegenhaus, marmorne Gedenktafeln. Der Verkehrslärm bleibt draußen.
Hier werden Geburt, Tod, Staatsangehörigkeit gemeldet, verzeichnet und aufbewahrt, hier beginnt und endet das amtliche Leben der Bürger seit 140 Jahren, das lässt niemanden unberührt, nicht die Angestellten, nicht die Menschen, die hier jeden Tag hereinkommen.

Hier wird geheiratet.

[strike]An Margot bewundere ich, dass sie die Zeremonien so abhält, dass man ihr vielleicht hin und wieder eine leichte Ironie oder Skepsis anmerkt, aber doch das Gefühl hat, sie glaubt an die Möglichkeit einer guten Ehe. Ich könnte das nicht.[/strike]

An viel zu vielen Tagen sieht man mir meine Frustration an, ich weiß es. Ich bin genervt. Genervt und zornig, wenn ich wieder ein etwas hysterisches Paar einweisen und beruhigen muss, die Ausweise der Trauzeugen einsammle, die Ringe nach vorne auf das silberne Ringtablett trage, in den Saal hinein, aus dem ein staatlich anerkanntes Ehepaar wieder heraus kommen wird.
Ich darf die Brautleute natürlich nicht zu auffällig taxieren, aber ein paar Blicke werfe ich schon, versuche, mir ein Bild zu machen. Immer wieder ist es ein glückliches Bild. Mir steigt der Neid hoch, ich kann es nicht ändern. Das Bild einer glücklichen Ehe, harmonisch und liebevoll miteinander alt werden, glückliche Kinder. Ein kurzer Blick auf wachsende Bäuche unter dem Hochzeitsgewand oder mitgeführte heraus geputzte Kleinkinder oder Kinderwagen.
Allerdings habe ich oft eher das Gefühl, es geht zu einem Begräbnis und nicht zu einer Eheschließung, so bedrückt und still ist es. Oder giftiger Streit, der finale Aggressionsdurchbruch nur mühevoll unterdrückt. Ich kann nicht behaupten, dass mich das dann freut. Es macht mich traurig.

Ich bemühe mich ja auch, ich versuche, zu lächeln, gelassener zu sein.
Es ist schwer. Wirklich schwer.

Es war schwer.

Denn jetzt ist es geschehen. Ich werde das Standesamt verlassen, nach zwanzig Jahren.

Ich war nervös und gereizt an diesem Tag, deswegen war ich schon im Stiegenhaus und sah das Brautpaar mit einer Handvoll Gästen die Treppe herauf kommen. Alle sahen angespannt und unglücklich aus, das wäre noch nichts Besonderes gewesen. Mein Blick blieb am Bräutigam hängen. An seinem Schnurrbart. Ein dunkler Schnurrbart, nicht ganz perfekt geschnitten, deswegen sah er über den hellen Lippen des Mannes irgendwie fröhlich aus, und an den Seiten ein bisschen traurig. Noch nie hat mich ein Schnurrbart interessiert. Diesen wollte ich sofort küssen. Der Mann sah mich an, ich erschrak. Sah man, was ich dachte? Er blickte wieder weg, auf seine Braut, sie kamen die letzten Stufen herauf.
Die Braut war nicht sehr groß und etwas mollig, wie ich es auch bin. Jemand hatte sie schlecht beraten, ihr blaues Kostüm war zu eng, sie wirkte hinein gepresst, bewegungsunfähig. Sie war stark überschminkt, ihre Miene bewegungslos, sie schwitzte, auf der Stirn und unter den Augen glänzte es. Es war Mai, der erste sonnige, heiße Tag seit langem.

Ich sehe so viele Hochzeiten, bei denen das offensichtliche Unglück schon bei der Tür mit herein kommt. Aber diesmal wollte ich eingreifen, aufschreien, dazwischen funken. „Bitte, heiratet nicht, das klappt doch nie, werdet anders glücklich!“ Mit der Gleichgültigkeit der letzten Jahre war es vorbei. Es lag an diesem Schnurrbart und den Augen darüber, die noch einmal über mich hinweg wanderten, als ich den Trauzeugen die Ausweise abnahm und mit ihnen ins Büro ging.
Den bürokratischen Akt vollzog ich mechanisch, keine noch so große Aufregung könnte diese Routine durchbrechen, nie ist mir hier auch nur der kleinste Fehler passiert. Aber schon als ich Brautpaar und Gäste zur Aufstellung in den kleinen Saal vor dem Festsaal bat, merkte ich, wie heftig mein Herz pochte. Ich wusste, ich konnte nicht in das Büro zurück gehen.
Beim Einzug gab es keine Musik. Ich kann den Hochzeitsmarsch eigentlich schon nicht mehr hören (oder „I just called to say I love you“, das so viele als Alternative auswählen), aber an diesem Tag dachte ich: wenn sie wenigstens Musik hätten. Dann wäre es vielleicht nicht ganz so schrecklich und verkrampft. Alle fünf oder sechs Gäste setzten sich getrennt voneinander in den Saal mit einer Bestuhlung für sechzig Personen. Zwei Frauen hüstelten. Sonst war es vollkommen still, bis die Standesbeamtin herein kam, gemessenen Schrittes, in rot-schwarzer Robe.
Selbst sie zögerte einen Moment. Ich sah ihren kurzen irritierten Blick auf das Paar und in den Saal.
Dann fasste sie sich und begann ihre kurze Rede.
„Liebes Brautpaar, liebe Gäste…“

Der Bräutigam, der bisher geradeaus gesehen hatte, wandte seinen Kopf jetzt zu den Fenstern an seiner Seite. Der Himmel strahlte königsblau, wolkenlos. Ich stellte mir vor, dass gerade ein Vogel vorbei flog. Dann rückte ein Sessel.
Der Bräutigam war aufgestanden. Er legte der Braut die Hand auf die Schulter, streichelte sie leicht. Sie bewegte sich nicht. Im Saal blieb es still, die Standesbeamtin schwieg.
Seine Stimme hallte etwas.
„Es tut mir leid. Aber ich gehe besser.“

Er drehte sich um, ging den Gang zwischen den sechzig Stühlen entlang. Als er den kleinen Saal betrat, wich ich etwas hinter den Türflügel zurück, aber er sah mich. Er sah mir in die Augen. Dann ging er hinaus.

Falls es in dem Saal irgendetwas zu hören gab, hörte ich es nicht. Ich fühlte mich wie in einem Tunnel, links und rechts nicht einmal ein Notausgang.
Ich ging aus dem kleinen Saal, zu den Treppen, ging hinunter, nicht zu schnell, nicht zu langsam, ich hatte keinerlei Zweifel in diesem Moment, keine Angst, aber auch keine Wahl.

Ich traf ihn vor dem Eingang, wir gingen ein Stück in die nächste Seitengasse hinein und dort noch einmal um die Ecke in ein kleines Gässchen, weg von den Katastrophen, die in Kürze zu erwarten waren.
„Wie heißen Sie?“ fragte er und lehnte sich an eine staubige Häuserwand.
„Hilde. Ihren Namen weiß ich ja. Wolfgang.“
„Die meisten nennen mich Wolf. Einsamer Wolf. Sie haben so etwas vermutlich schon erlebt.“
„Ich habe erlebt, dass Hochzeiten abgebrochen werden, ja. Aber ich bin sicher noch nie mit dem Bräutigam mit gegangen.“
„Ex-Bräutigam.“
„Ex-Bräutigam.“ Mein Herz klopfte wieder stärker.
„Sind Sie verheiratet, Hilde?“
„Nicht mehr.“
Er lachte kurz. „Und wollen es wohl auch nicht mehr sein.“
„So sicher bin ich mir da nicht. Die Frage ist, ob es wichtig ist.“
„Doch, ich glaube schon, dass es wichtig ist. Deswegen bin ich ja jetzt auch gegangen. Inge wird verletzt sein, natürlich, aber es wird sie nicht unglücklicher machen. Sie ist in einen anderen verliebt, schon lange, eine komplizierte Geschichte. Ich war die zweite Wahl. Das hätte es nicht weniger kompliziert gemacht.“
„Und sie war ihre erste Wahl?“
„Nein. Ich hatte Angst. Ich dachte, mir läuft die Zeit davon. Allein bleiben wollte ich nicht. An Glück habe ich nicht mehr geglaubt. Wie viele glückliche Menschen kennen Sie?“
Ich konnte die Frage schon deswegen nicht beantworten, weil ich immer seinen Schnurrbart ansah. Ich wollte mich so gerne an diesen Mann lehnen, seinen Körper spüren und zart diesen Schnurrbart berühren. Sehr lange hatte ich das nicht mehr gespürt, nicht mehr gewollt.

Wahrscheinlich würde ich gekündigt werden. Ich konnte natürlich sagen, der Bräutigam war kurz vor dem Zusammenbruch, ich hätte ihm helfen müssen – aber dass ich nicht schon längst wieder zurück war, dafür hatte ich keine Erklärung.
„Was wollen Sie jetzt machen?“ fragte ich.
„Nach Hause fahren. Einen Kaffee trinken, duschen und dann am Balkon ein Glas Wein trinken.“
Welche Aussicht er wohl von seinem Balkon hatte?
„Und Sie? Gehen wieder in Ihr Büro?“
„Ich weiß nicht. Ich glaube, ich begehe gerade eine schwere Dienstverfehlung.“
Er stieß sich von der Wand ab, richtete sich auf und sah mir in die Augen. Ganz leicht berührte sein Handrücken meinen Handrücken.
„Vielleicht sollten wir über unsere Verfehlungen erst morgen wieder nachdenken.“
„Eine gute Idee.“

Die Aussicht auf seinem Balkon ging über die Häuserdächer Richtung Wienerwald. Der Tag endete mit einem schimmernden Sonnenuntergang, dem in der Nacht ein leichter Regen folgte.
Ich gestand ihm, dass ich mich in seinen Schnurrbart verliebt hatte. Dass ich das Gefühl hatte, er sprach regelrecht zu mir.
„Mein Trauzeuge und meine Braut sagten, er muss weg für die Hochzeit. Er ist nie wirklich ordentlich. Auf den Fotos wird er komisch ausschauen. Er wird mich beim Küssen kitzeln, sagte Inge, und ich werde das Gesicht verziehen. Ich war schon knapp davor, ihn weg zu nehmen, aber dann konnte ich es nicht. Was für ein Glück.“
„Dass er beim Küssen kitzelt, stimmt“, sagte ich.

Sehr früh am Morgen erzählte er mir, dass er aus einem kleinen Dorf in der Steiermark stammte. Er hatte dort ein Haus geerbt. Schon lange wollte er dorthin zurück.
„Den Standesbeamten der Gemeinde kenne ich schon seit meiner Jugend. Er wird bald in Pension gehen. Aber noch gibt es ihn.“
Ich stellte mir eine Hochzeit vor. Nur Wolfgang, ich, zwei Trauzeugen aus dem Dorf und der steirische Standesbeamte. Danach ein Essen in einer Buschenschank, bei der Theke lief das Radio. Wir brauchten kein Fest, keine Blicke der anderen, keine Erwartungen. Bei irgendeinem Schlager tanzten wir.
Da wusste ich, dass ich das Standesamt hinter mir lassen konnte. Die Säulen, die Gänge, das Büro; die Frustration, die halb eingestandenen Hoffnungen, ich brauchte es nicht mehr. Die Wut auf meinen Ex-Mann, meine Erziehung, die Wut auf mich selbst würden vergehen. Wenn ich es jetzt wagte. So wie ich Wolfgang die Stiegen hinunter gefolgt war, ohne weiter zu zögern. Ich musste die alten Räume zurück lassen.
Ich werde glücklich sein. Ich werde eine glückliche Ehe führen.
Die Chancen stehen höher als ein Lottogewinn. Wolfgang lacht, wenn er mich das sagen hört. Dann spielen wir doch auch Lotto, antwortet er und schauen wir, was passiert.

Also spielen wir.
 

multimind

Mitglied
kürzen

Guten Morgen retep!

Vielen Dank für deine Kürzungs-Ideen. Ich werde weiter damit experimentieren!

Gruß aus Wien
multimind
 



 
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