Dramatische Dienstagsdiskussionen

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Warui

Mitglied
Vorneweg: Dies soll kein Theaterstück, sondern ein Theatersketch sein!
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Personen:
Lehrer,
Klasse,
Bertolt Brecht,
Peter Handke,
Wolfgang Hildesheimer,
Mao Tse-Tung

Ort der Handlung:
Ein etwas stickiger Raum in einer Schule, die sich wiederum in einer beinahe beliebigen Stadt befindet. Auf dem Stundenplan steht Deutsch Leistungskurs und auf dem Lehrplan Dramentheorie.

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Lehrer:
Ladies and Gentlemen, auch wenn die Pausenklingel derzeit in den Streik getreten ist, weil der Schule die Mittel fehlen, sie angemessen zu entlohnen, sollten wir uns nicht scheuen, mit dem Unterricht zu beginnen.
Wie anscheinend bemerkt wurde, habe ich einen Zettel am Schwarzen Brett der Schule ausgehängt und um seltene Vollzähligkeit und Pünktlichkeit nebst Chips und ähnlichen Konsumprodukten gebeten.

Die Klasse murrt etwas über unzumutbare Arbeitszeiten wie Klausurbeginn um 7:45 Uhr und ähnlich unchristliche Zeiten. Vereinzelt genießen Schüler bereits die nicht erteilte Erlaubnis zum Essen.

Hört mal auf mit dem Meckern und mir lieber zu. Ich weiß, es fällt euch schwer, aber dafür bekommen wir heute mehr Theater als sonst geboten. Drei Herren haben sich nach der Analyse der neuesten PISA-Studie für Bildungszwecke zur Verfügung gestellt und möchten euch an ihrem lehrsamen Disput teilnehmen lassen. Für so eine Ehre wären wir damals sogar zum Unterricht gegangen.

Klasse gähnt zustimmend, wenn auch leicht verwirrt.

In dem Moment geht die Tür auf und drei angegraute Männer in Anzügen kommen herein, stellen sich vor die Tafel, übersehen den Lehrer, und schütteln sich den metaphorischen Staub aus den Haaren. Das Klassenzimmer ist überrascht und reagiert, indem es sich mit den Überbleibseln der Dekaden anreichert. Alle husten. Irgendjemand am Fenster erbarmt sich und öffnet selbiges. Der Dunst entkommt in die Freiheit. Alles atmet auf. Die Herren setzen sich Mützen mit Plastik-Heiligenscheinen auf. Brecht tritt vor.


Brecht:
Guten Morgen, Genossinnen und Genossen. Mein Name ist Berthold Brecht, auch bekannt als Bertolt Brecht. Sie sollten mich kennen.

Die vorderen Reihen nicken entsetzt. Weiter hinten bastelt man inzwischen Wurfgeschosse aus Chips und Cola.

Brecht wird verdängt.


Handke:
Hallochen, ich bin Peter Handke. Und das mit den Kappen, das war Bertolts Idee.

Er zeigt anklagend mit dem Finger auf seinen Vorredner und sticht ihm dabei fast ein Auge aus. Brecht ist befremdet und beleidigt.

Hildesheimer:
Ja, aber du hast mitgemacht, Peter.
Wendet sich grinsend an die Klasse.
Ich bin übrigens Wolfgang und ich werde mich hier wohl amüsieren.

Klasse wacht langsam auf. Der Lehrer bildet mit ein paar Schülern einen Stuhlkreis und stellt höchstpersönlich 3 Stühle in einem diskussionswürdigen Dreieck Sodann bittet er die Gäste in die Mitte und setzt sich selbst mit in den umgebenden Kreis.
Hildesheimer und Handke drehen ihre Stühle um. Hildesheimer setzt sich auf die Lehne und kippelt, Handke flegelt sich breitbeinig auf seine Sitzfläche und legt den Kopf auf die Arme. Brecht stützt sich mit einer Hand auf die Stuhllehne und stellt das eine Bein hinter das andere, in einer für ihn typischen Pose, wie sie oft auf den bebilderten Vorderseiten seiner Lehrstücke abgebildet sind.
Nach einer Minute betretenen Schweigens, in der sich keiner bewegt, räuspert sich der Lehrer verlegen.


Lehrer:
Verzeihung, vielleicht sollte ich noch erwähnen, was das Thema ist ... Ich dachte mir, dass die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Theater bezogen auf die Öffentlichkeit ein interessanter Diskussionsansatz ist.

Brecht nickt. Hildesheimer schreibt Briefchen mit Schülerinnen.

Brecht:
Da kann ich ja gleich was dazu äußern, so als Erfinder der V-Effekte.
Wie Peter bereits erwähnte, stammt die Idee mit den Heiligenscheinen von mir. In einem meiner Stücke habe ich sie bereits als Symbol von Scheinheiligkeit ver ...

Hildesheimer fällt ihm ins Wort.

Hildesheimer:
Was du übersiehst, mein Lieber, ist die offensichtliche Diskrepanz zwischen deiner Intention und der Wirkung. Jedenfalls bei unseren Zuschauern, weniger wohl beim Leser und dem Lehrer, der gerade korrigiert.

Handke:
Das sehe ich ähnlich. Unser Publikum ist nun wohl kaum verfremdet und distanziert und lauscht deinen Worten ... nun gut, distanziert wohl schon, aber ansonsten werden sie sich gerade mit der Frage beschäftigen, wie schnell oder langsam ein Gehirn vermodern mag.

Hildesheimer:
Zweifellos auch ein Beitrag zur Bildung.

Brecht brummelt etwas

Brecht
Vielleicht habt ihr Recht. Man könnte ja auch sonst den Eindruck gewinnen, dass nur alte Herren mit Kappen Theater machen könnten, dabei leben ... lebten wir doch in einer Gesellschaft, in der das jedem möglich war. Dem Mann an der Straßenkreuzung genauso wie dem Professionellen im Theater. Manche tun das ja heute noch. Ein wunderbarer Beweis dafür, dass Theater es noch heute vermag, die Menschen zu prägen, sonst wäre es längst abgeschafft.

Er schaut herausfordernd in die Runde.

Hildesheimer:
Also das ist nun schon beinahe absurd, was du hier von dir gibst. Ich muss schon zugeben, du besserst dich, aber an das angebliche "echte Leben" reichst du dennoch nicht heran.
Was Theater dem Zuschauer vor Augen halten soll, ist doch das Leben und somit den Zuschauer selbst. Im Idealfall erhält man zwei spiegelnde Wände und somit ein Perpetuum Mobile; jedenfalls, wenn der Zuschauer sich ändern würde.

Handke:
Da muss ich dir aber teilweise widersprechen. Zwar sollte der Zuschauer das Theater auch aufs eigene Leben beziehen, aber dieser Idealfall tritt nie ein, da das Theater dem Zuschauer seinen eigenen unüberwindbaren Rahmen ebenso überdeutlich vorhält. Die Bühne und der gesamte Theater-Kontext ist einfach ein zu deutliches Zeichen dafür, dass es sich nicht um das Leben handelt und die speziellen Fälle, die hier behandelt werden, sind in ihrer Struktur viel zu begrenzt, um ein passendes Gegenstück im Leben zu finden. Viel wirksamer dagegen ist die Wirklichkeit, wenn wir dort etwas aufführen, etwas präsentieren und repräsentieren ...

Er wird von einem Schüler unterbrochen.

Schüler:
Und wer führt Regie?

Handke sackt zusammen und wird etwas sauer, doch Brecht redet neutralisierend halb auf ihn, halb auf die Klasse ein.

Brecht:
Natürlich muss jemand Regie führen!
Derjenige ist dann ein Lehrer für die Masse, durchaus eine anspruchsvolle Aufgabe.
(Hildesheimer verschluckt sich).
Er soll ihnen den Sinn im Leben zeigen,
(Hildesheimer kämpft mit Hustenanfällen)
und sie auf den Pfad der Tugend führen, dem Kommunismus entgegen, zum Wohl aller Menschen.

Hildesheimer inzwischen mit echten Atemproblemen. Ein Schüler klopft ihm auf den Rücken, um den imaginären Apfelbrocken aus der Luftröhre zu bekommen. Es gelingt.

Handke holt tief Luft.


Handke:
Also weißt du, Bertolt, das wollte ich dir schon immer sagen: Ich finde deine Einstellung ja prinzipiell ganz annehmbar, allerdings stellt sich mir immer noch die Frage, ob es Sinn macht, Theater so aufzuziehen. Rein geschichtlich war es doch immer so, dass Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene entweder mit Gewalt ...

(Mao lugt zum Fenster rein)

... oder subtilen Andeutungen oder eher Schubsen erreicht wurde. Mit Vorschlägen allein hat noch keiner die Taube vom Kopf verscheucht. Noch dazu schlägst du das Ganze in einem Schauspiel vor.

Ein Schüler in der Nähe der Tafel steht auf und schreibt an selbige "Er redet tatsächlich unterstrichen" und darunter "Schauspiel"

Wer soll das bitte ernst nehmen?

Hildesheimer:
Fühle mich verpflichtet, dir beizupflichten.
Doch in meinen Augen ist es sowieso nicht rechtens, den Zuschauern vorzugaukeln, dass es tatsächlich überhaupt einen Sinn im Leben gäbe. Ich persönlich erwarte nicht einmal, dass der Zuschauer sich ändert. Irrelevant. Im Gegensatz zu euch zeige ich auch keine so genannten "Verbesserungsvorschläge", sondern fasse einfach die Realität in Zeilen ein.

Derselbe Schüler ergänzt das Tafelbild zu "Schauspiel <> Realität".

Mir erscheinen zum Beispiel Bertolts Stücke sehr viel absurder als das, was ich geschrieben habe. Wunschdenken. Utopien. "Der gute Mensch". Um Himmelswillen.

Hildesheimer lacht. Brecht funkelt ihn böse an.

Lehrer:
Meine Herren, es tut mir Leid, sie unterbrechen zu müssen, aber unsere für die Bildung gekaufte Zeit ist um. Die Mittel wurden gerade gekürzt: Die Politiker wollen höhere Diäten, sich weiter verschulden und demnächst in den Krieg ziehen, das kostet alles Geld und fehlt dann woanders.

Er komplimentiert die Gäste heraus und wendet sich an die Klasse.

Okay, Leute, das war's für heute, jetzt ist Mittagspause, ich will auch noch was haben. Raus mit euch.

Er schließt die Tür.

-Ende-
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So ... ich hoffe, ihr hattet genausoviel Spaß beim Lesen wie ich beim Schreiben :D
Kommentare und kritik jeglicher Art sind erwünscht und willkommen ;)

Mata ne
Warui
 
D

Denschie

Gast
Hallo Warui,
ich fühlte mich sehr gut unterhalten,
besonders im Mittelteil. Die Dialoge sind
witzig, die Regieanweisungen stimmig.
Der Anfang holpert. Die Einführung des
Lehrers ist ein unnötig langer Einstieg.
Ich würde mich mehr auf die Situation mit
den drei Herren konzentrieren. Das strafft
und ermüdet nicht gleich zu Beginn.
Eine schöne Idee!
(Wenngleich ich zugeben muss, von Dramentheorie
so gut wie nichts zu verstehen. Aber das tat
dem Lesen, zumindest meiner Einschätzung nach,
keinen Abbruch.)
Viele Grüße,
Denschie
 

Warui

Mitglied
Hallihallo Denschie,

Danke für den Kommentar und die Bewertung.

Es freut mich, dass du unterhalten wurdest, das lag mit in meiner Absicht :)
Tatsächlich lebt ja Theater von den Dialogen und gelesenes Theater von der Möglichkeit, sich das vor Augen führen zu können und ich war der Meinung, dass ich dafür erstmal einen geeigneten Raum schaffen musste, eine Szenerie, eifach einen plausiblen Rahmen. Ich persönlich mag den Lehrer ob seiner trockenen Art, der man nur durch eigene Vorstellungskraft einen ironischen Unterton beimengt oder auch nicht (Deshalb ist er für mich übrigens auch kein "flacher Charakter").
In der ursprünglichen Papierversion stand übrigens als ANmerkung:
"Alle originalen lebendigen und toten Assoziationsmöglichkeiten sind vom Autor beabsichtigt und unterliegen ansonsten nur der Fantasie und geistigen Zensur des Lesers :D"

Von wegen Hintergrundwissen: Ich hatte das Stück eigentlich mit dem Hintergedanken geschrieben, dass man kein Hintergrundwissen braucht, sondern einfach nur Sinn für Humor .... die Kenntnis gewisser Tat- und Sachbestände kann das Vergnügen natürlich noch steigern, wird aber nicht benütigt ;)
Danke, dass du mich in dieser leicht befangenen Einschätzung meinerseits bekräöftigst ^.^
Der Teufel und die Pointe liegen bekanntermaßen im Detail, aber ich würde so manchen Witz nur ungern selbst erklären, sondern fände die Entdeckung dieser "Kleinigkeiten" durch andere Lupianer sehr viel unterhaltsamer :D

Gute Nacht und Mata ne
Warui

Ps: Ok, ein was kann ich ja verraten, das wird so an sich auch nicht offensichtlich:
In der Originalfassung waren die Personen noch mit den Initialen abgekürzt. Aus Peter Handke wird dann sinnvollerweise PH. Als dieser zusammensackt, wird er sauer und wird erst von BB wieder aufgebaut (ab nach oben -> neutralisiert) ;)
Im Prinzip ein Chemiewitz ^_^
 



 
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