Dreizehn Prozent Steigung

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fah

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Dreizehn Prozent Steigung

Die Strecke, die ich am häufigsten laufe, beginnt mit dreizehn Prozent Steigung der ersten zwei Kilometer. Schier endlose Ebene schließt sich an. Der Rückweg erfreut am Ende mit Gefälle. Der Lauf fing an wie immer. Funktionskleidung in drei Schichten, eingewöhnte Schuhe, Handy für den Notfall, Schlüsselbund und Ausweis in der Weste. iPod am Oberarm mit Musik der Stones, Der stampfende Rhythmus von ’Satisfaction’ oder ’Paint it Black’ harmoniert für mich ideal mit der Bewegung. Die Sonne stand schon tief. Ich musste mich sputen, damit Heide nicht wieder lange mit dem Essen zu warten hätte. Diese erste Steigung ist hart, aber sie bringt mich stets auf Betriebstemperatur. Meine Beine liefen zuerst wie von selbst. Ich rückte die Sonnenbrille zurecht und fühlte mich gut. Doch ich wurde langsamer und langsamer, strauchelte plötzlich, prallte mit dem Kopf gegen etwas, einen Widerstand; aus dem Nichts - wie eine Wand.
Ich muss gegen eine Wand gelaufen sein. Eine Wand?
Ich lag rücklings am Boden, rappelte mich hoch. Es tropfte von meiner Stirn. Gott sei Dank Schweiß, kein Blut. Vorsichtig trabte ich an, setzte Bein vor Bein und schaute mich dabei um.
Wo bin ich?
Ein seltsamer Untergrund, schlüpfrig. Als liefe man in einem Bachbett. Dunkler als eben noch. Der Weg wie ein Schlauch und überall Wand.
Ich laufe in einem Hohlweg. Wie geht das?
Die Wände schimmerten rötlich. Wenn es jetzt kalt gewesen wäre und die Wände bläulich, dann hätte es ein Gletschertunnel sein können. Aber sie glommen rötlich und es war warm. Meine Nase sog einen feuchten Geruch ein. Der Knopf an den Ohrhörern funktionierte nicht. Der iPod blieb stumm. Kein rockiger Beat der Stones. Statt dessen ein Geräusch, von weiter weg, das sich wiederholte: Bumm-Bumm-Klack-Pause, Bumm-Bumm-Klack-Pause , ... .
Eine Fabrik? Ein Hammerwerk ? Ein Schmied? Merkwürdig. Vielleicht finde ich es ’raus, wenn ich näher dran bin.
Ich musste mich aufs Laufen konzentrieren; es blieb rutschig. Nach einer Kurve im Hohlweg zwei Leute auf einer Bank. Die sollten wissen, wo sie saßen. Als ich näher kam, erkannte ich meine Eltern. Mein Vater kerzengerade sitzend, meine Mutter an ihn gelehnt, sie hielt seine Hand. Er sah durch mich durch, wie er es auch auf dem Totenbett getan hatte. Ich wollte etwas sagen, öffnete den Mund, aber es kam kein Laut. Der Versuch anzuhalten misslang. Meine Beine gehorchten mir nicht, sie liefen weiter. Sie hatten die Erde in 35 Jahren schon zweieinhalb Mal umrundet und ließen sich von zwei toten Alten nicht aufhalten. Da vorn lief noch jemand, langsamer als ich. Wettbewerb mochte ich, wenn ich mir eine Chance ausrechnen konnte zu gewinnen. Sein Laufzeug – ein Witz: Weite Hose und Jacke, einen Hut mit breiter Krempe, Straßenschuhe.
So ein Idiot! Läuft mit Hut und Straßenschuhen! Den schaffe ich mit einem kurzen Spurt!
So war es auch. Hallo, raunte ich ihm im Vorbeiziehen zu, hätte ich ihm gern zugeraunt. Aber – immer noch kam kein Ton aus meinem Mund. Ich erkannte ihn, ein Kollege. Mein Lieblingsfeind, der sich immer meine persönliche Kaffeetasse nahm, obwohl ich mir extra eine hatte bedrucken lassen mit ’Hands off, property of Gerd’. Er konnte kein Englisch oder wollte es nicht können. Außerdem hatte er mich schon ein paar Mal beim Chef angeschwärzt, stritt es aber immer ab. Jetzt ließ ich ihn leicht und locker hinter mir! Beinahe rutschte ich aus vor Freude. Ein Wunder, dass er überhaupt mit den Straßenschuhen vorankam. Der Hohlweg teilte sich.
Wo laufe ich lang? Warum rufe ich nicht Heide an und sage ihr, sie soll mich abholen?
Ich blieb stehen, holte mein Handy aus der Trainingsjacke. Kein Netz! Egal, auch mit Stimme hätte ich ihr sowieso nicht mehr beschreiben können als dass ich nicht wusste, wo ich war.
Ich laufe nach rechts!
Der Weg verbreiterte sich, hatte Gefälle, wand sich einem in der Ferne rhythmisch flackernden Schein entgegen.
Die Geräuschquelle?
Der Untergrund wirkte auch nicht mehr so rutschig. Das konnte auch Gewöhnung sein. Man kann sogar auf blankem Eis laufen. Als die Insel, um die ich in Ausnahmefällen lief, im Winter vor Frosteinbruch vom Rhein überschwemmt worden war, hatte ich es mit normalen Sportschuhen getan und war nicht gestürzt. Beine gewöhnen sich an den Untergrund. Eine lange Rechtskurve öffnete sich.
Da stehen doch meine beiden Söhne? Sie rufen etwas. Kaum zu verstehen.
„Weiter, Papa, mach’ so weiter! Durchhalten! Gleich bist Du am Ziel!“
Ziel? Welches Ziel?, schreie ich tonlos.
Bin ich in einem Wettbewerb gelandet? Wie? Und wo?
Die Beine funktionierten automatisch und zogen mich vorwärts. Das ‚Bumm-Bumm-Klack-Pause’ war immer noch da, nur lauter. Die Wände färbten sich von rötlich zu grau. Ich zerteilte eine Schwade aus muffigem Geruch und stockte mitten im Lauf.
Ein Graben. Ein Graben, mitten in der Laufstrecke! Was ist das denn für eine Organisation?
Notgedrungen nahm ich Anlauf und sprang, es waren höchstens eineinhalb Meter. Trotzdem schaffte ich es nicht, konnte mich gerade noch am rutschigen Rand festkrallen, brüllte meinen Ärger lautlos nach oben.
Was ist das für ein widerlich weiches Zeug?
Festhalten war unmöglich, die zähe Masse gab nach, ich fiel und fiel. Schrie noch immer ohne Ton und Kraft. Überschlug mich, suchte vergebens Halt; gleißendes Licht blendete mich.
Ich liege, will meinen Kopf heben, aber eine Hand drückt mich sanft ins Kissen zurück.
„Nicht so hastig, Herr Renner, nicht so hastig.“
„Wo bin ich?“
„In der Stadtklinik, in besten Händen.“
„Klinik, warum?“
„Sie hatten einen Herzanfall. Zum Glück ganz nah bei Ihrem Haus. Sie waren wohl gerade losgelaufen, und Ihr Herz hat die Steigung nicht mitgemacht.“
„Mein Herz?“
„Ja, Ihre Herzrhythmusstörung hätte schon längst behandelt werden müssen.“
„Herzrhythmusstörung?“
„Ja, Sie haben starke sogenannte ventrikuläre Extrasystolen. Das müssen Sie doch selbst schon gespürt haben, Herr Renner. Das geht dann in etwa so: Bumm-Bumm-Klack-Pause, Bumm-Bumm-Klack-Pause ... .“
 

fah

Mitglied
Dreizehn Prozent Steigung

Die Strecke, die ich am häufigsten laufe, beginnt mit dreizehn Prozent Steigung der ersten zwei Kilometer. Schier endlose Ebene schließt sich an. Der Rückweg erfreut am Ende mit Gefälle. Der Lauf fing an wie immer. Funktionskleidung in drei Schichten, eingewöhnte Schuhe, Handy für den Notfall, Schlüsselbund und Ausweis in der Weste. iPod am Oberarm mit Musik der Stones, Der stampfende Rhythmus von ’Satisfaction’ oder ’Paint it Black’ harmoniert für mich ideal mit der Bewegung. Die Sonne stand schon tief. Ich musste mich sputen, damit Heide nicht wieder lange mit dem Essen zu warten hätte. Diese erste Steigung ist hart, aber sie bringt mich stets auf Betriebstemperatur. Meine Beine liefen zuerst wie von selbst. Ich rückte die Sonnenbrille zurecht und fühlte mich gut. Doch ich wurde langsamer und langsamer, strauchelte plötzlich, prallte mit dem Kopf gegen etwas, einen Widerstand; aus dem Nichts - wie eine Wand.
Ich muss gegen eine Wand gelaufen sein. Eine Wand?
Ich lag rücklings am Boden, rappelte mich hoch. Es tropfte von meiner Stirn. Gott sei Dank Schweiß, kein Blut. Vorsichtig trabte ich an, setzte Bein vor Bein und schaute mich dabei um.
Wo bin ich?
Ein seltsamer Untergrund, schlüpfrig. Als liefe man in einem Bachbett. Dunkler als eben noch. Der Weg wie ein Schlauch und überall Wand.
Ich laufe in einem Hohlweg. Wie geht das?
Die Wände schimmerten rötlich. Wenn es jetzt kalt gewesen wäre und die Wände bläulich, dann hätte es ein Gletschertunnel sein können. Aber sie glommen rötlich und es war warm. Meine Nase sog einen feuchten Geruch ein. Der Knopf an den Ohrhörern funktionierte nicht. Der iPod blieb stumm. Kein rockiger Beat der Stones. Statt dessen ein Geräusch, von weiter weg, das sich wiederholte: Bumm-Bumm-Klack-Pause, Bumm-Bumm-Klack-Pause , ... .
Eine Fabrik? Ein Hammerwerk ? Ein Schmied? Merkwürdig. Vielleicht finde ich es ’raus, wenn ich näher dran bin.
Ich musste mich aufs Laufen konzentrieren; es blieb rutschig. Nach einer Kurve im Hohlweg zwei Leute auf einer Bank. Die sollten wissen, wo sie saßen. Als ich näher kam, erkannte ich meine Eltern. Mein Vater kerzengerade sitzend, meine Mutter in ihrem letzten Kleid an ihn gelehnt, sie hielt seine Hand. Er sah durch mich durch, wie er es auch auf dem Totenbett getan hatte. Ich wollte etwas sagen, öffnete den Mund, aber es kam kein Laut. Der Versuch anzuhalten misslang. Meine Beine gehorchten mir nicht, sie liefen weiter. Sie hatten die Erde in 35 Jahren schon zweieinhalb Mal umrundet und ließen sich von zwei toten Alten nicht aufhalten. Da vorn lief noch jemand, langsamer als ich. Wettbewerb mochte ich, wenn ich mir eine Chance ausrechnen konnte zu gewinnen. Sein Laufzeug – ein Witz: Weite Hose und Jacke, einen Hut mit breiter Krempe, Straßenschuhe.
So ein Idiot! Läuft mit Hut und Straßenschuhen! Den schaffe ich mit einem kurzen Spurt!
So war es auch. Hallo, raunte ich ihm im Vorbeiziehen zu, hätte ich ihm gern zugeraunt. Aber – immer noch kam kein Ton aus meinem Mund. Ich erkannte ihn, ein Kollege. Mein Lieblingsfeind, der sich immer meine persönliche Kaffeetasse nahm, obwohl ich mir extra eine hatte bedrucken lassen mit ’Hands off, property of Gerd’. Er konnte kein Englisch oder wollte es nicht können. Außerdem hatte er mich schon ein paar Mal beim Chef angeschwärzt, stritt es aber immer ab. Jetzt ließ ich ihn leicht und locker hinter mir! Beinahe rutschte ich aus vor Freude. Ein Wunder, dass er überhaupt mit den Straßenschuhen vorankam. Der Hohlweg teilte sich.
Wo laufe ich lang? Warum rufe ich nicht Heide an und sage ihr, sie soll mich abholen?
Ich blieb stehen, holte mein Handy aus der Trainingsjacke. Kein Netz! Egal, auch mit Stimme hätte ich ihr sowieso nicht mehr beschreiben können als dass ich nicht wusste, wo ich war.
Ich laufe nach rechts!
Der Weg verbreiterte sich, hatte Gefälle, wand sich einem in der Ferne rhythmisch flackernden Schein entgegen.
Die Geräuschquelle?
Der Untergrund wirkte auch nicht mehr so rutschig. Das konnte auch Gewöhnung sein. Man kann sogar auf blankem Eis laufen. Als die Insel, um die ich in Ausnahmefällen lief, im Winter vor Frosteinbruch vom Rhein überschwemmt worden war, hatte ich es mit normalen Sportschuhen getan und war nicht gestürzt. Beine gewöhnen sich an den Untergrund. Eine lange Rechtskurve öffnete sich.
Da stehen doch meine beiden Söhne? Sie rufen etwas. Kaum zu verstehen.
„Weiter, Papa, mach’ so weiter! Durchhalten! Gleich bist Du am Ziel!“
Ziel? Welches Ziel?, schreie ich tonlos.
Bin ich in einem Wettbewerb gelandet? Wie? Und wo?
Die Beine funktionierten automatisch und zogen mich vorwärts. Das ‚Bumm-Bumm-Klack-Pause’ war immer noch da, nur lauter. Die Wände färbten sich von rötlich zu grau. Ich zerteilte eine Schwade aus muffigem Geruch und stockte mitten im Lauf.
Ein Graben. Ein Graben, mitten in der Laufstrecke! Was ist das denn für eine Organisation?
Notgedrungen nahm ich Anlauf und sprang, es waren höchstens eineinhalb Meter. Trotzdem schaffte ich es nicht, konnte mich gerade noch am rutschigen Rand festkrallen, brüllte meinen Ärger lautlos nach oben.
Was ist das für ein widerlich weiches Zeug?
Festhalten war unmöglich, die zähe Masse gab nach, ich fiel und fiel. Schrie noch immer ohne Ton und Kraft. Überschlug mich, suchte vergebens Halt; gleißendes Licht blendete mich.
Ich liege, will meinen Kopf heben, aber eine Hand drückt mich sanft ins Kissen zurück.
„Nicht so hastig, Herr Renner, nicht so hastig.“
„Wo bin ich?“
„In der Stadtklinik, in besten Händen.“
„Klinik, warum?“
„Sie hatten einen Herzanfall. Zum Glück ganz nah bei Ihrem Haus. Sie waren wohl gerade losgelaufen, und Ihr Herz hat die Steigung nicht mitgemacht.“
„Mein Herz?“
„Ja, Ihre Herzrhythmusstörung hätte schon längst behandelt werden müssen.“
„Herzrhythmusstörung?“
„Ja, Sie haben starke sogenannte ventrikuläre Extrasystolen. Das müssen Sie doch selbst schon gespürt haben, Herr Renner. Das geht dann in etwa so: Bumm-Bumm-Klack-Pause, Bumm-Bumm-Klack-Pause ... .“
 

fah

Mitglied
Dreizehn Prozent Steigung

Die Strecke, die ich am häufigsten laufe, beginnt mit dreizehn Prozent Steigung der ersten zwei Kilometer. Schier endlose Ebene schließt sich an. Der Rückweg erfreut am Ende mit Gefälle. Der Lauf fing an wie immer. Funktionskleidung in drei Schichten, eingewöhnte Schuhe, Handy für den Notfall, Schlüsselbund und Ausweis in der Weste. iPod am Oberarm mit Musik der Stones. Der stampfende Rhythmus von ’Satisfaction’ oder ’Paint it Black’ harmoniert für mich ideal mit der Bewegung. Die Sonne stand schon tief. Ich musste mich sputen, damit Heide nicht wieder lange mit dem Essen zu warten hätte. Diese erste Steigung ist hart, aber sie bringt mich stets auf Betriebstemperatur. Meine Beine liefen zuerst wie von selbst. Ich rückte die Sonnenbrille zurecht und fühlte mich gut. Doch ich wurde langsamer und langsamer, strauchelte plötzlich, prallte mit dem Kopf gegen etwas, einen Widerstand; aus dem Nichts - wie eine Wand.
Ich muss gegen eine Wand gelaufen sein. Eine Wand?
Ich lag rücklings am Boden, rappelte mich hoch. Es tropfte von meiner Stirn. Gott sei Dank Schweiß, kein Blut. Vorsichtig trabte ich an, setzte Bein vor Bein und schaute mich dabei um.
Wo bin ich?
Ein seltsamer Untergrund, schlüpfrig. Als liefe man in einem Bachbett. Dunkler als eben noch. Der Weg wie ein Schlauch und überall Wand.
Ich laufe in einem Hohlweg. Wie geht das?
Die Wände schimmerten rötlich. Wenn es jetzt kalt gewesen wäre und die Wände bläulich, dann hätte es ein Gletschertunnel sein können. Aber sie glommen rötlich und es war warm. Meine Nase sog einen feuchten Geruch ein. Der Knopf an den Ohrhörern funktionierte nicht. Der iPod blieb stumm. Kein rockiger Beat der Stones. Statt dessen ein Geräusch, von weiter weg, das sich wiederholte: Bumm-Bumm-Klack-Pause, Bumm-Bumm-Klack-Pause , ... .
Eine Fabrik? Ein Hammerwerk ? Ein Schmied? Merkwürdig. Vielleicht finde ich es ’raus, wenn ich näher dran bin.
Ich musste mich aufs Laufen konzentrieren; es blieb rutschig. Nach einer Kurve im Hohlweg zwei Leute auf einer Bank. Die sollten wissen, wo sie saßen. Als ich näher kam, erkannte ich meine Eltern. Mein Vater kerzengerade sitzend, meine Mutter in ihrem letzten Kleid an ihn gelehnt, sie hielt seine Hand. Er sah durch mich durch, wie er es auch auf dem Totenbett getan hatte. Ich wollte etwas sagen, öffnete den Mund, aber es kam kein Laut. Der Versuch anzuhalten misslang. Meine Beine gehorchten mir nicht, sie liefen weiter. Sie hatten die Erde in 35 Jahren schon zweieinhalb Mal umrundet und ließen sich von zwei toten Alten nicht aufhalten. Da vorn lief noch jemand, langsamer als ich. Wettbewerb mochte ich, wenn ich mir eine Chance ausrechnen konnte zu gewinnen. Sein Laufzeug – ein Witz: Weite Hose und Jacke, einen Hut mit breiter Krempe, Straßenschuhe.
So ein Idiot! Läuft mit Hut und Straßenschuhen! Den schaffe ich mit einem kurzen Spurt!
So war es auch. Hallo, raunte ich ihm im Vorbeiziehen zu, hätte ich ihm gern zugeraunt. Aber – immer noch kam kein Ton aus meinem Mund. Ich erkannte ihn, ein Kollege. Mein Lieblingsfeind, der sich immer meine persönliche Kaffeetasse nahm, obwohl ich mir extra eine hatte bedrucken lassen mit ’Hands off, property of Gerd’. Er konnte kein Englisch oder wollte es nicht können. Außerdem hatte er mich schon ein paar Mal beim Chef angeschwärzt, stritt es aber immer ab. Jetzt ließ ich ihn leicht und locker hinter mir! Beinahe rutschte ich aus vor Freude. Ein Wunder, dass er überhaupt mit den Straßenschuhen vorankam. Der Hohlweg teilte sich.
Wo laufe ich lang? Warum rufe ich nicht Heide an und sage ihr, sie soll mich abholen?
Ich blieb stehen, holte mein Handy aus der Trainingsjacke. Kein Netz! Egal, auch mit Stimme hätte ich ihr sowieso nicht mehr beschreiben können als dass ich nicht wusste, wo ich war.
Ich laufe nach rechts!
Der Weg verbreiterte sich, hatte Gefälle, wand sich einem in der Ferne rhythmisch flackernden Schein entgegen.
Die Geräuschquelle?
Der Untergrund wirkte auch nicht mehr so rutschig. Das konnte auch Gewöhnung sein. Man kann sogar auf blankem Eis laufen. Als die Insel, um die ich in Ausnahmefällen lief, im Winter vor Frosteinbruch vom Rhein überschwemmt worden war, hatte ich es mit normalen Sportschuhen getan und war nicht gestürzt. Beine gewöhnen sich an den Untergrund. Eine lange Rechtskurve öffnete sich.
Da stehen doch meine beiden Söhne? Sie rufen etwas. Kaum zu verstehen.
„Weiter, Papa, mach’ so weiter! Durchhalten! Gleich bist Du am Ziel!“
Ziel? Welches Ziel?, schreie ich tonlos.
Bin ich in einem Wettbewerb gelandet? Wie? Und wo?
Die Beine funktionierten automatisch und zogen mich vorwärts. Das ‚Bumm-Bumm-Klack-Pause’ war immer noch da, nur lauter. Die Wände färbten sich von rötlich zu grau. Ich zerteilte eine Schwade aus muffigem Geruch und stockte mitten im Lauf.
Ein Graben. Ein Graben, mitten in der Laufstrecke! Was ist das denn für eine Organisation?
Notgedrungen nahm ich Anlauf und sprang, es waren höchstens eineinhalb Meter. Trotzdem schaffte ich es nicht, konnte mich gerade noch am rutschigen Rand festkrallen, brüllte meinen Ärger lautlos nach oben.
Was ist das für ein widerlich weiches Zeug?
Festhalten war unmöglich, die zähe Masse gab nach, ich fiel und fiel. Schrie noch immer ohne Ton und Kraft. Überschlug mich, suchte vergebens Halt; gleißendes Licht blendete mich.
Ich liege, will meinen Kopf heben, aber eine Hand drückt mich sanft ins Kissen zurück.
„Nicht so hastig, Herr Renner, nicht so hastig.“
„Wo bin ich?“
„In der Stadtklinik, in besten Händen.“
„Klinik, warum?“
„Sie hatten einen Herzanfall. Zum Glück ganz nah bei Ihrem Haus. Sie waren wohl gerade losgelaufen, und Ihr Herz hat die Steigung nicht mitgemacht.“
„Mein Herz?“
„Ja, Ihre Herzrhythmusstörung hätte schon längst behandelt werden müssen.“
„Herzrhythmusstörung?“
„Ja, Sie haben starke sogenannte ventrikuläre Extrasystolen. Das müssen Sie doch selbst schon gespürt haben, Herr Renner. Das geht dann in etwa so: Bumm-Bumm-Klack-Pause, Bumm-Bumm-Klack-Pause ... .“
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo fah,
das ist ausnehmend gut und gekonnt geschrieben, liest sich flüssig. Die einzelnen Erzählelemente sparsam und wohlüberlegt eingesetzt (z.B. das Bumm Bumm Klack Pause, das Auftreten der dem Prot. bekannten Menschen) - das gefällt mir sehr.
Viele Grüße
Mistralgitter
 

herziblatti

Mitglied
Hallo fah, gut geschriebene Short-Story, bei der alles stimmt: Einstieg, Spannungsaufbau, Überraschungen und Schlusspointe. Druckreif, gratuliere! Gern gelesen - Gruß vom herziblatti
 



 
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