Dingsda und sein Kasperltheater

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Dingsda und sein Kasperltheater
-Ein satirisches Märchen-

Gut verborgen hinter hohen Schwarzwaldbergen und eingebettet in mehrere Täler, lag einst das sagenumwobene Land Dingsda, dessen Herrscher von Fürsten, Königen, selbst vom Kaiser beneidet wurde, denn er regierte lauter glückliche und zufriedene Untertanen. Diese arbeiteten sechs Tage in der Woche, aber am Samstagabend nahmen die Männer Besen und Schrupper zur Hand, die Landbewohner kehrten die Wege und Dorfstraßen, die Städter schruppten die Straßen und Trottoirs vor ihren Häusern auf Hochglanz und die Frauen polierten die ohnehin sauberen Fensterscheiben, bis sie sich darin spiegeln konnten.
Die Anwohner, die ihre Villen um das Münster herum am Schlossberg gebaut hatten, mussten ihr Straßenstück oder ihr Stück Bürgersteig nicht selber kehren, denn am Münsterplatz residierte der hochwürdige Herr Dompfarrer Frommherz, weiter oben am Berg stand das Schloss des Königs und zwischen dem Münsterplatz und dem Schlossberg wohnten der Kanzler, seine sechs Minister, sowie Herr Hofliterat Bünzle, Stadtschulze Tüchtig, Hofmarschall Schneidig, sowie der Schulleiter, Herr Oberlehrer Genius.
Obwohl weder der König, noch der Herr Dompfarrer oder sonst jemand dort oben je einen Besen in die Hand genommen hätte, waren die Straßen und Plätze am Schlossberg stets blitzblank gekehrt. Dafür sorgten Fritz und Otto, die dazu von der Stadt mit einer Schubkarre, Schaufeln, Besen und Uniformen ausgestattet waren, weshalb sie als königliche Beamte einen besonderen Diensteifer an den Tag legten. Zwischen dem Münster und dem Schlossberg lag der königliche Stadtpark, dort stand auch das prachtvolle Theater, auf dessen Bühne Herr Intendant Steinberger an jedem Sonntagnachmittag, ein Puppentheaterstück aufführte.
Dies war jedes Mal ein großes gesellschaftliches Ereignis in Dingsda, das niemand versäumen mochte. Herr Steinberger schnitzte die Figuren, die bei den Aufführungen gebraucht wurden, selbst und Frau Steinberger nähte die Kostüme dazu auf ihrer Nähmaschine. Die Puppen konnten ihre Arme und Füße bewegen, den Mund öffnen und schließen und sogar mit den Augen klimpern. Dass sie das konnten, verdankten sie Herrn Steinbergers Erfindungsreichtum und Geschicklichkeit. Seine Erfindungen wurden nur deshalb nie patentiert, weil es in Dingsda gar kein Patentamt gab.
Die Dialoge, welche die Puppen bei den Proben und Aufführungen redeten und die natürlich vom Ehepaar Steinberger hinter der Bühne gesprochen wurden, stammten allesamt aus der Feder des Herrn Hofliteraten Bünzle.
In den Stücken, die aufgeführt wurden, waren immer dabei: der Kaspar als Hauptperson, der Teufel, der Jäger, ein oder zwei Pferde, der König und ein Prinz, denen Herr Steinberger seine sonore Stimme lieh. Die weiblichen Figuren waren: eine Hexe, eine holde Fee, wowie die wunderschöne Prinzessin, und je nach der Handlung auch eine Gräfin, am wichtigsten war aber die Königin, für deren gesprochene oder gesungene Texte Frau Steinberger ihren Mund besonders kunstvoll spitzte. Hatte sie als Königin wieder einmal besonders schön gesungen, stand das anwesende Königspaar in seiner Loge auf, um laut Beifall zu spenden. Dann erhob sich auch das Publikum unten im Zuschauerraum, klatschte in die Hände und alle riefen: "bravo, bravo!"
Über Weihnachten, wenn das Ehepaar Steinberger Urlaub machte auf der Blümlisalp, kamen fremde Puppenspieler in die Stadt und führten die Geschichte der armen Genoveva auf, die von ihrem gräflichen Gatten verstoßen wurde. Die Frauen und Mädchen im Saal weinten dann immer, auch die Männer wischten sich verstohlen über die Augen. Dann ließen die Königin und die Prinzessin weiße Taschentüchlein im Saal verteilen. Sofort hörten die weiblichen Theatergäste auf zu weinen, sie schnäuzten sich ihre Nasen und steckten die Tüchlein ein. Herr Bünzle, der Hofliterat, ärgerte sich dabei jedes Mal, denn die Texte, die von den fremden Schaustellern gesprochen wurden, stammten nicht von ihm.
Wenn dann Frau und Herr Steinberger aus dem Urlaub zurückkehrten und hörten, dass sich der Bünzle wieder aufgeregt hatte, freuten sie sich heimlich, denn die Stücke aus der Feder des Hofliteraten, die sie immer spielen mussten, gefielen ihnen schon lange nicht mehr. Dabei war Herr Bünzle sehr fleißig und schrieb jeden Monat ein neues Stück, aber die Handlung darin blieb stets fast gleich.
Einmal ritt die Prinzessin sorglos über eine Blumenwiese, obwohl der Kasper sie dringend davor gewarnt hatte, begegnete aber dort prompt dem bösen Teufel und dem Jäger, beide entführten sie in den dunklen Wald, wo ein Drachen hauste. Zum Glück erschien dann im allerletzten Moment der Kasper und ein Prinz, die sie retteten und heimholten auf das Schloss ihres Vaters. Meist gab der dankbare König danach seine gerettete Tochter dem mutigen Prinzen zur Frau.
Im nächsten Stück verirrte sich die Prinzessin, die Pilze und Beeren sammeln wollte, auf den Waldwegen, weil die Wanderkarte, die sie mitführte, von der Hexe seitenverkehrt verhext war und weil die Prinzessin gar keine Karte lesen konnte. Als es Nacht wurde und die Prinzessin noch nicht zurück war, rief der Kasper die holde Fee herbei, die ihm beim Suchen half. Wieder heiratete die gerettete Prinzessin einen fremden Prinzen, mit dem sie glücklich ist, bis zur nächsten Aufführung.
An einem Abend, nach der Vorstellung, gingen Frau und Herr Steinberger noch ins Lokal "Bierhäusle", das ganz in der Nähe des Theaters stand, wo sie rein zufällig auf Herrn Stadtschreiber Wuschel trafen, der dort allein saß und trübsinnig seinen Feierabendschoppen trank. Karlo Wuschel war in der Stadtschreiberei tagsüber damit beschäftigt, Listen zu führen oder Protokolle über die wöchentlichen Ratsversammlungen zu schreiben.
Wenn das Stadtoberhaupt und die Räte nachher in seinen Protokollen lasen, wie viele kluge Dinge sie gesagt hatten, freuten sie sich sehr. Denn Herr Wuschel beherrschte die Kunst, aus den dümmsten Redebeiträgen gescheite Sätze zu formulieren und diese im Protokoll festzuhalten. Der Stadtschreiber war deshalb sehr beliebt bei den Ratsmitgliedern.
Ihm klagte nun das Ehepaar Steinberger sein Leid über die vielen schlechten Stücke, die Herr Hofrat Bünzle immerzu verfasste. Herr Wuschel, der fast keine Aufführung des Kasperltheaters versäumte, weil er Frau Steinberger heimlich verehrte, hatte das auch schon bemerkt und versprach den beiden, auch einmal ein Kasperltheaterstück zu schreiben. So stand er denn viele Wochen daheim an seinem Schreibpult und verfasste eine Komödie, welche die Kasperltheaterwelt verändert hätte, wäre sie je aufgeführt worden. Die Hauptrollen darin spielten der Fritz und der Otto, die den Münsterplatz sowie den Schlossberg alle Tage blitzblank fegten und dem Kaspar in dieser Komödie begeistert erzählten, was sie dort alles erlebten. Wie ihnen der gütige König im Sommer manchmal ein Bier spendiere oder im Winter einen Schnaps einschenke. Sie berichteten, dass ihnen die Königin im Herbst sogar warme Socken gestrickt habe und wie freundlich die Prinzessin zu ihnen sei. Und dass ihnen der böse Teufel einmal hundert Gulden dafür versprochen habe, dass sie den Dreck, den sie am Schlossberg zusammenkehrten, bei Nacht vor dem Eingang zum Schloss hinkippten, damit die Prinzessin, wenn sie spät heimkehre, darüber stolpere und aussehe, wie eine Hexe, und wie sie beide gegen alle Versuchungen standhaft blieben.
Diese Geschichte gefiel dem Kasperltheater-Intendanten so gut, dass er sofort begann, aus Lindenholz Fritz- und Otto-Puppen mit winzigen Schaufeln und Besen zu schnitzen.
Soweit wäre alles gut gegangen, hätten sich nicht acht Tage vor der Aufführung Frau Steinberger und Frau Genius zufällig beim Bäcker getroffen. Frau Steinberger hatte den unglückseligen Einfall, bei dieser Gelegenheit die kunstsinnige Dame samt ihrem Gatten zu der Erstaufführung der zeitkritischen Komödie "Den guten Besen erkennt man am Sti(e)l", einzuladen. Frau Genius bedankte sich artig für die versprochenen Freikarten und rannte auf dem Heimweg schnurstraks zu Frau Bünzle, um dieser die Neuigkeit mitzuteilen. Herr Bünzle begab sich zu Herrn Hofmarschall Schneidig, Herr Schneidig informierte den Schulzen und dieser berief umgehend eine nichtöffentliche Ratsitzung ein, allerdings, ohne Herrn Stadtschreiber Wuschel dazu einzuladen.
Schwere Entscheidungen mussten bei dieser Sitzung getroffen werden! Der Kanzler gab zu bedenken, dass die Würde des Königshauses Schaden nehmen würde, wenn Fritz und Otto womöglich interne und delikate Dinge an die Öffentlichkeit trügen. Marschall Schneidig, als Oberkommandierender der drei Gardisten, die im Schilderhäuschen vom dem Schlossportal abwechselnd Wache schoben, fürchtete das gedankenlose oder gar geplante Ausplaudern militärischer Geheimnisse von der offenen Bühne herunter. Herr Bünzle, den man als ausgewiesenen Fachmann hinzuzog, hielt eine leidenschaftliche Rede, in der er den versammelten Räten darlegte, wie sehr das Niveau der Stadt Dingsda sinken müsste, würde man die Bühne irgendwelchen Theaterdilettanten überlassen. "Denn hier", so schloss der Hofliterat sein Plädoyer, "hier handelt es sich um hohe Kunst und die Kunst ist eine heilige Sache, meine sehr verehrten Herren Räte!"
Die sehr verehrten Herren Räte beschlossen, dass ihr Theater vor solch fragwürdigen Experimenten bewahrt werden müsse. Stadtschulze Tüchtig vermutete, dass Schreiber Wuschel, den er menschlich sehr schätze, durch die Familie Steinberger zu dieser unüberlegten Tat angestiftet wurde. Er empfahl, den bisher unbescholtenen Stadtschreiber erst einmal für ein viertel Jahr zu beurlauben und ihn danach, bei gekürztem Gehalt, wieder zu beschäftigen. Dieser weise Vorschlag wurde einstimmig angenommen, genau so wurde beschlossen, das Ehepaar Steinberger zu entlassen und einen neuen Kasperltheater-Intendanten zu suchen.
Nach dieser Zeit ist wieder Ruhe eingekehrt in Dingsda. Das Ehepaar Steinberger hat die Stadt verlassen und Herr Bünzle hat zwei ganz neue Stücke verfasst, in denen sich die Prinzessin nicht erst im Wald, sondern bereits auf dem Weg zur Blumeninsel verirrt.
Herr Wuschel, der sich bei allen Ratsmitgliedern entschuldigte, sitzt wieder auf seinem Platz in der Stadtschreiberei und verfasst Listen und Protokolle. Allerdings hat er beantragt, dass man ihn vorzeitig pensionieren möge.
"Ja, ja", sagte am Montagmorgen Herr Oberlehrer Genius zu seinen Achtklässlern, "so enden einmal alle schlimmen Taten!"
 



 
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