Drama im Alltag

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Anonym

Gast
Erster Akt

"Können wir nicht mal machen, was alle Leute machen? Einen Film ausleihen, den Pizza-Dienst bestellen und uns vor das Fernsehen hocken?!"
Meine Töchter brauchen mich nicht lange zu überreden. Ja, wir machen endlich mal das, was alle machen! Ich habe ja auch noch die Karte vom Video-Verleih, vor anderthalb Jahren stolz erstanden, um „Einer flog über das Kuckucksnest“ sehen zu können. Meine erste und einzige Ausleihe.
Diese Mal sehen wir aber nur einen Frauenfilm, verlangen meine Töchter. Auch wenn ich heulen werde, wie immer. „Zeiten des Aufruhrs“ wird mir empfohlen, der sei garantiert etwas für mich, weil es um eine Beziehungsgeschichte gehe. Ja, ich kenne den ungefähren Inhalt aus der Zeitung. Nein, ich kenne ihn nicht mehr. Habe ihn vergessen. Weiß nur noch, dass es eine erneute Zusammenarbeit von Leonardo di Caprio und Kate Winslet war.



Zweiter Akt

In der Videothek den Film gesucht, gefunden, bei einer freundlichen jungen Dame die entsprechende Marke abgegeben. "Tippen Sie Ihre PIN-Nummer ein", sagt sie. Ich habe für diese Karte eine solche Nummer?! Keine Ahnung, welche das sein soll. Vierstellig. Da muss ich doch eine genommen habe, zu der ich einen persönlichen Bezug habe. Ich habe eine Menge Bezüge zu vierstelligen Daten. Also gebe ich ein Geburtsdatum ein - falsch. Ein anderes - wieder falsch. "Zeigen Sie mir Ihren Ausweis und denken Sie sich eine neue PIN aus," bemerkt die Angestellte seufzend. Sie kennt das vermutlich schon. Mittelalte Frau leiht sich ein Mal im Leben einen Film aus und weiß natürlich ihre PIN nicht. Also neue vierstellige Zahl, zu der es einen persönlichen Bezug gibt, gewählt, Film bekommen, ab nach Hause.



Dritter Akt

Das Auto in der Garage geparkt, mal kurz die Filmhülle geöffnet. „Up in the air” mit George Clooney springt mir entgegen. Hat diese Frau mir den falschen Film gegeben! Also das Auto wieder herausgesetzt und zurück zum Videoladen. Die junge Frau sagt ungerührt: "Sie haben die falsche Marke genommen. 'Zeiten des Aufruhrs' hängt genau darüber. Aber Sie sind nicht die Erste, der das passiert." Da bin ich aber froh. Ich erwidere, dass ich sogar meine vor 15 Minuten neu erhaltene PIN-Nummer noch weiß und nun den richtigen Film ausleihen kann.



Vierter Akt

Pizza-Dienst angerufen, der Bote bringt die bestellten Dinge sofort und verlässt fluchtartig diese im Moment männerfreie Zone, nur faule Weiber, die sich noch nicht mal ein Butterbrot schmieren können und die sich nun vor den Fernseher hocken. Erwartungsvoll. Wir warten. Und warten.
Die DVD funktioniert nicht. Gar nicht. Ich belehre meine Töchter, dass es zwecklos ist, wenn ich versuche, einen Film auszuleihen.



Fünfter Akt

Eine Tochter holt ihren Laptop, legt den Film dort ein und wir sehen ihn - Schulter an Schulter. Aber der Film hängt. Er wiederholt mehrere Szenen immer wieder. Also sehen wir immer und immer wieder die beiden Hauptdarsteller, wie sie sich anschreien, wie sie sich in der Küche lieben, wie sie ihre Nachbarn besuchen, wie sie sich ihr Leben ausmalen. Ich lege den Schwur ab, dass ich nie, niemals wieder einen Film ausleihe. Es wird ein langer Abend, bis wir endlich den kompletten Film gesehen haben. Aber das macht nichts, das mit der Länge des Abends, der auch einige Tränchen kostet, denn er bietet die Grundlage für eine heiße Diskussion.



Sechster Akt

Ich bringe den Film zurück und erkläre einer säuerlich blickenden älteren Dame, dass er sich nicht auf einem normalen DVD-Player abspielen ließ und an mehreren Stellen hing. "Das nützt gar nichts, wenn Sie das sagen. Die machen hier nichts dran", ergänzt ein neben mir stehender ebenfalls mürrisch drein blickender Herr. Ich beachte ihn nicht, gehe zum Regal, nehme die Marke für „Das Leben der anderen“ in die Hand und leihe diesen Film aus. Es ist der richtige (ich prüfe es sofort nach) und meine PIN-Nummer weiß ich nach 24 Stunden noch immer. Ich fühle mich so, als würde ich ständig irgendwelche Filme ausleihen. Schließlich machen das ja auch alle Leute.



Siebter Akt

Diesen Film sehen wir ohne Probleme. Das Leben der anderen mag so sein, dass sie dauernd noch Pizza essen, während sie ausgeliehene Filme sehen, aber wir essen an diesem Abend ganz brav nur Butterbrote. Auch an diesem Abend gibt es eine heiße Diskussion. Kann nur hoffen, dass Erich Mielke sie auch irgendwie mitbekommen hat. Und Ulrich Mühe natürlich.



Achter Akt

Der Film wird zurückgebracht und ich gehe dieses Mal mit leeren Händen aus der Videothek, denn jeden Abend einen aufwühlenden Film zu sehen - das ist nichts für eine zarte Seele wie mich. Jetzt reicht es erst mal nur wieder für Frontal 21 und die Tagesschau. Die PIN-Nummer weiß ich aber noch, denn damals ... aber das ist eine andere Geschichte.


Neunter Akt

Fünf Jahre später komme ich wieder an der Videothek vorbei. Also, da hätte sie sein müssen. Aber nun ist dort ein Bioladen. Das ist gut. Denn die PIN – die habe ich vergessen …
 



 
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