Doppelgrab

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Ralf Wasmuth las in der Zeitung immer die Todesanzeigen. Vera Wagenfuhrs kleine Anzeige, die bereits auf der Seite mit den Geburts- und Heiratsanzeigen stand, las er mehrere Male. Unerwartet und tragisch sei sie um ihr kurzes Leben gekommen. Ja. Er war dabei gewesen, hatte in den letzten Wochen viel von ihr geträumt, sie im Traum gerettet. Jetzt stand er als trauernder Hinterbliebener in der Zeitung. Ich werde immer bei dir sein, Ralf. Ohne Familienname. Angehörige hatte die Polizei nicht ausfindig machen können. Sie lebte dort im 39. Stock in einer Single-Wohnung. Vor drei Tagen wurde ihre Leiche endlich vom gerichtsmedizinischen Institut frei gegeben. Morgen wird sie beerdigt. Er hat alles arrangiert. Doch zur Beerdigung wird er nicht gehen.
In seiner Freizeit spaziert Ralf seit ihrem Tod auf Friedhöfen herum, liest Grabinschriften, errechnet anhand von Geburts- und Sterbedaten die Lebensdauer der Verstorbenen, rätselt vor allem herum, wie jung Verstorbene zu Tode gekommen sein mochten, vermutet Selbstmord oder Mord, nimmt auf Friedhofsbänken Platz, um über sein Leben nachzusinnen, genießt die Friedhofsruhe und sehnt sich immer öfter danach, endlich jene Ruhe genießen zu können, um die er alle, selbst die früh Verstorbenen, nach deren Ableben beneidet.
Sollte er irgendwann sterben, würde er sich gern, mit denen, die weiterleben müssen, darüber freuen, das Irdische hinter sich zu haben. Doch da er dann nicht mehr unter ihnen weilt, wird er diese Freude nicht mit ihnen teilen können.
Ralf lebt nicht ungern. Doch schon als Kind verstand er nicht, wieso die übliche Art zu leben erfreulich sein sollte. Als sie in der Volksschule im Religionsunterricht, die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies durchnahmen, wurde ihm schnell klar, Menschen seien dazu verdammt, im Schweiße ihres Angesichts zu arbeiten. Doch wie konnte das Leben in einer Art Arbeitslager ein glückliches sein?
Wenige Wochen, nachdem er ein Jahr eine Lehre als Tischler durchgehalten hatte, ließ er sich wegen Arbeitsverweigerung aus dem Lehrvertrag entlassen, genoss seine neu erworbene Freiheit und fühlte sich danach tatsächlich ein wenig wie im Paradies.
Eine Eva wollte er nicht kennen lernen. Die würde ihn doch nur zur Arbeit verführen.
So stand morgens allein auf, wenn seine Eltern, deren einziger Sohn er war, bereits ihrer Arbeit nachgingen, sah ein bisschen fern, schwang sich gegen Mittag aufs Fahrrad, fuhr in einem der nahe gelegenen Wälder herum, sonnte sich auf Lichtungen oder stellte sich bei Regen in Schutzhütten unter und las Zeitung. Kam er zurück, setzte er sich an den gedeckten Abendessenstisch, sah noch ein bisschen fern und ging ins Bett, wenn er müde war. Seine Eltern versuchten es im Guten wie im Bösen. Irgendwann, er war bereits zwanzig, glaubten sie, seine Vernunft habe doch noch gesiegt, da er bei einer Glasreinigungsfirma als Fensterputzer in einem so genannten Anlernverhältnis schon ein halbes Jahr ausgehalten hatte. Da er schwindelfrei ist, durfte er bereits kurz nach Beginn des neuen Arbeitsverhältnisses Hochhausfenster putzen. Von außen. Bei der Arbeit lässt er sich Zeit, genießt vor allem den Überblick, sieht auf winzige Menschen, Autos, Straßenbahnen, Häuser, Bäume und auf Friedhöfe.
Sven Müller, sein und Chef der Firma Glasklar, ist, da sie im Akkord arbeiten, mit Ralfs Arbeitsleistung nur bedingt zufrieden. Aber absolut schwindelfreie Fensterputzer sind schwer zu finden und so lässt er Ralf auch mit mäßiger Arbeitsleistung inzwischen schon im fünfzehnten Jahr gewähren. Ralf wiederum bemüht sich, so viele Fenster am Tag zu putzen, dass sein Chef gerade nicht oder allenfalls nur wenig meckern kann.
Bei seiner Arbeit ist er am liebsten allein, genießt nicht nur den Überblick sondern auch manchen Einblick in Büros, in denen offenbar auch nicht nur Arbeit angesagt ist, in Wohnungen, in denen gekocht, gelesen, gelegentlich geliebt wird und sich gar nicht so selten eine leicht bekleidete Frau schnell noch ihre leider nicht immer reizvollen Blößen bedeckt.
Es ist wunderbar, dem Leben von außen und oben zuzusehen, ohne dabei mitmachen zu müssen. Seine Eltern haben ihm im Dachgeschoss ihres Ein-Familien-Hauses eine kleine Wohnung eingerichtet. Er wohnt umsonst und zahlt wenig für das Essen, das ihm seine Mutter immer noch kocht. Den größten Teil seines Lohns zahlt er auf ein Sparkonto ein.

An einem Maimorgen vor gut drei Monaten, zwei Tage nach seinem fünfunddreißigsten Geburtstag, hatte er sich gerade gemächlich von der obersten Hochhausetage, der vierzigsten, zum Stockwerk tiefer vorgearbeitet.
Die Vorhänge hinter dem großflächigen Fenster waren nicht zugezogen. Eine Stehlampe gab schwaches Licht und erleichterte ihm nicht gerade, alles im Wohnzimmer zu erkennen. Auf einer Couch saß ein Mann, drehte Ralf den Rücken zu und beugte sich über eine neben ihm liegende Frau. Ihr knallrotes Kleid war hoch gerutscht. Plötzlich sah Ralf, dass der Mann die Frau würgte. Hilflos strampelte sie mit ihren schlanken Beinen. Ihr Körper wand sich, lag . schließlich ganz ruhig da. Der Mann würgte sie immer noch. Ralf schlug mit der Faust gegen die Fensterscheibe, trommelte gegen das Glas. Plötzlich sprang der Würger auf und verschwand durch die Zimmertür.
Angeschnallt saß Ralf in seinem offenen Fensterputzer-Lift, drückte den Aufwärtsknopf, hatte Mühe sich abzuschnallen, rannte auf dem Dach zum Abstieg in die oberste Etage, hastete zum Fahrstuhl, schlug mit der Faust auf den Abwärts-Knopf. Der Lift kam schnell. Hilet zum Glück nicht bei der Abwärtsfahrt. Im Erdgeschoss saß der Hausmeister in seiner Loge.
„Er hat sie erwürgt!“ schrie Ralf. Der Hausmeister hielt ihm einen Telefonhörer hin. „Hab schon die Polizeinummer gewählt!“
„Mord!“ schrie Ralf in den Hörer und gab auf Geheiß des Hausmeisters die Anschrift des Hochhauses durch.
„Ich schick einen Wagen raus.“ Ließ sich eine routinierte Stimme vernehmen.
Ralf gab den Hörer an den Hausmeister zurück. Der legte auf und begann ihn auszufragen. Ralf winkte ab und beobachtete jeden Mann, der an der Hausmeisterloge vorbei das Haus verließ. „Sie war sehr hübsch in ihrem roten Kleid. Sehr hübsch.“ murmelte er.
Endlich zuckte Blaulicht vor der Glastür des Hochhauses. Vier Polizisten stürzten herein. Sahen sich um, kamen auf Ralf zu. „Haben Sie die Polizei angerufen.“
Ralf nickte. „Sie liegt im 39. Stock.“
„Wer?“
„Die Erwürgte.“
Er fuhr im Lift mit zwei Polizisten nach oben.
„In welcher Wohnung?“ wollte der ältere der beiden Polizisten wissen.
„Im Süden, drittes Fenster von links.“ Ralf führte die beiden Beamten den Flur entlang auf eine Glaswand zu. Gleißendes Sonnenlicht blendete ihn. Schließlich blieb er vor der letzten Tür auf dem Flur stehen. „Die muss es sein.“
Die Beamten klingelten abwechselnd. Hinter der Tür rührte sich nichts. Der jüngere Polizist stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Sie gab erstaunlich schnell nach.
„Bleiben Sie bitte hier.“ Der ältere Polizist wies ihm mit der Hand einen Platz neben der Tür an.
Nach wenigen Minuten kamen die Polizisten wieder aus der Wohnung. Der ältere Beamte zuckte mit den Achseln. „Das Opfer ist noch ziemlich jung. Dreissig schätze ich. Wollen Sie mit rein?“
Der Polizist ging vor.
Sie lag noch immer auf dem Sofa. Das Gesicht bläulich aufgequollen. Die aufgerissenen Augen traten hervor. Ihr kurzes rotes, tief ausgeschnittenes Kleid bedeckte nicht einmal die halben Oberschenkel, ein Bein hing vom Sofa herab. Ralf streichelte es. Es war noch warm.

Der ältere Polizist bat Ralf Wasmuth später, mit ihm zur Polizeiwache zu fahren.
Seine Zeugenaussage nahm mindestens eine Stunde in Anspruch.
Danach ging Ralf in ein italienisches Eiscafé, um einen Cappuccino zu trinken.
Nach gut vier Stunden saß er wieder auf seinem Fensterputzerlift und begann seine Arbeit dort, wo er sie beendet hatte.
Sie lag nicht mehr auf dem Sofa. In weiße Overalls gekleidete Männer suchten das Zimmer ab.
Ralf ließ sich Zeit beim Putzen, stellte sich vor, wie sie dort oben gelebt haben könnte, wie er sie besuchte. Sich zu ihr auf das Sofa setzte, sie streichelte…, ihr langsam mit der Hand unter das rote Kleid fuhr…,
Sein Chef würde gerade das Fenster putzen und sich wundern, wie Ralf an eine solch tolle Frau kam. Einen langen Kuss würde er ihr geben, zum Fenster gehen, das Oberlicht öffnen, „Ich kündige“ hinausbrüllen und die Vorhänge zuziehen.

Nein, Ralf wird nicht zum Begräbnis gehen. Er wird arbeiten, am Hochhaus neben dem Friedhof. Hatte sich beim Friedhofswärter nach dem Grab erkundigt, es gestern vom 20. Stock aus entdeckt. Direkt neben einem Wacholder und einer Blutbuche. Rundherum frische und ein paar offene Gräber.
Um 11.30 Uhr wird die Trauerfeier zu Ende sein. Dann, werden sie den Sarg von der Kapelle zum Grab fahren. Er hat dem Bestattungsunternehmer schon das Geld gegeben, für alles, für ein Doppelgrab, für den Friedhofsgärtner, für die Grabpflege. Als Fensterputzer verdient er gut und für das Leben gibt er nicht viel aus.
Und genau, wenn sie den Sarg ins Grab gleiten lassen, wird er sich los schnallen.
 
Ralf Wasmuth las in der Zeitung immer die Todesanzeigen. Vera Wagenfuhrs kleine Anzeige, die bereits auf der Seite mit den Geburts- und Heiratsanzeigen stand, las er mehrere Male. Unerwartet und tragisch sei sie um ihr kurzes Leben gekommen. Ja. Er war dabei gewesen, hatte in den letzten Wochen viel von ihr geträumt, sie im Traum gerettet. Jetzt stand er als trauernder Hinterbliebener in der Zeitung. Ich werde immer bei dir sein, Ralf. Ohne Familienname. Angehörige hatte die Polizei nicht ausfindig machen können. Sie lebte dort im 39. Stock in einer Single-Wohnung. Vor drei Tagen wurde ihre Leiche endlich vom gerichtsmedizinischen Institut frei gegeben. Morgen wird sie beerdigt. Er hat alles arrangiert. Doch zur Beerdigung wird er nicht gehen.
In seiner Freizeit spaziert Ralf seit ihrem Tod auf Friedhöfen herum, liest Grabinschriften, errechnet anhand von Geburts- und Sterbedaten die Lebensdauer der Verstorbenen, rätselt vor allem herum, wie jung Verstorbene zu Tode gekommen sein mochten, vermutet Selbstmord oder Mord, nimmt auf Friedhofsbänken Platz, um über sein Leben nachzusinnen, genießt die Friedhofsruhe und sehnt sich immer öfter danach, endlich jene Ruhe genießen zu können, um die er alle, selbst die früh Verstorbenen, nach deren Ableben beneidet.
Sollte er irgendwann sterben, würde er sich gern, mit denen, die weiterleben müssen, darüber freuen, das Irdische hinter sich zu haben. Doch da er dann nicht mehr unter ihnen weilt, wird er diese Freude nicht mit ihnen teilen können.
Ralf lebt nicht ungern. Doch schon als Kind verstand er nicht, wieso die übliche Art zu leben erfreulich sein sollte. Als sie in der Volksschule im Religionsunterricht, die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies durchnahmen, wurde ihm schnell klar, Menschen seien dazu verdammt, im Schweiße ihres Angesichts zu arbeiten. Doch wie konnte das Leben in einer Art Arbeitslager ein glückliches sein?
Wenige Wochen, nachdem er ein Jahr eine Lehre als Tischler durchgehalten hatte, ließ er sich wegen Arbeitsverweigerung aus dem Lehrvertrag entlassen, genoss seine neu erworbene Freiheit und fühlte sich danach tatsächlich ein wenig wie im Paradies.
Eine Eva wollte er nicht kennen lernen. Die würde ihn doch nur zur Arbeit verführen.
So stand er morgens allein auf, wenn seine Eltern, deren einziger Sohn er war, bereits ihrer Arbeit nachgingen, sah ein bisschen fern, schwang sich gegen Mittag aufs Fahrrad, fuhr in einem der nahe gelegenen Wälder herum, sonnte sich auf Lichtungen oder stellte sich bei Regen in Schutzhütten unter und las Zeitung. Kam er zurück, setzte er sich an den gedeckten Abendessenstisch, sah noch ein bisschen fern und ging ins Bett, wenn er müde war. Seine Eltern versuchten es im Guten wie im Bösen. Irgendwann, er war bereits zwanzig, glaubten sie, seine Vernunft habe doch noch gesiegt, da er bei einer Glasreinigungsfirma als Fensterputzer in einem so genannten Anlernverhältnis schon ein halbes Jahr ausgehalten hatte. Da er schwindelfrei ist, durfte er bereits kurz nach Beginn des neuen Arbeitsverhältnisses Hochhausfenster putzen. Von außen. Bei der Arbeit lässt er sich Zeit, genießt vor allem den Überblick, sieht auf winzige Menschen, Autos, Straßenbahnen, Häuser, Bäume und auf Friedhöfe.
Sven Müller, sein und Chef der Firma Glasklar, ist, da sie im Akkord arbeiten, mit Ralfs Arbeitsleistung nur bedingt zufrieden. Aber absolut schwindelfreie Fensterputzer sind schwer zu finden und so lässt er Ralf auch mit mäßiger Arbeitsleistung inzwischen schon im fünfzehnten Jahr gewähren. Ralf wiederum bemüht sich, so viele Fenster am Tag zu putzen, dass sein Chef gerade nicht oder allenfalls nur wenig meckern kann.
Bei seiner Arbeit ist er am liebsten allein, genießt nicht nur den Überblick sondern auch manchen Einblick in Büros, in denen offenbar auch nicht nur Arbeit angesagt ist, in Wohnungen, in denen gekocht, gelesen, gelegentlich geliebt wird und sich gar nicht so selten eine leicht bekleidete Frau schnell noch ihre leider nicht immer reizvollen Blößen bedeckt.
Es ist wunderbar, dem Leben von außen und oben zuzusehen, ohne dabei mitmachen zu müssen. Seine Eltern haben ihm im Dachgeschoss ihres Ein-Familien-Hauses eine kleine Wohnung eingerichtet. Er wohnt umsonst und zahlt wenig für das Essen, das ihm seine Mutter immer noch kocht. Den größten Teil seines Lohns zahlt er auf ein Sparkonto ein.

An einem Maimorgen vor gut drei Monaten, zwei Tage nach seinem fünfunddreißigsten Geburtstag, hatte er sich gerade gemächlich von der obersten Hochhausetage, der vierzigsten, zum Stockwerk tiefer vorgearbeitet.
Die Vorhänge hinter dem großflächigen Fenster waren nicht zugezogen. Eine Stehlampe gab schwaches Licht und erleichterte ihm nicht gerade, alles im Wohnzimmer zu erkennen. Auf einer Couch saß ein Mann, drehte Ralf den Rücken zu und beugte sich über eine neben ihm liegende Frau. Ihr knallrotes Kleid war hoch gerutscht. Plötzlich sah Ralf, dass der Mann die Frau würgte. Hilflos strampelte sie mit ihren schlanken Beinen. Ihr Körper wand sich, lag . schließlich ganz ruhig da. Der Mann würgte sie immer noch. Ralf schlug mit der Faust gegen die Fensterscheibe, trommelte gegen das Glas. Plötzlich sprang der Würger auf und verschwand durch die Zimmertür.
Angeschnallt saß Ralf in seinem offenen Fensterputzer-Lift, drückte den Aufwärtsknopf, hatte Mühe sich abzuschnallen, rannte auf dem Dach zum Abstieg in die oberste Etage, hastete zum Fahrstuhl, schlug mit der Faust auf den Abwärts-Knopf. Der Lift kam schnell. Hielt zum Glück nicht bei der Abwärtsfahrt. Im Erdgeschoss saß der Hausmeister in seiner Loge.
„Er hat sie erwürgt!“ schrie Ralf. Der Hausmeister hielt ihm einen Telefonhörer hin. „Hab schon die Polizeinummer gewählt!“
„Mord!“ schrie Ralf in den Hörer und gab auf Geheiß des Hausmeisters die Anschrift des Hochhauses durch.
„Ich schick einen Wagen raus.“ Ließ sich eine routinierte Stimme vernehmen.
Ralf gab den Hörer an den Hausmeister zurück. Der legte auf und begann ihn auszufragen. Ralf winkte ab und beobachtete jeden Mann, der an der Hausmeisterloge vorbei das Haus verließ. „Sie war sehr hübsch in ihrem roten Kleid. Sehr hübsch.“ murmelte er.
Endlich zuckte Blaulicht vor der Glastür des Hochhauses. Vier Polizisten stürzten herein. Sahen sich um, kamen auf Ralf zu. „Haben Sie die Polizei angerufen.“
Ralf nickte. „Sie liegt im 39. Stock.“
„Wer?“
„Die Erwürgte.“
Er fuhr im Lift mit zwei Polizisten nach oben.
„In welcher Wohnung?“ wollte der ältere der beiden Polizisten wissen.
„Im Süden, drittes Fenster von links.“ Ralf führte die beiden Beamten den Flur entlang auf eine Glaswand zu. Gleißendes Sonnenlicht blendete ihn. Schließlich blieb er vor der letzten Tür auf dem Flur stehen. „Die muss es sein.“
Die Beamten klingelten abwechselnd. Hinter der Tür rührte sich nichts. Der jüngere Polizist stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Sie gab erstaunlich schnell nach.
„Bleiben Sie bitte hier.“ Der ältere Polizist wies ihm mit der Hand einen Platz neben der Tür an.
Nach wenigen Minuten kamen die Polizisten wieder aus der Wohnung. Der ältere Beamte zuckte mit den Achseln. „Das Opfer ist noch ziemlich jung. Dreissig schätze ich. Wollen Sie mit rein?“
Der Polizist ging vor.
Sie lag noch immer auf dem Sofa. Das Gesicht bläulich aufgequollen. Die aufgerissenen Augen traten hervor. Ihr kurzes rotes, tief ausgeschnittenes Kleid bedeckte nicht einmal die halben Oberschenkel, ein Bein hing vom Sofa herab. Ralf streichelte es. Es war noch warm.

Der ältere Polizist bat Ralf Wasmuth später, mit ihm zur Polizeiwache zu fahren.
Seine Zeugenaussage nahm mindestens eine Stunde in Anspruch.
Danach ging Ralf in ein italienisches Eiscafé, um einen Cappuccino zu trinken.
Nach gut vier Stunden saß er wieder auf seinem Fensterputzerlift und begann seine Arbeit dort, wo er sie beendet hatte.
Sie lag nicht mehr auf dem Sofa. In weiße Overalls gekleidete Männer suchten das Zimmer ab.
Ralf ließ sich Zeit beim Putzen, stellte sich vor, wie sie dort oben gelebt haben könnte, wie er sie besuchte. Sich zu ihr auf das Sofa setzte, sie streichelte…, ihr langsam mit der Hand unter das rote Kleid fuhr…,
Sein Chef würde gerade das Fenster putzen und sich wundern, wie Ralf an eine solch tolle Frau kam. Einen langen Kuss würde er ihr geben, zum Fenster gehen, das Oberlicht öffnen, „Ich kündige“ hinausbrüllen und die Vorhänge zuziehen.

Nein, Ralf wird nicht zum Begräbnis gehen. Arbeiten wir er. Am Hochhaus neben dem Friedhof.
Beim Friedhofswärter hatte er sich nach dem Grab erkundigt, es gestern vom 20. Stock aus entdeckt. Direkt neben einem Wacholder und einer Blutbuche. Rundherum frische und ein paar offene Gräber.
Um 11.30 Uhr wird die Trauerfeier zu Ende sein. Sie werden den Sarg von der Kapelle zum Grab fahren. Dem Bestattungsunternehmer hatte er schon das Geld gegeben, für alles.
Als Ralf jedoch ein Doppelgrab wollte, nestelte der Bestatter an seinen nicht mehr ganz blütenweißen Manschetten. „Ich denke, sie war allein stehend und ohne Angehörige?“
„Nun ja,“ antwortete Ralf mit sehr fester Stimme. „Wir wollten nächste Woche heiraten. Der Mörder war schneller.“ Und dann ging Ralf noch zum Friedhofsgärtner, um einen Vertrag über 25 Jahre Grabpflege zu unterschreiben. Als Fensterputzer verdient er recht gut und für das Leben gab er bisher nicht viel aus.
Genau in dem Moment, wenn sie den Sarg ins Grab gleiten lassen, wird er sich vom Fensterputzeraufzug los schnallen.
 

gueko

Mitglied
Gut gestorben ist auch tot!

Hallo Karl Feldkamp!

In meinen Augen sehr schön erzählt, sehr schön den Charakter des Ralf heraus gearbeitet. Leider war schon im ersten Absatz das Ende vorhersehbar - und es gab dann tatsächlich keine Überraschung. Das liegt für mich am Titel. Der hat mich natürlich auch eingeladen zu lesen - also schwierig, wirklich schwierig.

Zwei Texthinweise:
Da ist ein Punkt drin:
wand sich, lag . schließlich ganz ruhig da.
und da fehlt das "d"
Schön.
gueko
 
Lieber gueko,

danke für die Hinweise auf die Fehler und deine Kritik.
Ich wollte sogar, dass die Todessehnsucht des Protagonisten von vornherein klar ist. Dass er allerdings sich nur als Toter traut, mit einer Frau eine Verbindung, die auch Leben weitergeben könnte, einzugehen wagt, ist nicht von Anfang an ersichtlich. Oder?

Noch einmal herzlichen Dank
Karl
 
Ralf Wasmuth las in der Zeitung immer die Todesanzeigen. Vera Wagenfuhrs kleine Anzeige, die bereits auf der Seite mit den Geburts- und Heiratsanzeigen stand, las er mehrere Male. Unerwartet und tragisch sei sie um ihr kurzes Leben gekommen. Ja. Er war dabei gewesen, hatte in den letzten Wochen viel von ihr geträumt, sie im Traum gerettet. Jetzt stand er als trauernder Hinterbliebener in der Zeitung. Ich werde immer bei dir sein, Ralf. Ohne Familienname. Angehörige hatte die Polizei nicht ausfindig machen können. Sie lebte dort im 39. Stock in einer Single-Wohnung. Vor drei Tagen wurde ihre Leiche endlich vom gerichtsmedizinischen Institut frei gegeben. Morgen wird sie beerdigt. Er hat alles arrangiert. Doch zur Beerdigung wird er nicht gehen.
In seiner Freizeit spaziert Ralf seit ihrem Tod auf Friedhöfen herum, liest Grabinschriften, errechnet anhand von Geburts- und Sterbedaten die Lebensdauer der Verstorbenen, rätselt vor allem herum, wie jung Verstorbene zu Tode gekommen sein mochten, vermutet Selbstmord oder Mord, nimmt auf Friedhofsbänken Platz, um über sein Leben nachzusinnen, genießt die Friedhofsruhe und sehnt sich immer öfter danach, endlich jene Ruhe genießen zu können, um die er alle, selbst die früh Verstorbenen, nach deren Ableben beneidet.
Sollte er irgendwann sterben, würde er sich gern, mit denen, die weiterleben müssen, darüber freuen, das Irdische hinter sich zu haben. Doch da er dann nicht mehr unter ihnen weilt, wird er diese Freude nicht mit ihnen teilen können.
Ralf lebt nicht ungern. Doch schon als Kind verstand er nicht, wieso die übliche Art zu leben erfreulich sein sollte. Als sie in der Volksschule im Religionsunterricht, die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies durchnahmen, wurde ihm schnell klar, Menschen seien dazu verdammt, im Schweiße ihres Angesichts zu arbeiten. Doch wie konnte das Leben in einer Art Arbeitslager ein glückliches sein?
Wenige Wochen, nachdem er ein Jahr eine Lehre als Tischler durchgehalten hatte, ließ er sich wegen Arbeitsverweigerung aus dem Lehrvertrag entlassen, genoss seine neu erworbene Freiheit und fühlte sich danach tatsächlich ein wenig wie im Paradies.
Eine Eva wollte er nicht kennen lernen. Die würde ihn doch nur zur Arbeit verführen.
So stand er morgens allein auf, wenn seine Eltern, deren einziger Sohn er war, bereits ihrer Arbeit nachgingen, sah ein bisschen fern, schwang sich gegen Mittag aufs Fahrrad, fuhr in einem der nahe gelegenen Wälder herum, sonnte sich auf Lichtungen oder stellte sich bei Regen in Schutzhütten unter und las Zeitung. Kam er zurück, setzte er sich an den gedeckten Abendessenstisch, sah noch ein bisschen fern und ging ins Bett, wenn er müde war. Seine Eltern versuchten es im Guten wie im Bösen. Irgendwann, er war bereits zwanzig, glaubten sie, seine Vernunft habe doch noch gesiegt, da er bei einer Glasreinigungsfirma als Fensterputzer in einem so genannten Anlernverhältnis schon ein halbes Jahr ausgehalten hatte. Da er schwindelfrei ist, durfte er bereits kurz nach Beginn des neuen Arbeitsverhältnisses Hochhausfenster putzen. Von außen. Bei der Arbeit lässt er sich Zeit, genießt vor allem den Überblick, sieht auf winzige Menschen, Autos, Straßenbahnen, Häuser, Bäume und auf Friedhöfe.
Sven Müller, sein und Chef der Firma Glasklar, ist, da sie im Akkord arbeiten, mit Ralfs Arbeitsleistung nur bedingt zufrieden. Aber absolut schwindelfreie Fensterputzer sind schwer zu finden und so lässt er Ralf auch mit mäßiger Arbeitsleistung inzwischen schon im fünfzehnten Jahr gewähren. Ralf wiederum bemüht sich, so viele Fenster am Tag zu putzen, dass sein Chef gerade nicht oder allenfalls nur wenig meckern kann.
Bei seiner Arbeit ist er am liebsten allein, genießt nicht nur den Überblick sondern auch manchen Einblick in Büros, in denen offenbar auch nicht nur Arbeit angesagt ist, in Wohnungen, in denen gekocht, gelesen, gelegentlich geliebt wird und sich gar nicht so selten eine leicht bekleidete Frau schnell noch ihre leider nicht immer reizvollen Blößen bedeckt.
Es ist wunderbar, dem Leben von außen und oben zuzusehen, ohne dabei mitmachen zu müssen. Seine Eltern haben ihm im Dachgeschoss ihres Ein-Familien-Hauses eine kleine Wohnung eingerichtet. Er wohnt umsonst und zahlt wenig für das Essen, das ihm seine Mutter immer noch kocht. Den größten Teil seines Lohns zahlt er auf ein Sparkonto ein.

An einem Maimorgen vor gut drei Monaten, zwei Tage nach seinem fünfunddreißigsten Geburtstag, hatte er sich gerade gemächlich von der obersten Hochhausetage, der vierzigsten, zum Stockwerk tiefer vorgearbeitet.
Die Vorhänge hinter dem großflächigen Fenster waren nicht zugezogen. Eine Stehlampe gab schwaches Licht und erleichterte ihm nicht gerade, alles im Wohnzimmer zu erkennen. Auf einer Couch saß ein Mann, drehte Ralf den Rücken zu und beugte sich über eine neben ihm liegende Frau. Ihr knallrotes Kleid war hoch gerutscht. Plötzlich sah Ralf, dass der Mann die Frau würgte. Hilflos strampelte sie mit ihren schlanken Beinen. Ihr Körper wand sich, lag schließlich ganz ruhig da. Der Mann würgte sie immer noch. Ralf schlug mit der Faust gegen die Fensterscheibe, trommelte gegen das Glas. Plötzlich sprang der Würger auf und verschwand durch die Zimmertür.
Angeschnallt saß Ralf in seinem offenen Fensterputzer-Lift, drückte den Aufwärtsknopf, hatte Mühe sich abzuschnallen, rannte auf dem Dach zum Abstieg in die oberste Etage, hastete zum Fahrstuhl, schlug mit der Faust auf den Abwärts-Knopf. Der Lift kam schnell. Hielt zum Glück nicht bei der Abwärtsfahrt. Im Erdgeschoss saß der Hausmeister in seiner Loge.
„Er hat sie erwürgt!“ schrie Ralf. Der Hausmeister hielt ihm einen Telefonhörer hin. „Hab schon die Polizeinummer gewählt!“
„Mord!“ schrie Ralf in den Hörer und gab auf Geheiß des Hausmeisters die Anschrift des Hochhauses durch.
„Ich schick einen Wagen raus.“ Ließ sich eine routinierte Stimme vernehmen.
Ralf gab den Hörer an den Hausmeister zurück. Der legte auf und begann ihn auszufragen. Ralf winkte ab und beobachtete jeden Mann, der an der Hausmeisterloge vorbei das Haus verließ. „Sie war sehr hübsch in ihrem roten Kleid. Sehr hübsch.“ murmelte er.
Endlich zuckte Blaulicht vor der Glastür des Hochhauses. Vier Polizisten stürzten herein. Sahen sich um, kamen auf Ralf zu. „Haben Sie die Polizei angerufen.“
Ralf nickte. „Sie liegt im 39. Stock.“
„Wer?“
„Die Erwürgte.“
Er fuhr im Lift mit zwei Polizisten nach oben.
„In welcher Wohnung?“ wollte der ältere der beiden Polizisten wissen.
„Im Süden, drittes Fenster von links.“ Ralf führte die beiden Beamten den Flur entlang auf eine Glaswand zu. Gleißendes Sonnenlicht blendete ihn. Schließlich blieb er vor der letzten Tür auf dem Flur stehen. „Die muss es sein.“
Die Beamten klingelten abwechselnd. Hinter der Tür rührte sich nichts. Der jüngere Polizist stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Sie gab erstaunlich schnell nach.
„Bleiben Sie bitte hier.“ Der ältere Polizist wies ihm mit der Hand einen Platz neben der Tür an.
Nach wenigen Minuten kamen die Polizisten wieder aus der Wohnung. Der ältere Beamte zuckte mit den Achseln. „Das Opfer ist noch ziemlich jung. Dreissig schätze ich. Wollen Sie mit rein?“
Der Polizist ging vor.
Sie lag noch immer auf dem Sofa. Das Gesicht bläulich aufgequollen. Die aufgerissenen Augen traten hervor. Ihr kurzes rotes, tief ausgeschnittenes Kleid bedeckte nicht einmal die halben Oberschenkel, ein Bein hing vom Sofa herab. Ralf streichelte es. Es war noch warm.

Der ältere Polizist bat Ralf Wasmuth später, mit ihm zur Polizeiwache zu fahren.
Seine Zeugenaussage nahm mindestens eine Stunde in Anspruch.
Danach ging Ralf in ein italienisches Eiscafé, um einen Cappuccino zu trinken.
Nach gut vier Stunden saß er wieder auf seinem Fensterputzerlift und begann seine Arbeit dort, wo er sie beendet hatte.
Sie lag nicht mehr auf dem Sofa. In weiße Overalls gekleidete Männer suchten das Zimmer ab.
Ralf ließ sich Zeit beim Putzen, stellte sich vor, wie sie dort oben gelebt haben könnte, wie er sie besuchte. Sich zu ihr auf das Sofa setzte, sie streichelte, ihr langsam mit der Hand unter das rote Kleid fuhr,
Sein Chef würde gerade das Fenster putzen und sich wundern, wie Ralf an eine solch tolle Frau kam. Einen langen Kuss würde er ihr geben, zum Fenster gehen, das Oberlicht öffnen, „Ich kündige“ hinausbrüllen und die Vorhänge zuziehen.

Nein, Ralf wird nicht zum Begräbnis gehen. Arbeiten wird er. Am Hochhaus neben dem Friedhof.
Beim Friedhofswärter hatte er sich nach dem Grab erkundigt, es gestern vom 20. Stock aus entdeckt. Direkt neben einem Wacholder und einer Blutbuche. Rundherum frische und ein paar offene Gräber.
Um 11.30 Uhr wird die Trauerfeier zu Ende sein. Sie werden den Sarg von der Kapelle zum Grab fahren. Dem Bestattungsunternehmer hatte er schon das Geld gegeben, für alles.
Als Ralf jedoch ein Doppelgrab wollte, nestelte der Bestatter an seinen nicht mehr ganz blütenweißen Manschetten. „Ich denke, sie war allein stehend und ohne Angehörige?“
„Nun ja,“ antwortete Ralf mit sehr fester Stimme. „Wir wollten nächste Woche heiraten. Der Mörder war schneller.“ Und dann ging Ralf noch zum Friedhofsgärtner, um einen Vertrag über 25 Jahre Grabpflege zu unterschreiben. Als Fensterputzer verdient er recht gut und für das Leben gab er bisher nicht viel aus.
Genau in dem Moment, wenn sie den Sarg ins Grab gleiten lassen, wird er sich vom Fensterputzeraufzug los schnallen.
 

gueko

Mitglied
Das stimmt!

Das ist nicht ersichtlich und zeigt mir, selbst bei genauem Lesen nicht alle Ebenen zu durchschauen. Du hast natürlich Recht und auch diese Ebene ist gut gelungen...
gueko
 



 
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