Drittes Märchen: Von Kai, der auszog, die Trauer zu lernen

VikSo

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Drittes Märchen: Von Kai, der auszog, die Trauer zu lernen

Es gibt Menschen, die tauschen ihr warmes Herz gegen ein Herz aus Stein und erhandeln so das, was sie begehren: Reichtum, Ansehen und Macht. Hartherzig sind sie im wahrsten Sinne des Wortes und keiner schafft es, sie zu erweichen. Dann wieder gibt es Menschen, die sind es so gewohnt, kalt zu denken, zu analysieren und die Dinge wissenschaftlich zu zerlegen, dass sie nicht merken, wie ihr Herz und ihr ganzes Wesen nach und nach zu Eis gefrieren. Das Herz lebt wohl zwar weiter und wäre auch fähig, zu schlagen. In dem Moment aber, in dem es fühlen, sich freuen oder weinen soll, bleibt es starr; starr, obwohl es sich danach seht, zu empfinden, denn es erinnert sich noch, wie das ist.
Es war einmal ein junger Mann namens Kai, dem war sein Großvater gestorben. Der Junge hörte diese Nachricht in einer weit entfernten Stadt, wo er sich mit dem Studium der Physik beschäftigt hatte, um heraus zu finden, woraus die Welt im Innersten besteht. Seine Eltern lebten seit Jahren im Ausland, Geschwister hatte er keine und an seine Heimat schon lange nicht gedacht. Nun zwang ihn der Brief, sich auf eine Reise über sieben Berge und sieben Täler zu begeben, in das Örtchen, in dem er einst gewohnt hatte.
Die Reise dauerte einen ganzen Tag. Darum brauchte Kai Beschäftigung. Zuerst versuchte er, sich mit Musik zu zerstreuen. Als das nichts half, verlegte er sich aufs Lesen und schließlich, als auch das nicht fruchtete, aufs Nachdenken. Da kam es ihm in den Sinn, wie sehr er den Großvater früher geliebt hatte. Doch wenn er nun daran dachte, dass er ihn nie mehr sehen, seine Stimme nicht mehr hören, nie wieder mit ihm Kakao trinken würde, da war in ihm nur eine schwarze, kalte Leere, die ihn schaudern ließ.
Der junge Mann Kai schlief drei Tage und drei Nächte im verlassenen Haus seines Großvaters. Dann kam die Beerdigung. Das war an einem frostigen, nebligen Morgen ohne Himmel, denn der war von fasrig auseinander driftenden Wolken bedeckt. Eine beachtliche Menge Menschen, gemessen an der Größe des Städtchens, wohnte der Beisetzung bei. Kinder waren gekommen und die Eltern der Kinder, die selbst als Kinder den Märchen des Großvaters gelauscht hatten. Wortlos pressten sich die schwarz bemantelten Gestalten aneinander, um sich gegenseitig Wärme zu spenden. Ruhig lagen die Arme der Kastanien und Eschen, welche zwischen den Grabstellen wuchsen, respektvoll der Predigt des Pfarrers zuhörend, dessen Wortgewalt und Ausdruck doch nicht an die Spannung heran reichten, die der Tote mit wenigen einfachen Worten zu zaubern verstanden hatte.
Kai konnte Dingen wenig abgewinnen, die nicht zu beweisen waren – am wenigsten dem lieben Gott. So hörte er kaum auf die tröstliche Ansprache und studierte lieber die Gesichter und Gestalten der Umstehenden. Hier und da schien ihm ein Zug vertraut, eine Silhouette bekannt. Dann wieder schien er von vollkommen Fremden umgeben zu sein. Zweifellos, dort stand Winfried Klug, der Apotheker, neben ihm Peter und Agnes, seine Erben, zwei und drei Jahre älter als Kai, mit groben Gesichtern und grün-braunen Augen. Dort stand Mrs. Greenwood (eigentlich Frau Grünwald), seine ehemalige Englisch-Lehrerin, die seinen Schulabschluss feierlich mit ihrer eigenen Pensionierung begangen hatte. Sie hatte ihm beim Betreten des Friedhofs mit ihrer Pranke die Schulter schmerzhaft getätschelt und ihm ein mitleidiges „So sorry“ zu gemurmelt. Da stand sein zeitweise bester Freund Jonas, mit dem er seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Links und rechts wurde Jonas flankiert von seinen zweimal zwei Brüdern, ordentlich der Größe nach aufgereiht wie die Orgelpfeifen und sichtlich darum bemüht, einen der Situation möglichst angemessenen Gesichtsausdruck zu tragen. Bedrückt und feierlich ließen sie alle miteinander die Köpfe hängen. Eine Trauer vereinte sie, die Kai nicht teilen konnte, so sehr er sich auch bemühte. Deswegen stand er unter ihnen als ein Fremder, der ihre Sprache zwar hörte, aber sie nicht verstand.
Endlich hatte der Pfarrer zu Ende gesprochen und der Sarg wurde von dem finsteren Loch im Erdboden verschluckt. Die Trauergemeinde trat nun zu einer feierlichen Prozession an bei der alle sich gegenseitig die Ehre neideten, zuerst dem Toten eine Rose, Nelke oder Lilie ins Grab hinterher zu werfen. Wenn das geschehen war, ging einer nach dem anderen davon, der eine zum Mittagessen, der andere auf einen Tropfen ins Gasthaus, die Kinder zum Fußball oder Spielplatz. Eine Gedenkfeier gab es nicht, denn der Enkel des Alten glaubten auch nicht an Trauerbräuche.
Kai war der letzte in der Reihe und er wahrte einigen Abstand zu seinem Vordermann. Er hielt keine Blume in der Hand – Was sollte sie dem Leichnam noch nützen? - sondern stand nur lange am Rande des Grabes. Er dachte und überlegte und wartete auf die Trauer, die nicht kommen wollte.
An diesem Abend ging Kai zeitig zu Bett, der Kopf angenehm müde von sieben Gläsern Wein, die er getrunken hatte. Er schlief im Bett seines Großvaters, denn sein eigenes war mittlerweile einen halben Meter zu kurz für ihn. Das Bettzeug roch nach dem Lavendel des Weichspülers, mit dem Viola es gewaschen hatte – letzteres konnte Kai natürlich nicht wissen. Er sog den Duft ein, schloss die Augen und war einen Moment später eingeschlafen.
In dieser Nacht träumte Kai, was selten bei ihm war. Im Traum ging er noch einmal auf die Beerdigung. Der Nebel war der gleiche wie am Vormittag, wenn nicht noch dichter. Doch statt aus Menschen bestand die Trauergemeinde diesmal aus lauter Krähen. Sie bauschten ihr Gefieder und kuschelten sich Wärme suchend aneinander. Dann und wann öffnete eine Krähe den Schnabel, doch krächzten sie alle lautlos in Kais Traum. Der größten Krähe zierte ein schneeweißer Federkranz den Hals. Sie stand am Kopfende des Grablochs und hielt eine Rede, die sie von einem gefalteten Zettel ablas, der in ihrem Flügel verborgen war. Nachdem dies beendet war, hoppelten alle Krähen heran, um Blumen auf den Sarg zu werfen, die sie zuvor in ihren Schnäbeln getragen hatten. Dann breiteten sie eine nach der anderen ihre Flügel aus und erhoben sich lautlos in die Luft. Kai blieb allein am Grab zurück. Langsam trat er näher, wie er es am Vormittag getan hatte. Wie staunte er aber, als er hinab blickte und auf dem Sarg nicht ein mehr aus toten, gepflückten Blumen fand. Nein, wo wahr ihr diese Worte hier Schwarz auf Weiß geschrieben seht: Nicht gerupfte Blüten, sondern ganze Sträucher von Rosen und meterhoch gewachsene Nelken und Lilien breiteten sich auf dem rotbraunen Holz aus. Ja, wenn er es genau betrachtete, wuchsen sie sogar aus dem toten Holz heraus. Je weiter sich Kai darüber beugte, desto mehr schien es ihm sogar als wüchsen sie immer noch weiter, ihm entgegen, immer weiter, immer länger. Endlich reichten die ersten Knospen bis zu seinem Gesicht hinauf. Da erkannte er, dass sich zwischen den grünen Blättern nicht nur rote, gelbe, blaue Blüten, sondern auch, ganz versteckt, kleine Zettelchen wuchsen. Sie waren entfaltet wie Blütenblätter. Wie er sie jedoch befühlte, bestanden sie aus Pergament und dufteten nicht nach Blumen, sondern nach Tintenfässern und alten Bibliotheken. Neugierig pflückte Kai einen dieser Zettel, sich halb bewusst, dass dies ja alles nur ein Traum sei. Das Blatt betrachtend, las er darauf folgende Worte: „Es war einmal...“ Und als er das entzifferte, war es, als lese er sie nicht selbst, sondern als höre er die Stimme seines Großvaters. Eilig suchte er ein zweites Zettelchen und fand es versteckt unter einem daumengroßen Rosenblatt. „Es war einmal“, stand darauf, „ein junger Mann namens Kai.“
Es wäre gelogen zu behaupten, Kai wäre bei diesen Worten nicht zusammen gezuckt – wie man eben im Traum zusammen zucken kann. Noch eifriger suchte er nach dem nächsten Blatt, aber als er es fand, war es leer. Einmal drehte er es um, zweimal, dreimal. Da, auf einmal, fand er einen Buchstaben: „S“. Er zwinkerte ein paar mal. Wo kam das plötzlich her? Gerade rechtzeitig fiel ihm ein, dass er nur träumte. Und sobald ihm dies bewusst wurde, erschien auch der Rest des Satzes: „Sieh dich um!“
Rasch wirbelte Kai herum. Da sah er eine seltsame Prozession auf sich zu kommen. Wo vorher der Schwarm von Krähen gehockt hatte, saß nun nebeneinander die seltsamste Ansammlung von Tieren: Da sah er Regenwürmer und Maikäfer, Füchse, Dachse und Braunbären, Turteltauben und Habichte. Jedes davon trug in Maul, Klaue oder Kralle ein silbernes, blaues, grünes oder rotes Fähnchen; selbst die Bäume waren plötzlich behangen damit. Kaum dass er sich aber wundern konnte, flogen, krochen und stampften sie alle gleichzeitig auf den Jungen zu, Schritt, Schritt, lautlos, Schritt Schritt, Flügelschlag, die Blicke aufmerksam auf das Grab hinter ihm gelenkt. Beklommen betrachtete Kai diese sich nähernde Karawane, die immer noch näher kam, Schritt auf Schritt und nun trat er zurück, einen Schritt, zwei, bis er auf einmal keinen Boden mehr unter sich fühlte. Er schwankte, ruderte mit den Armen, vorwärts, rückwärts, bis er sich endlich daran erinnerte – Träume machen langsame Denker – dass er einen ausgezeichnete Gleichgewichtssinn hatte. Mit aller Kraft riss er sein Gewicht nach vorn und kam sanft mit seinen Knien auf der wichen Grasnarbe auf. Der erste Fuchs, der in diesem Moment bei ihm ankam, schenkte ihm nur einen kurzen Blick. Dann trat er an das Grab heran. Er ließ die rote Fahne aus seinem Maul hineinfallen und dann...
Schien es Kai nur so, oder hatte sich das Tier tatsächlich verbeugt? Nach dem Fuchs kam ein Bär mit zwei Schwalben auf den Schultern. Die taten das Gleiche und auch sie schienen den Kopf für ein oder zwei Sekunden respektvoll zu beugen. Dasselbe beobachtete Kai noch viele Male bei Würmern, Schnecken, Spinnen, Luchsen, Wölfen und Eulen. Der Strom an Neuankömmlingen schien gar nicht abzureißen. Sie verschwanden auch nicht, wie die Krähen es getan haben, sondern stellten sich nur etwas abseits und hielten dort eine ernste, schweigsame Totenwache.
Endlich hatte auch der letzte Besucher dem Verstorbenen seinen Respekt gezollt. Doch auch jetzt verließen sie den Friedhof noch nicht, sondern blieben neben dem Loch in der Erde stehen, ohne sich vor dem staunenden Kai beeindrucken zu lassen. Stunden schienen zu vergehen und das einzige, was sich bewegte, war der Nebel. In dicken Schwaden wirbelte er über den Boden und wurde, je verwirrter Kai wurde, umso dichter und dicker. Kais Beine waren schon halb darin verschwunden. Die kleineren Tiere waren nicht mehr zu erkennen. Der Nebel hatte Kais Hals erreicht, als ihm klar wurde, dass er wohl gerade am Aufwachen sei und sein Geist ihm nur ein Zeichen dafür geben wollte. Und kaum hatte er das gedacht – denn ein glasklarer, kalter Verstand vermag vieles zu leisten – als der Friedhof vor seinen Augen verschwand.
Vorsichtig, ganz vorsichtig öffnete Kai seine Augen. Fast, als erwartete er, einen Fuchs oder wenigstens einen Schmetterling vorzufinden, wenn er sie öffnete. Doch da war nichts, nichts als die alte, weiß gemalte Zimmerdecke mit der gleichen Spinne in der Ecke, die dort auch schon am Abend zuvor gesessen hatte. Da stand der schokoladenbraune Kleiderschrank, vor dem Kais Trolley mit seinen Reisesachen lag. Da war der Beistelltisch mit dem Wecker, der nicht mehr klingeln konnte und stets genau 23,5 Minuten nachging, egal, wie oft man ihn stellte. Alles war wie es seit seiner Kindheit in diesem Haus gewesen war, nur dass selbstverständlich der Großvater nicht mehr da war.
Als er das letzte dachte, legte sich Kai noch einmal in die Kissen zurück. Er atmete tief den Duft nach Lavendel ein. Er schloss die Augen. Und bevor er wusste, was das war, liefen zwei verstohlene Tränen ungesehen über seine Wangen.
 



 
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