DasKatastrophenprinzip
Mitglied
Dmitry Michailowitsch Yusov
„Nun geben sie es schon zu: Sie wissen was wir von ihnen hören wollen. Zieren sie sich doch nicht so lange. Ein Geständnis würde uns die Arbeit erheblich erleichtern und glauben sie mir: Es wäre das Beste für sie. Ein Geständnis könnte ihnen ein paar Jahre ersparen; wertvolle Jahre, die sie mit ihrer Familie verbringen könnten, anstatt sich auf Alpha 3 zu Tode zu schuften.“
„Ich sagte ihnen bereits, ich habe keine Ahnung wovon sie eigentlich reden.“
„Immer die gleiche schnöde Leier: Ich weiß nicht wovon sie reden! Was mache ich eigentlich hier? Ich will einen Anwalt!
Sie sind hier nicht bei der Polizei mein Guter, wir spaßen nicht.“
„Schön, sie können kursiv sprechen. Ich bin beeindruckt. Aber lassen sie es mich anders ausdrücken: Ich kann ihnen nicht helfen.“
Wumm.
Yusov krachte zu Boden. Seinen Unterkiefer wieder in die richtige Position knackend setze er sich auf und ein beißender Schmerz züngelte über seine Schulter.
„Wieso immer auf die rechte Seite, die Schulter ist schon ganz mürbe, kann er mich nicht mal nach links schleudern?“
Sein Gegenüber rieb sich die Faust und schaute zufrieden.
„Verstehen sie jetzt was ich meine? Wir möchten ganz dringend wissen, wie es zu diesem Ausbruch gekommen ist. Ihre Informationen sind sehr wichtig für uns, ich bitte sie also nochmal höflichst um ihre Mitarbeit.“
Yusov rieb sich die wunde Schulter und zuckte mit den Achseln.
„Ich würde ihnen wirklich sehr gerne helfen. Ehrlich. Aber ich weiß leider gar nichts. Und damit meine ich: Gar nichts. Ich möchte es ihnen noch einmal in aller Ruhe erklären: Mein Gedächtnis wurde gelöscht und das gründlich. So gründlich, dass ich froh bin, noch zu wissen wie man sich den Arsch abwischt. Verstehen sie? Ich kenne meinen Namen und meine Adresse, meinen Beruf und meine Vergangenheit in groben Zügen, weil alles auf meinem Chip gespeichert ist. Über die letzten Wochen weiß ich aber nichts mehr. Sie dürfen gerne weiter auf mich einprügeln, vielleicht kommt mein Gedächtnis dadurch wieder, dafür wäre ich ihnen sogar dankbar; aber machen wir uns nichts vor: Die waren sehr gründlich. Ich glaube ihnen ja. Mein Kopf enthielt vor einigen Wochen sicherlich noch all ihre heißgeliebten Informationen, jetzt aber ist er so leer wie der Schädel eines Neugeborenen.“
Wumm.
Wieder krachte er auf die rechte Schulter.
„Vielleicht sollte ich die Linke Seite besser zur Geltung bringen. Er könnte sich versucht fühlen, meine gute Seite auch noch zu Brei zu schlagen.“
Yusov fühlte warmes Blut über seine Wange laufen, oder waren es Tränen? Kurzer Check: Nein Blut.
„Mein verehrter Herr Meyer, Ferdinand, so gerne ich ihnen behilflich wäre: Ich weiß wirklich nichts. Wir können noch die ganze Woche so weiter machen: Ich bin dazu gemacht worden, diese Art von Verhör, ohne mit der Wimper zu zucken, zu überstehen; alle Wissenschaftler bekommen diese Ausbildung und das wissen sie. Dieses besondere Talent lässt sich auch nicht so einfach löschen, sie wissen Konditionierung und so. Was wollen sie also noch? Sie können mir die Finger abschneiden. Einzeln. So würde ich vorgehen. Aber glauben sie mir, das bringt gar nichts. Sehen sie, die meisten sind bereits ausgetauscht. Sie sind demnach nicht der erste, der mit mir dieses Gespräch führt.“
Yusov winkte mit den Fingern der rechten Hand, von denen drei nicht seine eigenen waren und auch untereinander nicht zusammenpassten: Der Ringfinger stammte ganz offensichtlich von einer Frau. Sogar der Nagel war noch blassrosa lackiert. Schlampige Arbeit, die noch nicht sehr weit zurück liegen konnte. Von einem Laien durchgeführt, in einem dieser Hinterhof-Labore, die für wenig Geld operieren und keine Fragen stellen.
Meyer grinste zufrieden.
„Ich danke ihnen! Yusov, danke für ihre Kooperation. Wir haben was wir brauchen, sie können gehen.“
Yusov verstand gar nichts mehr. Er durfte gehen, wieso? Er hatte doch gar nichts erzählt, so einfach ließ man ihn jetzt fort? Am Eingang holte er seine Sachen ab: Er musste lediglich ein paar Papiere unterzeichnen, seine Fingerabdrücke abgeben und einen Retinascan machen. Dann stand er plötzlich wieder auf der Straße.
„Und sie sind sich absolut sicher, dass er lügt?“
„Wie gedruckt. Seine Signatur zeigt, dass sein Gedächtnis noch nie angerührt wurde. Es ist wie bei einer Jungfrau: Das erste Mal hinterlässt Spuren. Spuren, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen. Wäre sein Gedächtnis früher bereits manipuliert worden, könnte ich nicht mit Sicherheit sagen ob es in jüngerer Zeit gelöscht wurde oder nicht. Der Zeitpunkt lässt sich nicht bestimmen. Aber wie gesagt, sein Gehirn ist absolut jungfräulich.“
„Scheiß Wissenschaftler, aus denen ist nichts rauszukriegen. Wie steht er die Verhöre nur durch, wenn sein Schmerzzentrum noch intakt ist? Sie sagen, sein Gehirn sei jungfräulich. Dann verstehe ich nicht warum ihn das alles so kalt lässt. Ob er wirklich nichts weiß? Aber warum lügt er dann?“
„Er ist dazu trainiert worden physische und psychische Qualen zu ertragen. Er wurde allerdings nicht, wie heute üblich, operativ konditioniert sondern nach der alten Methode. Vielleicht hilft ihnen das; heute werden nicht mehr viele auf die alte Art bearbeitet. Zudem ist es von Nutzen, das Gehirn möglichst früh zu entjungfern, wenn sie verstehen.“
„Hmm, immerhin haben wir den Fingerabdruck. Die Augen sahen mir auch gebraucht aus. Passten nicht zum Rest, viel zu schön. Mal sehen was unsere Datenbank hergibt. Holen sie mir Wang, ich brauche seine schnellen Finger.“
Yusov war müde und hungrig. Seine Schulter schmerzte. Er ging geradewegs auf der gegenüberliegenden Straßenseite in eine Suppenküche und bestellte eine kräftige Hühnersuppe mit Nudeln. Ein paar Augenblicke später bereute er seine Wahl. Die drei neuen Finger wollten sich seinem Willen nicht unterwerfen und es gelang ihm kaum, die schleimigen Nudeln mit den Stäbchen zu packen. Schließlich stürzte er sich die heiße Mahlzeit direkt aus der Schüssel in die Kehle.
„Na, so hungrig?“
Ein unangenehm aussehender Hüne platzierte sich neben Yusov auf der kleinen Holzbank. Dieser nahm ruhig das feuchte Handtuch, das neben seiner Schüssel ruhte, und wischte sich die Finger und den Mund.
„Sollen wir los?“
„Gerne“, der Hüne lächelte einfühlsam, „aber trinken sie ruhig noch ihren Tee, sie werden es brauchen“.
Nachdem der Hüne ihn in einem großen, gläsernen Gebäude ablieferte, führte man Yusov mit verbundenen Augen kreuz und quer durch verschiedene Etagen, vermutlich um ihn durcheinander zu bringen oder einfach nur so zum Spaß. Schließlich entledigte man ihn der Augenbinde und entließ ihn in einen, wie üblich unmöblierten, kalt-weißen Raum.
Yusov sah sich interessiert um. Keine Spiegelwand kein Stuhl, das war neu. Diesmal wird es dauern bis jemand zur Befragung auftaucht. Yusov setzte sich auf den Boden und sofort zuckte ein heftiger Stromstoß durch seine Backen. Er sprang auf und musste lachen: „Natürlich darf ich mich nicht hinsetzen.“
Ohne Anhaltspunkte fiel es ihm schwer die vergangene Zeit abzuschätzen. Stunden. Vielleicht einen halben Tag lief er im Raum umher. Bald hatte er festgestellt, dass die Wände ebenfalls elektrisch geladen sind. So lief er, die Arme hinter seinem Rücken verschränkt, im Zimmer seine Runden. Eigentlich war er ganz froh über die Bewegung, die letzten Tage brachte er überwiegend sitzend, manchmal hängend zu.
Endlich ging die Tür auf und ein bieder ausschauender, hagerer Mann betrat den Raum. Ein Lakai brachte zwei Stühle. Kurzer Check, die Wände waren nicht mehr elektrisch.
„Herr Yusov.“
„Nennen sie mich doch Dmitry.“
„Dmitry, sie wissen warum wir hier zusammen gekommen sind?“
„Nein, das weiß ich ganz und gar nicht. Ich wurde hierher gebracht und laufe seit Stunden meine Runden. Im Übrigen muss ich Pinkeln.“
„Dmitry, wir sollten offen miteinander sprechen: Sagen sie mir was sie wissen und sie dürfen Pinkeln gehen und bekommen noch ein kühles Bier dazu.“
Yusov lachte laut und schallend.
„Wir beide wissen: Soweit wird es nicht kommen. Ich werde ihnen nicht sagen was sie hören wollen, weil ich nichts weiß. Deshalb werden sie mich foltern, weil sie mir nicht glauben.“
„Mein lieber Dmitry, ich habe nicht vor sie zu foltern: Ich weiß, dass sie als Wissenschaftler speziell für solche Befragungen ausgebildet wurden, darüber hinaus ist es nicht unser Stil; wir sind nicht die Polizei. Nein wir gehen einen anderen Weg, wir hängen sie auf, mein Bester. Sie packen aus oder sie werden eingetütet. So sieht es aus, ganz einfach.“
„Schön“, Dmitry lehnte sich in seinem Stuhl zurück, „endlich mal jemand, der Tacheles redet. Mir gefällt ihr Ansatz, lieber …“
„Nennen sie mich Tom“,
„ … Tom. Ihre Klarheit imponiert mir, ich würde ihnen zu gerne helfen aber wie ich ihren Kollegen bereits sagte: Ich weiß wirklich gar nichts.“
So ging es noch eine Zeit lang weiter. In der Zwischenzeit hatte Dmitry in die Hose gepinkelt und seine Zunge hatte sich auf der Suche nach Wasser an seinem Gaumen festgesogen. Tom ging nach einer Weile, der Lakai nahm die Stühle mit. Stunden später, als seine Kraft langsam nachließ und er immer wieder auf den elektrischen Boden plumpste, kam ein neuer Hüne und trug ihn in einen anderen Raum, in dem ein lächerlich anmutender Galgen stand. Aus Holz. Dmitry lachte. Schön, ein Galgen also. Der Hüne, jetzt Henker, legte den Strick an und stellte Yusov auf einen kleinen Hocker.
Tom betrat den Raum: „Irgendwelche letzten Worte?“
„Nein.“
Und der Henker trat unter den Hocker.
Eine gefühlte Ewigkeit später stand Yusov auf der Straße. Seine Hose stank nach Pisse, sein Hemd nach Schweiß und sein Atem roch irgendwie giftig. Natürlich haben sie ihn nicht umgebracht. Hohe Summen sind für seine angeblichen Informationen geflossen, es gäbe sicherlich großen Ärger, wenn eine Partei ihn umbrächte bevor nicht alle einmal dran waren. Er schlurfte um die Ecke, da stand sein Hüne bereits und wartete.
„Wie, diesmal keine Henkersmahlzeit?“
„Leider nein, keine Zeit.“
„Gut, gehen wir.“
„Dmitry Yusov. Wir wissen, dass sie mit Selma Borlais eine sexuelle Beziehung pflegen. Wir wissen, dass eben diese Selma Borlais einem gewissen Simon Perish beim Ausbruch aus dem Hochsicherheitstrakt von Alpha 3 half. Was wir nicht wissen, wer hat Selma noch alles geholfen und wie ist es ihr gelungen, die Sicherheitssperren zu umgehen. Dieser Perish ist ein übler Bursche. Er ist der geistige Führer der zurzeit mächtigsten Terrororganisation weltweit, ist ihnen das eigentlich klar?“
Dmitry schwieg. Er war es müde immer und immer die gleichen Sätze zu wiederholen. Nein er hatte keine Beziehung zu einer Selma sowieso. Nein er hat niemandem geholfen und diesen Perish kannte er nicht.
Mit einem entfernt klingenden Knacken brach sein linker Zeigefinger. Der Letzte. Dmitry flossen Tränen über die Wangen, aber er schwieg. Sein Gegenüber schaute verzweifelt. Er braucht dringend diese Informationen, schließlich hatte er gut dafür bezahlt. Er musste seinem Boss was liefern, sonst bekäme er Ärger, sonst brächen seine Finger.
„Dmitry, so helfen sie mir doch. Was haben sie schon zu verlieren? Ihre Finger sind schon mehrfach gebrochen, sie sehen aus wie ein zu Schunden gerittener Gaul; wenn wir sie nicht bald gehen lassen, werden sie auch die besten Operateure nicht mehr ordentlich zusammenflicken können. Sie werden neue Finger brauchen und wir wissen doch beide: So gut wie die alten werden die nicht. Und wenn sie alle Finger ersetzt haben werden, was wollen sie zukünftig tun? Sind sie als Wissenschaftler nicht angewiesen auf ihre Hände? Besonders als Geologe.“
„Ich bin doch kein Geologe“, dachte Dmitry, „ich bin Anthropologe“.
„Wie haben sie es angestellt? Welche Informationen haben sie Selma Borlais gegeben? Wer hat ihnen noch geholfen“
„Scheiß Anfänger, stellt zu viele Fragen, wartet keine Antwort ab, bricht lieber Finger.“
„Dmitry, so reden sie doch, machen sie es uns nicht so schwer.“
Yusov schwieg beharrlich. Derweil überlegte er, zu welchem Operateur er wegen seiner Hand gehen sollte. Wenn er zuerst den Umschlag bekäme, könnte er diesmal in ein Krankenhaus gehen.
Die Befragung dauerte an, seine linke Hand schwoll bedrohlich und seine inneren Organe litten unter den Schlägen. Langsam sorgte sich Dmitry: „Ich bin zu alt für diesen Scheiß.“
„Ich verliere die Geduld. Dmitry. Guter Dmitry, was sollen wir mit ihnen machen.
Dmitry! Dmitry Michailowitsch Yusov“
An dieser Stelle unterbrach Dmitry zum ersten Mal: „Michailowitsch? Ich heiße nicht Michailowitsch. Mein Name ist Petrowitsch, Dmitry Petrowitsch Yusov ist mein Name!“
„Das ist vollkommen unmöglich.“
„Lesen sie meinen Chip, machen sie eine DNA-Analyse, ich bin Dmitry Petrowitsch und niemand anderes.“
Zwei Stunden später stand er wieder auf der Straße.
An der gewohnten Stelle entnahm er den Umschlag einem leeren Briefkasten. Diesmal war er besonders prall. Dmitry gönnte sich eine Generalüberholung im städtischen Krankenhaus, mit Übernachtung, kleidete sich neu und machte er sich auf den Weg zu seinem Lieblingslokal. An der Straßenkreuzung gegenüber stand an der Ampel sein Hüne. Dmitry entzündete eine Zigarette und gesellte sich dazu.
„Schon wieder?“
„Nein, ich habe Feierabend.“
„So früh, es ist erst vier Uhr.“
Der Hüne zuckte die Achseln: „Ich bin nur der Lieferant. Und sie, schon fertig?“
Yusov zuckte ebenfalls mit den Achseln: „Ich? Ich bin nur der Köder. Kommen sie: Ich lade sie ein.“
„Nun geben sie es schon zu: Sie wissen was wir von ihnen hören wollen. Zieren sie sich doch nicht so lange. Ein Geständnis würde uns die Arbeit erheblich erleichtern und glauben sie mir: Es wäre das Beste für sie. Ein Geständnis könnte ihnen ein paar Jahre ersparen; wertvolle Jahre, die sie mit ihrer Familie verbringen könnten, anstatt sich auf Alpha 3 zu Tode zu schuften.“
„Ich sagte ihnen bereits, ich habe keine Ahnung wovon sie eigentlich reden.“
„Immer die gleiche schnöde Leier: Ich weiß nicht wovon sie reden! Was mache ich eigentlich hier? Ich will einen Anwalt!
Sie sind hier nicht bei der Polizei mein Guter, wir spaßen nicht.“
„Schön, sie können kursiv sprechen. Ich bin beeindruckt. Aber lassen sie es mich anders ausdrücken: Ich kann ihnen nicht helfen.“
Wumm.
Yusov krachte zu Boden. Seinen Unterkiefer wieder in die richtige Position knackend setze er sich auf und ein beißender Schmerz züngelte über seine Schulter.
„Wieso immer auf die rechte Seite, die Schulter ist schon ganz mürbe, kann er mich nicht mal nach links schleudern?“
Sein Gegenüber rieb sich die Faust und schaute zufrieden.
„Verstehen sie jetzt was ich meine? Wir möchten ganz dringend wissen, wie es zu diesem Ausbruch gekommen ist. Ihre Informationen sind sehr wichtig für uns, ich bitte sie also nochmal höflichst um ihre Mitarbeit.“
Yusov rieb sich die wunde Schulter und zuckte mit den Achseln.
„Ich würde ihnen wirklich sehr gerne helfen. Ehrlich. Aber ich weiß leider gar nichts. Und damit meine ich: Gar nichts. Ich möchte es ihnen noch einmal in aller Ruhe erklären: Mein Gedächtnis wurde gelöscht und das gründlich. So gründlich, dass ich froh bin, noch zu wissen wie man sich den Arsch abwischt. Verstehen sie? Ich kenne meinen Namen und meine Adresse, meinen Beruf und meine Vergangenheit in groben Zügen, weil alles auf meinem Chip gespeichert ist. Über die letzten Wochen weiß ich aber nichts mehr. Sie dürfen gerne weiter auf mich einprügeln, vielleicht kommt mein Gedächtnis dadurch wieder, dafür wäre ich ihnen sogar dankbar; aber machen wir uns nichts vor: Die waren sehr gründlich. Ich glaube ihnen ja. Mein Kopf enthielt vor einigen Wochen sicherlich noch all ihre heißgeliebten Informationen, jetzt aber ist er so leer wie der Schädel eines Neugeborenen.“
Wumm.
Wieder krachte er auf die rechte Schulter.
„Vielleicht sollte ich die Linke Seite besser zur Geltung bringen. Er könnte sich versucht fühlen, meine gute Seite auch noch zu Brei zu schlagen.“
Yusov fühlte warmes Blut über seine Wange laufen, oder waren es Tränen? Kurzer Check: Nein Blut.
„Mein verehrter Herr Meyer, Ferdinand, so gerne ich ihnen behilflich wäre: Ich weiß wirklich nichts. Wir können noch die ganze Woche so weiter machen: Ich bin dazu gemacht worden, diese Art von Verhör, ohne mit der Wimper zu zucken, zu überstehen; alle Wissenschaftler bekommen diese Ausbildung und das wissen sie. Dieses besondere Talent lässt sich auch nicht so einfach löschen, sie wissen Konditionierung und so. Was wollen sie also noch? Sie können mir die Finger abschneiden. Einzeln. So würde ich vorgehen. Aber glauben sie mir, das bringt gar nichts. Sehen sie, die meisten sind bereits ausgetauscht. Sie sind demnach nicht der erste, der mit mir dieses Gespräch führt.“
Yusov winkte mit den Fingern der rechten Hand, von denen drei nicht seine eigenen waren und auch untereinander nicht zusammenpassten: Der Ringfinger stammte ganz offensichtlich von einer Frau. Sogar der Nagel war noch blassrosa lackiert. Schlampige Arbeit, die noch nicht sehr weit zurück liegen konnte. Von einem Laien durchgeführt, in einem dieser Hinterhof-Labore, die für wenig Geld operieren und keine Fragen stellen.
Meyer grinste zufrieden.
„Ich danke ihnen! Yusov, danke für ihre Kooperation. Wir haben was wir brauchen, sie können gehen.“
Yusov verstand gar nichts mehr. Er durfte gehen, wieso? Er hatte doch gar nichts erzählt, so einfach ließ man ihn jetzt fort? Am Eingang holte er seine Sachen ab: Er musste lediglich ein paar Papiere unterzeichnen, seine Fingerabdrücke abgeben und einen Retinascan machen. Dann stand er plötzlich wieder auf der Straße.
„Und sie sind sich absolut sicher, dass er lügt?“
„Wie gedruckt. Seine Signatur zeigt, dass sein Gedächtnis noch nie angerührt wurde. Es ist wie bei einer Jungfrau: Das erste Mal hinterlässt Spuren. Spuren, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen. Wäre sein Gedächtnis früher bereits manipuliert worden, könnte ich nicht mit Sicherheit sagen ob es in jüngerer Zeit gelöscht wurde oder nicht. Der Zeitpunkt lässt sich nicht bestimmen. Aber wie gesagt, sein Gehirn ist absolut jungfräulich.“
„Scheiß Wissenschaftler, aus denen ist nichts rauszukriegen. Wie steht er die Verhöre nur durch, wenn sein Schmerzzentrum noch intakt ist? Sie sagen, sein Gehirn sei jungfräulich. Dann verstehe ich nicht warum ihn das alles so kalt lässt. Ob er wirklich nichts weiß? Aber warum lügt er dann?“
„Er ist dazu trainiert worden physische und psychische Qualen zu ertragen. Er wurde allerdings nicht, wie heute üblich, operativ konditioniert sondern nach der alten Methode. Vielleicht hilft ihnen das; heute werden nicht mehr viele auf die alte Art bearbeitet. Zudem ist es von Nutzen, das Gehirn möglichst früh zu entjungfern, wenn sie verstehen.“
„Hmm, immerhin haben wir den Fingerabdruck. Die Augen sahen mir auch gebraucht aus. Passten nicht zum Rest, viel zu schön. Mal sehen was unsere Datenbank hergibt. Holen sie mir Wang, ich brauche seine schnellen Finger.“
Yusov war müde und hungrig. Seine Schulter schmerzte. Er ging geradewegs auf der gegenüberliegenden Straßenseite in eine Suppenküche und bestellte eine kräftige Hühnersuppe mit Nudeln. Ein paar Augenblicke später bereute er seine Wahl. Die drei neuen Finger wollten sich seinem Willen nicht unterwerfen und es gelang ihm kaum, die schleimigen Nudeln mit den Stäbchen zu packen. Schließlich stürzte er sich die heiße Mahlzeit direkt aus der Schüssel in die Kehle.
„Na, so hungrig?“
Ein unangenehm aussehender Hüne platzierte sich neben Yusov auf der kleinen Holzbank. Dieser nahm ruhig das feuchte Handtuch, das neben seiner Schüssel ruhte, und wischte sich die Finger und den Mund.
„Sollen wir los?“
„Gerne“, der Hüne lächelte einfühlsam, „aber trinken sie ruhig noch ihren Tee, sie werden es brauchen“.
Nachdem der Hüne ihn in einem großen, gläsernen Gebäude ablieferte, führte man Yusov mit verbundenen Augen kreuz und quer durch verschiedene Etagen, vermutlich um ihn durcheinander zu bringen oder einfach nur so zum Spaß. Schließlich entledigte man ihn der Augenbinde und entließ ihn in einen, wie üblich unmöblierten, kalt-weißen Raum.
Yusov sah sich interessiert um. Keine Spiegelwand kein Stuhl, das war neu. Diesmal wird es dauern bis jemand zur Befragung auftaucht. Yusov setzte sich auf den Boden und sofort zuckte ein heftiger Stromstoß durch seine Backen. Er sprang auf und musste lachen: „Natürlich darf ich mich nicht hinsetzen.“
Ohne Anhaltspunkte fiel es ihm schwer die vergangene Zeit abzuschätzen. Stunden. Vielleicht einen halben Tag lief er im Raum umher. Bald hatte er festgestellt, dass die Wände ebenfalls elektrisch geladen sind. So lief er, die Arme hinter seinem Rücken verschränkt, im Zimmer seine Runden. Eigentlich war er ganz froh über die Bewegung, die letzten Tage brachte er überwiegend sitzend, manchmal hängend zu.
Endlich ging die Tür auf und ein bieder ausschauender, hagerer Mann betrat den Raum. Ein Lakai brachte zwei Stühle. Kurzer Check, die Wände waren nicht mehr elektrisch.
„Herr Yusov.“
„Nennen sie mich doch Dmitry.“
„Dmitry, sie wissen warum wir hier zusammen gekommen sind?“
„Nein, das weiß ich ganz und gar nicht. Ich wurde hierher gebracht und laufe seit Stunden meine Runden. Im Übrigen muss ich Pinkeln.“
„Dmitry, wir sollten offen miteinander sprechen: Sagen sie mir was sie wissen und sie dürfen Pinkeln gehen und bekommen noch ein kühles Bier dazu.“
Yusov lachte laut und schallend.
„Wir beide wissen: Soweit wird es nicht kommen. Ich werde ihnen nicht sagen was sie hören wollen, weil ich nichts weiß. Deshalb werden sie mich foltern, weil sie mir nicht glauben.“
„Mein lieber Dmitry, ich habe nicht vor sie zu foltern: Ich weiß, dass sie als Wissenschaftler speziell für solche Befragungen ausgebildet wurden, darüber hinaus ist es nicht unser Stil; wir sind nicht die Polizei. Nein wir gehen einen anderen Weg, wir hängen sie auf, mein Bester. Sie packen aus oder sie werden eingetütet. So sieht es aus, ganz einfach.“
„Schön“, Dmitry lehnte sich in seinem Stuhl zurück, „endlich mal jemand, der Tacheles redet. Mir gefällt ihr Ansatz, lieber …“
„Nennen sie mich Tom“,
„ … Tom. Ihre Klarheit imponiert mir, ich würde ihnen zu gerne helfen aber wie ich ihren Kollegen bereits sagte: Ich weiß wirklich gar nichts.“
So ging es noch eine Zeit lang weiter. In der Zwischenzeit hatte Dmitry in die Hose gepinkelt und seine Zunge hatte sich auf der Suche nach Wasser an seinem Gaumen festgesogen. Tom ging nach einer Weile, der Lakai nahm die Stühle mit. Stunden später, als seine Kraft langsam nachließ und er immer wieder auf den elektrischen Boden plumpste, kam ein neuer Hüne und trug ihn in einen anderen Raum, in dem ein lächerlich anmutender Galgen stand. Aus Holz. Dmitry lachte. Schön, ein Galgen also. Der Hüne, jetzt Henker, legte den Strick an und stellte Yusov auf einen kleinen Hocker.
Tom betrat den Raum: „Irgendwelche letzten Worte?“
„Nein.“
Und der Henker trat unter den Hocker.
Eine gefühlte Ewigkeit später stand Yusov auf der Straße. Seine Hose stank nach Pisse, sein Hemd nach Schweiß und sein Atem roch irgendwie giftig. Natürlich haben sie ihn nicht umgebracht. Hohe Summen sind für seine angeblichen Informationen geflossen, es gäbe sicherlich großen Ärger, wenn eine Partei ihn umbrächte bevor nicht alle einmal dran waren. Er schlurfte um die Ecke, da stand sein Hüne bereits und wartete.
„Wie, diesmal keine Henkersmahlzeit?“
„Leider nein, keine Zeit.“
„Gut, gehen wir.“
„Dmitry Yusov. Wir wissen, dass sie mit Selma Borlais eine sexuelle Beziehung pflegen. Wir wissen, dass eben diese Selma Borlais einem gewissen Simon Perish beim Ausbruch aus dem Hochsicherheitstrakt von Alpha 3 half. Was wir nicht wissen, wer hat Selma noch alles geholfen und wie ist es ihr gelungen, die Sicherheitssperren zu umgehen. Dieser Perish ist ein übler Bursche. Er ist der geistige Führer der zurzeit mächtigsten Terrororganisation weltweit, ist ihnen das eigentlich klar?“
Dmitry schwieg. Er war es müde immer und immer die gleichen Sätze zu wiederholen. Nein er hatte keine Beziehung zu einer Selma sowieso. Nein er hat niemandem geholfen und diesen Perish kannte er nicht.
Mit einem entfernt klingenden Knacken brach sein linker Zeigefinger. Der Letzte. Dmitry flossen Tränen über die Wangen, aber er schwieg. Sein Gegenüber schaute verzweifelt. Er braucht dringend diese Informationen, schließlich hatte er gut dafür bezahlt. Er musste seinem Boss was liefern, sonst bekäme er Ärger, sonst brächen seine Finger.
„Dmitry, so helfen sie mir doch. Was haben sie schon zu verlieren? Ihre Finger sind schon mehrfach gebrochen, sie sehen aus wie ein zu Schunden gerittener Gaul; wenn wir sie nicht bald gehen lassen, werden sie auch die besten Operateure nicht mehr ordentlich zusammenflicken können. Sie werden neue Finger brauchen und wir wissen doch beide: So gut wie die alten werden die nicht. Und wenn sie alle Finger ersetzt haben werden, was wollen sie zukünftig tun? Sind sie als Wissenschaftler nicht angewiesen auf ihre Hände? Besonders als Geologe.“
„Ich bin doch kein Geologe“, dachte Dmitry, „ich bin Anthropologe“.
„Wie haben sie es angestellt? Welche Informationen haben sie Selma Borlais gegeben? Wer hat ihnen noch geholfen“
„Scheiß Anfänger, stellt zu viele Fragen, wartet keine Antwort ab, bricht lieber Finger.“
„Dmitry, so reden sie doch, machen sie es uns nicht so schwer.“
Yusov schwieg beharrlich. Derweil überlegte er, zu welchem Operateur er wegen seiner Hand gehen sollte. Wenn er zuerst den Umschlag bekäme, könnte er diesmal in ein Krankenhaus gehen.
Die Befragung dauerte an, seine linke Hand schwoll bedrohlich und seine inneren Organe litten unter den Schlägen. Langsam sorgte sich Dmitry: „Ich bin zu alt für diesen Scheiß.“
„Ich verliere die Geduld. Dmitry. Guter Dmitry, was sollen wir mit ihnen machen.
Dmitry! Dmitry Michailowitsch Yusov“
An dieser Stelle unterbrach Dmitry zum ersten Mal: „Michailowitsch? Ich heiße nicht Michailowitsch. Mein Name ist Petrowitsch, Dmitry Petrowitsch Yusov ist mein Name!“
„Das ist vollkommen unmöglich.“
„Lesen sie meinen Chip, machen sie eine DNA-Analyse, ich bin Dmitry Petrowitsch und niemand anderes.“
Zwei Stunden später stand er wieder auf der Straße.
An der gewohnten Stelle entnahm er den Umschlag einem leeren Briefkasten. Diesmal war er besonders prall. Dmitry gönnte sich eine Generalüberholung im städtischen Krankenhaus, mit Übernachtung, kleidete sich neu und machte er sich auf den Weg zu seinem Lieblingslokal. An der Straßenkreuzung gegenüber stand an der Ampel sein Hüne. Dmitry entzündete eine Zigarette und gesellte sich dazu.
„Schon wieder?“
„Nein, ich habe Feierabend.“
„So früh, es ist erst vier Uhr.“
Der Hüne zuckte die Achseln: „Ich bin nur der Lieferant. Und sie, schon fertig?“
Yusov zuckte ebenfalls mit den Achseln: „Ich? Ich bin nur der Köder. Kommen sie: Ich lade sie ein.“