Dormium

Vadeviesco

Mitglied
Stille kann wie ein Wasserfall über uns hereinbrechen. Sie kann so überwältigend sein, sie füllt den Raum und lässt uns innehalten. Stille ermöglicht es uns, mit uns alleine zu sein, über uns nachzudenken. Stille kann eine Pforte aus dem unaufhaltsamen Treiben der Welt sein, eine Pforte zu uns selbst. In der Stille finden wir uns wieder, kreisen unsere Gedanken unbeeindruckt von allen andern Gedanken, den Gedanken der Musik, des Films, jenen in den Worten anderer Menschen.
Manchmal sind wir lange nicht darauf angewiesen, zu uns selbst zu finden. Doch haben wir das Gefühl, dem Tosen dieser Welt nicht mehr entfliehen zu können, vernichtet uns dies. Es nimmt uns die Luft zum Atmen, wenn wir uns nicht mehr in die Stille flüchten können.

Sie rennt, rennt, stolpert, fängt sich, zieht ihre Tasche näher an den Körper, biegt um die Ecke und erreicht die Straßenbahn. Schwer atmend kämpft sie sich durch die schmalen Gänge, sucht nach einem Platz, lässt sich sinken. Draußen hört sie das Treiben der Stadt um sich herum, die Geräusche der Straßenbahn, wenn sie über die Schienen gleitet, ein Flugzeug in der Höhe, jemand niest, andere unterhalten sich.
Sie erreicht ihre Haltestelle, steigt aus, die Straße tob um diese Uhrzeit, Autos, Busse, ein Taxi, jemand ruft, eine Frau hadert mit ihrer Tochter, ein Hupen, noch ein Hupen, sie läuft und läuft, biegt um die Ecke, an der Straßenecke wird noch gearbeitet. Mitarbeiter der Stadt arbeiten mit dem Presslufthammer, sie hält sich die Hand ans Ohr... welch ein Krach! Sie läuft weiter und biegt in ihre Straße ein, zwei Kinder auf dem Fahrrad kreuzen ihren Weg, sie weicht aus, die Tasche gleitet von ihren Schultern.... verflixt, es ist etwas zerbrochen, wohl der Flakon ihres Parfums. Nun spricht sie mit sich selbst, hadert mit ihrem Leben, holt tief Luft, sucht die Schlüssel zu ihrem Appartement und öffnet die Tür.
Sie tritt ein, steuert auf das Sofa zu, will sich fallen lassen, nein!, die Katze hat wohl einen Blumenstock umgeworfen, Wasser auf dem Teppichboden, auch das noch! Sie behebt den Schaden fürs erste, schaut auf die Uhr, es wird Zeit! Sie muss telefonieren, ein paar Kleinigkeiten sind noch für den morgigen Arbeitstag zu erledigen, der Rechner wird gestartet, die Stereoanlage ebenfalls, jedoch leise wegen des Telefonats. Telefon, Rechner, Mails, ein Fax, ein Memo, ach und noch die Überweisung der Miete (online), kurz noch die Mutter angerufen, Erkältung wieder besser? Ja? Ja! Schön!, ein Brot schmieren, umziehen, duschen, ins Bad, kurz aufräumen, Teppich einreiben, wo steckt denn diese verflixte Katze überhaupt?
Es ist schnell spät geworden, sie ist müde, alles aus und ab ins Bett...
Gedanken an den Tag begleiten Sie in den Schlaf und das Brummen des Kühlschranks... mein Gott, so aufdringlich brummt er heute, es müssen wohl die Nerven und die Erschöpfung sein, welche sie heute so empfindlich sein lassen... was pfeift denn da... die Müdigkeit überkommt sie, sie will in den Schlaf gleiten, die Augen sind bereits fest geschlossen, der Atem wird regelmäßig. Nur weniges dringt noch durch, die Gedanken an den vergangenen Tag und der Kühlschrank (!). Das Bewusstsein kehr kurz zurück... es will sich vergewissern, ob das Brummen des Kühlschranks nun wirklich zu dem gehört, was jetzt noch eine Rolle spielen sollte... nein, natürlich nicht, aber es lässt nicht nach, bleibt beständig, ist immer noch da... das Bewusstsein kann nicht abschalten, es hält den Körper im halbwachen Zustand, sie dreht sich im Halbschlaf, einmal, noch einmal, was fiept denn da, was pfeift? Sie öffnet ein Auge, kommt zu sich... was zum...? Das Brummen, es ist unerträglich, ist er defekt? Sie hält sich die Ohren zu, will kurz abschalten und aussteigen, aber das Brummen bleibt, schwillt an und ab, ebenso das Pfeifen und Fiepen. Ihr Herz schlägt schneller, sie erschrickt. Was...!? Sie steht plötzlich neben ihrem Bett, massiert sich im stehen den Nacken, läuft durch ihr Schlafzimmer, doch die Geräusche verfolgen sie... egal wohin sie geht... auch wenn sie alle Zimmer verschließt und sich an den Punkt begibt, der am weitesten von ihrem Schlafzimmer entfernt liegt, die Geräusche sind schon da. Es ist wie bei Hase und Igel „Ich bin schon da!“, scheint das Brummen zu sagen... „Wir auch, natürlich!“ antworten das Pfeifen und ein Fiepen. Sie ist so erschrocken, dass ihr Tränen in die Augen schießen. Eine Zigarette, sie hat aufgehört, aber es sind noch welche da und was spielt es jetzt für eine Rolle... die Geräusche bleiben... ins Bett, schlafen, morgen ist die Welt wieder in Ordnung!? Gespenster der Nacht verlieren am Tag ihren Schrecken.... die stellt das Radio an und geht zu Bett... Brummen, Pfeifen und Fiepen verlieren sich in der Musik des Radios... sie schläft nicht leicht ein, doch sie schläft ein, sie sind vertraut, die Stimmen im Radio.
Ein neuer Morgen, Alptraum vorbei? Geräusche? Autos auf der Straße, das Radio, Stimmen... sonst nichts, oder... Sie atmet durch, stellt das Radio leiser, geht ins Bad... das Bad hat keine Fenster zur Straße, das Radio ist hier nicht zu hören und sie sind schon da, es brummt, wohl vor allem im linken Ohr und es pfeift und es fiept, unaufhörlich... von anderen Geräuschen wohl teils verdeckt, doch je näher sie der Stille kommt, desto lauter rufen sie „Wir sind schon da!“.
Der Schrecken ist zurück. In vollem Umfang. Ihr Herz schlägt, sie verkrampft sich, telefoniert, meldet sich krank, macht sich auf den Weg zum Arzt...
Sie hat ihre Begleiter auch Wochen später nicht verloren. Wenn sie die Fenster schließt, das Radio ausdreht, kein Fernsehen und kein Telefon, dann sind sie da, jede Sekunde, jede Minuten, Tag für Tag. Nein!, sie kann nicht klar denken, sie weiß nicht wohin, kein Raum ist vor ihren Begleitern sicher, kein Zeitpunkt, wie Schatten laufen sie hinter ihr drein, und wie Schatten sind sie mal kürzer und mal länger, mal leiser und mal lauter, aber sie sind immer da.
Sie kapituliert, ergibt sich in ihr Schicksal, was soll sie sonst tun? Aber sie kann sich niemals damit abfinden, noch weiß sie nicht einmal, ob sie damit leben kann. Was ist schon der Wasserfleck aus einer Vase, was sind schon Abgabetermine oder eine verpasste Straßenbahn? Was ist schon ein Leben ohne eine Zuflucht in die Stille?
 
Hallo Vadeviesco!
Eindringlichkeit herrscht hier vor!
Schön dicht geschrieben hast Du!
Aber, man hat mich in der Leselupe stets auf solche Passagen hingewiesen, wie sie am Anfang deiner Story stehen.
Könnte die lärmgeplagte Protagonistin nicht auch die
Stille erleben, so wie den Lärm und die belehrenden Worte vom Anfang umformen in Gedanken und Gefühle?

Das Leben ist wie ein Radioempfänger, es kommt nur darauf an, welchen Sender man eingestellt hat.
Und einer läßt sich (fast) nie abstellen:
Der innere Dialog (Die 1000 Affen)
Gruß
dd
 



 
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