Drachenreiter

agilo

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Das Königreich Wolkenhort galt als ein ausgesprochen friedliches Land. Das lag zum Einen an seinen Herrschern, denn die Mitglieder der uralten Königsfamilie der Wolfsherzen zogen es schon zu allen Zeiten vor, in ihrer Burg der Hundert Wasserfälle oberhalb der Hauptstadt Sanfte Winde zu leben und sich an der Natur des Landes, den handwerklichen Produkten ihrer geschickten Untertanen und nicht zuletzt an der berühmten Kochkunst der königlichen Küchenmeister zu erfreuen, anstatt, wie es bei den Herrschern andernorts leider allzu häufig üblich war, Kriege zu führen oder gar in andere Länder einzufallen.
Damit nun das Königreich der Wolfsherzen selbst nicht Opfer solcher Eroberungen wurde, gab es die Kavallerie der Hohen Lüfte. Dies war eine einzigartige Institution, die es nur im Lande Wolkenhort gab, denn sie bestand aus den rotgoldenen Berglindwürmern, der einzigen Drachenart, die sich zähmen ließ und ihren Reitern, wagemutigen jungen Männern und Frauen, die im ganzen Reich hohes Ansehen genossen. Keine feindlich gesinnte Armee wagte eine Auseinandersetzung mit dieser Einheit, denn Drachen waren bekanntlich überaus magische Geschöpfe und weder die Pfeile noch die Schwerter der Menschen konnten ihnen etwas anhaben. Die einzige Gefahr drohte nur aus dem Norden, aus den eisigen Höhen der gewaltigen Bergriesen des Dornengebirges. Denn dort hausten die Steindrachen, riesige Wesen, die wenig übrig hatten für die Menschen und aus diesem Grund mitunter in Ländern wie Wolkenhort einfielen, um dort zu wüten wie die schrecklichsten Naturkatastrophen.
Kleegrün war ein kleiner Ort unterhalb eines sanft ansteigenden Hügels und eingeklemmt zwischen zwei gewaltigen Bergen, den Grauen Zwillingen. Das einzigartige an diesem Ort war die Drachenschule, eine große Burg, die sich auf der Kuppe des Hügels befand. Hier - und nur hier - wurden die Lindwürmer gezüchtet und, nachdem die entsprechende Größe erreicht hatten, zu Mitgliedern der Kavallerie der Hohen Lüfte ausgebildet. Die Menschen in Kleegrün waren zumeist Bauern, sie versorgten die Drachenreiter der Burg mit allen notwendigen Lebensmitteln. Die Drachen selbst benötigten als magische Geschöpfe bekanntlich kaum Nahrung, ihnen genügte das Licht der Sonne und hin und wieder ein goldener Elfenapfel.
Rihaku war zehn Jahre alt. Er war der Sohn eines dieser Bauern und wie alle Kinder seines Alters auf dem Land musste auch er mitarbeiten, wenn es um die Versorgung der Schweine und der Hühner, um die Saat und Ernte des Getreides und alle anderen Arbeiten ging, die auf solch einem Hof anfielen. Nur an die Bäume mit den goldschimmernden Elfenäpfeln durfte er nicht, denn diese galten als überaus heilig, außerdem wurde ihnen eine magische Wirkung zugeschrieben, weswegen sie kein Mensch essen durfte. Natürlich hatte Rihaku – wie viele Jungen in Kleegrün vor ihm – gerade dieses Verbot als Herausforderung betrachtet, musste aber feststellen, dass diese Früchte keinerlei Zauberwirkung auf ihn hatten, abgesehen vielleicht von jener sicherlich nicht sehr magischen, die ihn direkt und für einen längeren Zeitraum in das kleine Häuschen hinter den Ställen führte. Rihaku hatte schon immer davon geträumt, einmal ein Drachenreiter zu werden, auch wenn er wusste, dass ihm als armen Bauernjungen der Weg zur Kavallerie der Hohen Lüfte verwehrt war. Das hielt aber nicht davon ab, jede freie Minute damit zu verbringen, am Fuße des Hügels zu stehen und den Drachen und ihren Reitern bei ihren Flugübungen zuzusehen.
So auch an diesem Tag. Er hatte einen Korb mit Elfenäpfeln bei sich, den er zu der Drachenburg bringen sollte. Normalerweise würde man einen Jungen wie ihn nicht mit einer solchen verantwortungsvollen Aufgabe betrauen, aber Rihaku hatte den Verdacht, dass seinen Eltern nicht entgangen war, dass er seine Erfahrungen mit den goldenen Früchten schon gemacht hatte und deswegen wohl kaum in Versuchung geraten würde, unterwegs von ihnen zu naschen.
Der Weg zum Haupttor der Burg führte um den Hügel herum, größtenteils über einen gewundenen Waldweg, aber der Anfang der Wegstrecke befand sich genau am Fuße des Übungshanges. Rihaku hatte den Korb mit den Äpfeln abgestellt. Er saß auf einem Holzgatter und beobachtete die Flugübungen. Mit Kennerblick stellte er fest, dass heute sehr junge – höchstens dreijährige – Drachen an das Fliegen mit Reitern herangeführt wurden. Das war natürlich eine sehr spannende Angelegenheit. Die Elfenäpfel würden wohl noch ein bisschen warten müssen.
Die jungen Drachen waren noch lange nicht ausgewachsen, aber ihre langgezogenen, fast schlangenartigen Körper hatten bereits die dreifache Länge eines erwachsenen Menschen erreicht und ihre massigen Köpfe mit großen Kiefern voller spitzer Zähne wirkte auch in diesem Alter schon beeindruckend. Rihaku bemerkte ihre Unruhe, als die Reiter ihnen die Liegesättel auflegten. Dabei bemühten sie sich, beruhigend auf die jungen Lindwürmer einzureden. Bald hoben die ersten ab, wobei ihre Bewegungen eher wellenförmig oder gar spiralig waren, was auch der natürlichen Art des Fliegens dieser Wesen entsprach. Andererseits fiel es den Reitern schwer, sich dabei im Sattel zu halten, auch wenn sie sich mit zusätzlichen Gurten und Schlaufen gesichert hatten. Es waren nur kurze Start- und Landeübungen, die an diesem Tag durchgeführt wurden, denn längere Flüge auf so unerfahrenen Tieren wäre für die Reiter viel zu gefährlich. Es machte einen Unterschied, ob man von einer Höhe von zehn Ellen abstürzte und auf eine weichen Wiese landete oder ob man direkt aus den Wolken fiel.
Die meisten der Drachen hatten ihre Übungen schon absolviert, als ein etwas kleinerer Lindwurm an die Reihe kam. Ausgerechnet diesen hatte sich Yokai als Reittier erkoren. Eigentlich bewunderte Rihaku ja alle Drachenreiter der Burg wegen ihrer Fähigkeiten und beneidete sie dafür, dass sie dieses Privileg hatten, in den Himmel tauchen zu dürfen auf den wundervollsten Wesen, die er sich überhaupt nur vorstellen konnte. Aber selbst er hatte wenig übrig für den kräftigen, überheblichen und gelegentlich zum Jähzorn neigenden Yokai. Er war der Sohn eines hohen Ministers und einzig aus diesem Grund Mitglied der Kavallerie der Hohen Lüfte geworden.
Yokai bestieg den Sattel, schlüpfte mit Händen und Füßen in die Lederschlaufen. Auf den zusätzlichen Schutz durch rund um den Leib des Drachen geschlungene Ledergurte verzichtete er. Wie immer war Yokai darauf aus, allen anderen zu beweisen, was für ein schneidiger Bursche er war. Nachdem er fest im Sattel saß, brüllte er einige Befehlsworte. Der Drache nahm einige Schritte Anlauf. Dann stieg er – während sein Reiter weiter auf ihn einschrie – hoch. Möglicherweise durch die schroffen und lauten Worte verunsichert, setzte er den Anflug allerdings viel zu steil an, Rihaku konnte erkennen, dass Yokai große Probleme hatte, sich im Sattel zu halten. Der große Drachenreiter brüllte erneut seine Befehlsworte. Der Lindwurm, der bereits gut hundert Ellen in die Höhe gestiegen war, änderte abrupt die Richtung, flog nun wieder abwärts, wobei seine Bewegungen – ganz wie es die natürliche Art dieser Wesen war – eher wellenförmig verliefen. Yokai, der seinen Halt schon beim Steilflug größtenteils verloren hatte, rutschte nun zunächst aus der einen, dann aus der anderen Beinschlaufe heraus. Sich mittlerweile nur noch an den Lederschlaufen für die Hände klammernd, schrie er nun noch lauter und wütender auf den Lindwurm ein, allerdings hatte das die Wirkung, dass dieser nun noch weniger wusste, was er tun sollte. Er flog eine Spirale direkt über dem Erdboden, was zur Folge hatte, dass Yokai nun endgültig aus dem Sattel fiel. Mit einem Aufschrei eher der Wut als des Schmerzes landete der Drachenreiter auf der Wiese.
Der Lindwurm dagegen flog weiter abwärts, drehte sich dabei immer wieder um seine Längsachse, bis er irgendwann unglücklich mit einem Teil seines Geweihes an einem Maulwurfshügel hängenblieb und er – sich mehrfach überschlagend – auf das Holzgatter zu rollte wie eine rotgoldene Lawine. Kurz bevor er die Stelle erreichte, die sich Rihaku auserkoren hatte, um dem Drachenübungen zuzusehen, kam der Lindwurm zum Stillstand.
lag nun da, regungslos, sein langgestreckter Körper völlig verdreht, die Augen geschlossen. Er wirkte wie tot.
Rihaku fragte sich, ob sich Drachen den Hals brechen konnten. Doch dann schlug der Lindwurm die Augen auf. Mit leuchtend roten, reptilienartigen Augen sah er Rihaku an.
„Äh ... hallo“, sagte der Junge.
Der Drache hob den Kopf an. Dann schüttelte er ihn, ganz so, als wolle er einige lästige Fliegen, die ihn umschwirren, verjagen. Auf Rihaku machte es den Eindruck, als ob dieses Luftwesen seine Benommenheit abschütteln wollte. Er kannte diese Bewegungen, denn er war schließlich selbst schon mehr als einmal von einem Baum gefallen.
Der Lindwurm drehte seinen Kopf, blickte auf den lang gestreckten Körper und den leeren Sattel, der darauf befestigt war.
„Ich habe schon wieder meinen Reiter verloren“, sagte er mit verdrießlicher Stimme, „ich werde nie ein Drache der Kavallerie der Hohen Lüfte werden.“
Er wirkte traurig. Soweit Rihaku eine solche Regung überhaupt beurteilen konnte bei einem Wesen mit dem Maul eines Krokodils und den Augen einer Kobra.
„Das war doch ein ausgezeichneter Flug“, sagte er mit tröstender Stimme, „und wenn Yokai sich besser sichern würde, wäre er auch nicht hingefallen.“
Der Junge blickte nach oben, wo der große Drachenreiter aufgestanden war und sich unter Flüchen über das Steißbein rieb.
„Oh, er wird ganz schön böse sein“, sagte der Lindwurm leise.
Rihaku konnte kaum glauben, dass sich ein so riesiges und mächtiges Wesen vor diesem ungehobelten Wichtigtuer fürchtete. Er hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen, um den Lindwurm zu trösten. Er sprang herab von dem Gatter und griff nach dem Korb. Er suchte einen besonders großen und glänzenden Elfenapfel heraus. Sofort ging der Kopf des Lindwurms neugierig in die Höhe. Rihaku wusste, wie verrückt diese Wesen nach den goldglänzenden Früchten waren.
„Ist das ein Elfenapfel in deiner Hand?“, fragte der Drache. „Ja. Möchtest du ihn?“
Anstatt eine Antwort zu geben, hob der Lindwurm seinen Kopf in die Höhe, öffnete seine riesigen Kiefer, wobei seine spitzen, diamantenen Zähne in der Sonne glitzerten. Rihaku warf ihm den Apfel zu. Mit einer schnellen, geschickten Bewegung schnappte der Drache danach und die Frucht verschwand in seinem Maul. Dann schloss er für einen Moment genüßlich die Augen.
„Hm. Lecker!“, rief er, „es gibt nichts, was so gut schmeckt wie ein Elfenapfel.“
Rihaku, der ja durchaus seine eigenen Erfahrungen mit diesen Früchten gemacht hatte, zog es vor, zu schweigen.
„Übrigens“, fuhr der Lindwurm fort, „mein Name ist Ryu.“
„Ich heiße Rihaku. Und mir hat gefallen, wie du geflogen bist.“
„Ich denke, dass da nicht jeder deine Meinungen teilt“, gab Ryu zurück.
Sein Blick ging hangaufwärts. Von dort aus kam Yokai angestapft. Er trat dabei auf, als wolle er mit jedem Schritt gleich eine Ganze Gattung lästiger Insekten unter seinen Stiefeln zerquetschen. Sein breites Gesicht war immer noch zornesrot, seine Augen zusammen gekniffen zu zwei schmalen, schwarzen Strichen.
„Das war`s!“ brüllte er, kaum dass er in Hörweite war, „das war das letzte Mal, dass du mich abgeworfen hast!“
Ryu senkte demütig seinen massigen Kopf und schloss verlegen seine Augen.
„Oh, edler Yokai“, sagte er, „es tut mir leid, dir als meinen Reiter Schande gebracht zu haben. Aber ich werde...“
„Nichts wirst du!“ fuhr der Kavallerist dazwischen und begann, dem Lindwurm den Sattel abzunehmen, „Ich verstoße dich hiermit aus der Kavallerie der Hohen Lüfte!“
Der Drache riss seine Augen auf.
„Aber das kannst du nicht machen!“ rief er verzweifelt, „dann muss ich Wolkenhort verlassen!“
Jeder in dem kleinen Königreich wusste, dass es herrenlosen Lindwürmern verboten war, in Wolkenhort zu leben. Wurden sie verstoßen, so waren sie gezwungen, ihr weiteres Leben im Leeren Land zu fristen, einer riesigen Steinwüste weit im Norden, jenem unwirtlichen Ort, von dem – wie es heißt – alle Drachen ursprünglich stammten. Kein Leben gab es dort, keine Tiere und Pflanzen, auch keine Menschen, nur einige uralte Drachen, verstoßen seit Jahrtausenden, fristeten dort ihr einsames und trauriges Dasein.
„Und ob ich das kann!“ bellte Yokai, „ich bin Hauptmann der Kavallerie der Hohen Lüfte und dir als Reiter zugeteilt!“
„Kannst du“, warf Rihaku vorsichtig ein, „Ryu nicht einfach verschenken? Dann müsste er nicht in das Leere Land.“
Der Kavallerist sah den Jungen verblüfft an. Offensichtlich hatte er ihn in seiner Wut noch gar nicht bemerkt. Für Männer wie Yokai waren die Menschen in den Dörfern rund um die Burg so bedeutungsvoll wie die Wolken am Himmel und das Gras unter ihren Füssen.
Dann begann er laut schallend zu lachen.
„So“, sagte er mit höhnischer Stimme, „und wem soll ich den Lindwurm schenken? Dir etwa, Bauernjunge?“
„Na ja, warum nicht?“
Yokais Lachen wurde noch ein wenig lauter.
„Stimmt! Warum eigentlich nicht? Von mir aus kannst du ihn behalten. Hab viel Freude mit diesem Tollpatsch von einem Lindwurm.“
Sagte es, warf den Sattel über seine Schulter und stapfte – immer noch vor sich hin kichernd – den Hang aufwärts.

In Wolkenhort war es ja im Grunde nicht verboten, einen Drachen zu besitzen. Das Privileg, auf ihnen zu reiten und sich ihrer magischen Fähigkeiten zu bedienen, war allerdings nur den Mitgliedern der Kavallerie der Hohen Lüfte vorbehalten. Diese Wesen durften auch nicht vor einen Karren gespannt werden oder gar einem Pflug, es war überhaupt verboten, ihnen irgendwelche körperlich anstrengenden Tätigkeiten aufzubürden. Eigentlich konnte man sich die Lindwürmer nur als etwas überdimensionierte Schoßtiere halten.
Natürlich wirkten Rihakus Eltern nicht gerade hocherfreut, als ihr Sohn von seinem Botendienst mit einem halbwüchsigen rotgoldenen Berglindwurm zurückkehrte. Andererseits brauchten diese Wesen auch nicht viel, sie lebten vom Licht der Sonne und den Elfenapfel ein- oder zweimal in der Woche konnten die Bauersleute gut verschmerzen.
An den Abenden, nachdem die Sonne untergegangen war in Kleegrün und die Menschen – wie es überall auf dem Lande üblich war – zu Bett gegangen waren, schlüpfte ein Junge aus dem Haus seiner Eltern und huschte auf die Wiese, die sich hinter dem Bauernhof befand. Und im Licht des Mondes, nur bezeugt von den kleinen Tieren der Nacht, von denen sich einige gelegentlich verwundert die Augen rieben, versuchte ein zehnjähriges Bauernkind auf einem rotgoldenen Lindwurm zu reiten, auf einem aus alten Decken und Stroh gebastelten Sattel, mit einem alten Hanfseil gesichert und sich an der Mähne des Drachen klammernd. Und jedesmal ging gut eine Stunde später derselbe Junge zurück zum Haus seiner Eltern, diesmal allerdings deutlich langsamer und gelegentlich leicht hinkend, wobei er sich die eine oder andere schmerzende Stelle seines Körpers – zumeist im hinteren Bereich - rieb.
Rihaku hatte es sich deutlich einfacher vorgestellt, ein Drachenreiter zu werden. Es war ganz sicher nicht böser Wille von Ryu, dass er immer wieder abgeworfen wurde, aber der Lindwurm war nun mal so ungeschickt wie ein Welpe, wenn er versuchte, seinen eigenen Schwanz zu jagen. Aber sie machten Fortschritte. Rihaku hatte es mittlerweile geschafft, dem Drachen auszureden, Spiralen oder gar Loopings zu fliegen, während er auf seinem Rücken saß. Und sie arbeiteten ganz gut an den vielen anderen viel zu plötzlichen Richtungsänderungen, den Sturzflügen und Luftsprüngen, den Wellenbewegungen und dem Schlängeln und sogar beim Landen schaffte es Ryu immer häufiger, zuerst mit den Füssen aufzusetzen anstatt dadurch abzubremsen, dass er mit dem Kopf durch das Gras der Wiese pflügte. Natürlich war es nicht einfach, all das in der Dunkelheit der Nacht zu üben. Für Ryu war das kein Problem, Drachen sahen selbst in einer mondlosen Nacht ebenso gut wie am helllichten Tage. Rihaku konnte allerdings an solchen Abenden oft erst daran, dass ihm plötzlich das Blut direkt in das Gesicht zu schießen schien, erkennen, dass er wieder einmal mit dem Kopf nach unten auf dem Rücken des Lindwurms hing.
Aber dann kam der Tag der Hochzeit des Thronfolgers von Wolkenhort mit der Prinzessin von Silberstern, der Tochter eines Königs aus den Ebenen. Dies war natürlich verbunden mit den größten Festivitäten, die man sich nur vorstellen konnte, denn wenn es etwas gab, wovon die Herrscherfamilie der Wolfsherzen wirklich etwas verstand, dann war es das, ordentlich zu feiern. So etwas ließ sich natürlich niemand in Kleegrün entgehen, Rihaku und Ryu allerdings durften nicht mit nach Hundert Wasserfälle, denn in der Hauptstadt waren Drachen, die nicht Mitglied waren bei der Kavallerie der Hohen Lüfte, verboten und da keiner der Dorfbewohner es zulassen wollte, dass der Lindwurm alleine zurückblieb zwischen all den Elfenäpfelbäumen, musste auch Rihaku auf die Feierlichkeiten verzichten. Dieser war allerdings nicht traurig darüber, denn auch die Drachenreiter auf der Burg waren an diesem Tag gemeinsam mit ihren Lindwürmern in Hundert Wasserfälle. Man ließ nur Tora, eine verdiente alte Kämpferin der Kavallerie der Hohen Lüfte und ihren Lindwurm Oni als Besatzung zurück. Rihaku war klar, dass diese beide den Feiertag sicherlich zu nichts anderem nützen würden, als sich gründlich auszuruhen.
Das bedeutete, dass er an diesem Tag ungestört Flugübungen mit Ryu machen konnte! Und zwar bei hellem Sonnenschein.
Kaum waren alle Dorfbewohner von dannen gezogen und die Drachenreiter in geschlossener Formation nach Süden geflogen, packte er die alten Hanfseile aus und stieg auf den Rücken des Lindwurms.
Sie übten ein paar Mal den Start, wobei Rihaku zwar einige Male recht bedenklich an der Mähne Ryus baumelte, aber kein einziges Mal herabstürzte.
„Wir sollten es heute probieren“, rief er dem Drachen nach einem besonders gelungenen Start und einer sich daran anschließenden sanften Landung zu, „wir sollten richtig fliegen.“
Er deutete mit den Finger in den blauen Himmel.
„Und zwar dahin“, fügte er hinzu.
„Bist du dir sicher?“, fragte Ryu vorsichtig, „wenn du von da oben abstürzt, wirst du mehr riskieren als ein paar blaue Flecken.“
„Ich bin mir ganz sicher“, antwortete Rihaku mit sicherer Stimme, „ich weiß, dass du jetzt soweit bist. Und ich bin es auch.“
Ryu nahm einige Schritte Anlauf, so wie sie es schon viele Male geübt hatten in den Nächten und flog los. Sanfte Wellenbewegungen gingen durch seinen Körper, er tauchte hinein in die Luft, durchquerte sie mit Bewegungen, die denen einer gewaltigen Schlange glichen. Sie stiegen immer höher und Rihaku konnte es sich nicht verkneifen, laut zu jubeln und vor Freude zu singen. Endlich flog er! Und es war einfach wunderbar! Sie überflogen die Gipfel der Grauen Zwillinge, Rihaku erkannte deutlich die Reste von Schnee auf ihren zerklüfteten Graten. In der Ferne konnte er sogar die Hauptstadt sehen mit ihren Wasserfällen.
„Ich könnte ewig so weiterfliegen“, rief er voller Begeisterung.
„Ich auch“, sagte Ryu, „aber ich denke, wir sollten wieder landen. Mir gefällt nicht, was da aus dem Norden kommt.“
Rihaku blickte in die angegebene Richtung. Was er dort sah, hielt er zunächst für eine einzelne dunkle Wolke. Doch als er genauer hinschaute, stockte ihm der Atem.
„Ist das ...?“
„Ganz genau“, ergänzte Ryu mit ernster Stimme, „das ist ein Steindrache.“
„Er fliegt direkt auf Kleegrün zu! Was hat er vor?“
„Alles zerstören, was er hasst. Und diese Wesen hassen praktisch alles.“
„Und die Mitglieder der Kavallerie der Hohen Lüfte sind alle in Sanfte Winde! Er wird keine Gegenwehr erfahren. Können ... können wir da nichts dagegen tun?“
„Nur die Kavallerie kann gegen ein solches Wesen kämpfen. Und wir sind beide keine Mitglieder der Truppe. Mich hat man sogar hinausgeworfen.“
„Aber es ist weit und breit niemand da außer uns.“
Ryu schlängelte sich an den steilen Graten des östlichen der Grauen Zwillinge entlang.
„Na ja, ich hätte da schon eine Idee“, sagte er, „ich bin zwar nicht der beste Flieger, aber wenn sich die alten Lindwürmer über die Steindrachen unterhielten, habe ich immer sehr gut aufgepasst. Es gibt da eine Schwachstelle.“
Er fand eine dunkle, schattige Stelle unterhalb eines überhängenden Felsens. Er landete so sanft, dass sich Rihaku keine Mühe geben musste, um im Sattel zu bleiben.
In kurzen Worten erklärte der Lindwurm seinen Plan. Er war wahnwitzig und gefährlich. Aber Rihaku erklärte sich damit einverstanden. Er stieg hastig ab und suchte sich einen Strauch des Wolligen Schneeballs. Er schnitt einen etwa armlangen, kräftigen Ast ab und spitzte ihn mit seinem Taschenmesser an einem Ende an. Dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten.

Es war ein alter Drache. Falten, so groß wie Risse in einem ausgetrockneten Flussbett, durchzogen seine hornige Haut. Dieser Steindrache war vermutlich mehr als tausend Jahre alt. Und wie alle Wesen, deren Lebensdauer ein natürliches Maß um ein mehrfaches überschritten hatten, war er griesgrämig und fühlte sich von der Welt enttäuscht. Seine Flügel hatten eine Spannweite von fünfzig Schritten, sein Körper war noch einmal so lang. Majestätisch auf dem Wind gleitend näherte er sich dem Dorf. Er sah Hütten aus Holz, Dächer aus Stroh, alles Materialien mit der Eigenschaft, hervorragend zu brennen. In der Vorfreude auf das anstehende Zerstörungswerk züngelten dünne Rauchfahnen aus seinen riesigen Nasenlöchern.
Er ging über in den Sinkflug. Als erstes Ziel wollte er sich einen großen Bauernhof vornehmen. Er atmete tief ein, denn auch Drachenfeuer benötigte Sauerstoff, um seine volle Wirkung entfalten zu können. Er war so konzentriert auf sein Zerstörungswerk, dass er den halbwüchsigen Lindwurm, der nun aus dem Schatten eines Felsens hervor geschossen kam, nicht bemerkte. Und ebenso wenig fiel ihm der Junge auf, der sich auf dessen Rücken klammerte und einen lächerlich kleinen Stock in der Hand hielt. Und obwohl der alte Steindrache im Sinkflug immer schneller wurde, schaffte es der junge Lindwurm, sich der Unterseite seines gewaltigen Körpers anzunähern. Er befand sich unter dem Bauch, dann unter dem Hals. Und während der scharfe Fahrtwind heftig an dem Jungen auf seinen Rücken zerrte, näherte sich der junge Drache seinem alten Vetter immer mehr an. Es war nun nicht mehr weit bis zu dem Bauernhof. Eine einzige, kräftige Flamme aus seinen Nüstern und diese Menschenbauten würden sich in ein Meer aus Flammen verwandeln. Noch einmal holte er tief Luft. Und spürte ein plötzliches Stechen an seinem Halsansatz, dort, wo seine Haut am dünnsten war. Fast im selben Augenblick zog der Lindwurm in einem waghalsigen Manöver seitlich weg. Und der Steindrache, der das nicht mehr verhindern konnte, stieß seinen Flammenstrahl aus. Doch da kam kein Feuer aus seinen Nüstern. Stattdessen jagte eine dünne, blaue, überaus heiße Flamme direkt aus einen dünnen Loch in seinem Hals. Dieses Feuer lief – vom Fahrtwind gelenkt – über seine Brust, seinen Bauch und seine angelegten Hinterbeine. Er stieß einen gewaltigen Schrei aus, brach auf der Stelle den Sturzflug ab und zog wieder in die Höhe. Bedingt durch dieses Flugmanöver kamen nun auch andere Teile seines Körpers mit den Flammen in Berührung. Es ertönte ein weiterer Schrei, noch lauter als der vorhergehende und vermutlich überall im ganzen Königreich Wolkenhort zu hören. Dann drehte der alte Steindrache ab und flog eilig zurück nach Norden in das Land der Felsen und des Eises. Er zog eine längliche Rauchwolke hinter sich her und hinterließ den scharfen Geruch von verbranntem Leder in der Luft.
Mit sanften Bewegungen schlängelte sich Ryu über die Strohdächer von Kleegrün.
„Was wird mit ihm geschehen?“, fragte Rihaku, der immer noch den spitzen Stock in der Hand hielt, „wird er sterben?“
„Das glaube ich nicht. Diese Wesen sind sehr zäh. Seine Wunden werden heilen. Aber ich denke, dass er uns so bald sicher nicht wieder besuchen kommt.“
Er sank zu Boden, landete und stolperte dabei über einen Maulwurfshügel. Rihaku fiel aus dem Sattel und landete äußerst unsanft in einem Brombeergestrüpp.
„Na ja“, sagte er grinsend, während er sich freikämpfte, „es hätte schlimmer kommen können.“

Die Abendsonne schien über der königlichen Burg und sorgte dafür, dass die Gischt der Wasserfälle in allen Farben des Regenbogens schimmerte.
Alle Drachen der Einheit standen auf dem großen Vorhof des Schlosses, neben ihnen hatten sich die Reiter in ihren Paradeuniformen aufgestellt.
In ihrer Mitte allerdings stand der Herrscher, außerdem ein zehnjähriger Junge und ein dreijähriger Drache.
„Und somit“, rief König Samoya der Dritte, „ernenne ich dich, Rihaku, zum Mitglied der Kavallerie der Hohen Lüfte! Und du wirst der Reiter sein von Ryu, dem rotgoldenen Lindwurm!“
Die Reiter jubelten und applaudierten (nur Yokai hielt dabei etwas zurück), die Drachen brüllten.
In den Lärm hinein wandte sich der König mit leiser Stimme an den Jungen.
„Und was wird eure nächste Heldentat sein?“, fragte er lächelnd.
„Als nächstes“, antwortete Rihaku und strich sich über die Kratzer in seinem Gesicht, „als nächstes werden wir das Landen üben.“
 



 
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