Du gehst über die Fluten nun

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Vera-Lena

Mitglied
Du gehst über die Fluten nun.
Das verschlissene Lebenskleid
aufgehängt
im sturmtrunkenen Januar,
den Freunden die Streudose mit Zimt
hinterlassend.
Aus den Büchern im Wohnquadrat
schallt dein Lachen.
Der Schreibstift ersehnt deine Formeln,
Gedankentiraden aus dem Orkus
herausgefiltert,
ans Licht gezerrt mit plus und minus
widerlegt.
Zum Gefäß hattest du dich geöffnet,
verschlungene Welten zu konservieren,
abermals zu kauen, zu schlucken und auszuspeien.
Das Erbrochene führtest du zu deinem Ende.
Du gehst über die Fluten nun.
 

Vera-Lena

Mitglied
kleiner Irrtum

Lieber Karl,

das passiert schon mal, dass man einen falschen Namen schreibt. Ich möchte das aber trotzdem korrigieren. Dieser Text stammt von mir und nicht von Inge Anna.

Ich danke Dir für Deinen Kommentar.:)

Liebe Grüße
Vera-Lena
 
I

Iphi

Gast
Liebe Vera-Lena,

die 'hinterlassene Streudose mit Zimt' hat mich wirklich ergriffen. Schön dieser Nach-Ruf zum Orkus hin und über seine Fluten hinweg - so gefasst, sicher und: Traurig nur im Irdischen. Drüben sieht ja wohl alles anders aus.

Lieben Gruss,
Iphi
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Iphi,

es tut mir wohl, dass Du meinen Text verstanden hast. Ja, auch ich denke mir den Verstorbenen in eine lichtvolle Welt, und was ich hier beschrieben habe, sind die allerersten Eingebungen, die sich bei der Mitteilung über seinen Tod bei mir eingestellt haben.

Danke für Deinen einfühlsamen Kommentar!

Liebe Grüße
Vera-Lena
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Liebe Vera-Lena,

bevor dein Werk auf die nächste Seite verschwindet, hol ich es schnell noch einmal hoch, es ist etwas zum mehrfach Lesen, zum Nachdenken und man (ich) legt die eigenen Erfahrungen zwischen die Zeilen.
Trotzdem, oder gerade deshalb, ich würde den Fettdruck entfernen (Er klingt wie ein Schrei.) und vielleicht durch zwei Leerzeilen (durch Stille) ersetzen.

LG Franka
 

Vera-Lena

Mitglied
Du gehst über die Fluten nun.


Das verschlissene Lebenskleid
aufgehängt
im sturmtrunkenen Januar,
den Freunden die Streudose mit Zimt
hinterlassend.
Aus den Büchern im Wohnquadrat
schallt dein Lachen.
Der Schreibstift ersehnt deine Formeln,
Gedankentiraden aus dem Orkus
herausgefiltert,
ans Licht gezerrt mit plus und minus
widerlegt.
Zum Gefäß hattest du dich geöffnet,
verschlungene Welten zu konservieren,
abermals zu kauen, zu schlucken und auszuspeien.
Das Erbrochene führtest du zu deinem Ende.


Du gehst über die Fluten nun.
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Franka,

Danke für Deinen Kommentar! Gerne bin ich Deinem Rat gefolgt, denn um einen Schrei sollte es sich keinesfalls handeln.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

Walther

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

auch wieder ein typisches Gedicht aus Deiner Feder. Keines der ganz starken, aber sehr bemerkenswert.

Bemerkenswert, weil Leben auch Verdauen ist, Wiederkäuen. Meine Großmutter Helga sagte, bevor sie ging: "Es langweilt jetzt schon, so vieles, viel zu vieles wiederholt sich." Das war meine letzte Unterhaltung mit ihr. Danach ist sie rasch gestorben.

Irgendwann übersteigt der Überdruß die Angst. Und dann macht sich das Tor auf, und
Du gehst über die Fluten nun.
Und dann ging sie von uns über die Fluten. In ein Reich, einen Äther, den wir nicht kennen, aber alle einmal kennenlernen werden.

Lieber Gruß

W.
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Walther,

danke für Deine Antwort und die Deutung, die Dir anhand Deiner Erlebnisse zufloß, wie es bei Deutungen von verschlüsselten Texten nicht andes sein kann und auch nicht anders sein soll.

Bei diesem Text hier, den ich wegen des unglaublich traurigen und qualvollen Lebenshintergrundes des Verstorbenen verschlüsselt habe, ging es darum, dass er krank war auf eine Weise, die man mit "geistiger Umnachtung" umschreiben, aber niemals wirklich erklären könnte.

Er wurde zum Gefäß für Einflüsterungen, für schon einmal Gelebtes und konnte das natürlich gar nicht verdauen, sondern war dem ausgeliefert, ohne sein eigentliches, eigenes Leben leben zu können. Bis er vor einigen Tagen, bildlich gesprochen, diese ganze fremde Lebensflut ausgespien hat, um gereinigt in ein Jenseits zu gehen, dass ihn über diesen Fluten (nach meiner Überzeugung) wird gehen lassen.

Deine Interpretation ist mir kostbar, denn ich wusste ja gar nicht, ob man mit diesem Text überhaupt etwas anfangen kann. Irgendwie hat es mich dazu gedrängt, ihn einzustellen, wahrscheinlich um ein Ventil für meine Trauer zu finden. Trotzdem denke ich, dass er überpersönlich ist, denn es gibt viele Menschen, die solchen Leiden ausgeliefert sind. Zudem lässt der Text ja viele Deutungsmöglichkeiten zu.

Noch einmal Danke! :)
Liebe Grüße
Vera-Lena
 
M

mirami

Gast
liebe vera-lena,

ein bewegender “nach-ruf“ ist dir da gelungen. ohne die übliche verherrlichung erzählt er. (voll mitgefühl ohne vorzuführen und ohne zu bewerten in bilderreichen andeutungen).

bei der stelle mit den, aus dem orkus herausgefilterten gedankentriaden, drängt sich mir z.b. ein wenig ein bild von innerer isolation und lebenslangem unverstandensein auf. die anfänglichen bilder vom verschlissenen lebenskleid und dem sturmtrunkenden januar deuten mir persönlich ein getriebensein und etwas wie ein friedloses leben an.
„Das Erbrochene führtest du zu deinem Ende“ bleibt mir allerdings ein unverständlicher satz an dem ich beim lesen dauernd anecke. bis auf den finde ich dein trauergedicht sehr gelungen.

viele grüße
mirami
 
H

Heidrun D.

Gast
Liebe Vera-Lena,

dein Gedicht finde ich mehr als nur gelungen.

Bedenkt man, dass alles Leben letztendlich nur nach wenigen Grundmustern erfolgt, sieht man die Umnachtung in einem weicheren Licht. - Für mich wirkt sie wie eine Überzeichnung des Bekannten, Reproduktion des Erlittenen zwecks Integration, ein (Aus-)Weg.

Doch wohl nicht für alle. Das hast du in deinem Bild des Erbrochenen, gänzlich Unverdaulichen, ganz wunderbar getroffen.

Heidrun
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe mirami,

danke für Deinen Kommentar! Er verdeutlicht mir, dass dieser Text doch verständlich ist. Ja, abgekapselt war er, denn es drängten aus dem Unsichtbaren Dinge sich ihm auf, die er abzuhandeln hatte und die für jeden anderen unverständlich blieben. Dadurch konnte er keinen eigenen inneren Ruhepunkt finden.

Das Erbrechen war seine Reaktion, sich von diesen Dingen zu befreien. Es hat aber nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch im wirklichen Bereich stattgefunden und er starb an den Ausdünstungen, die das Erbrochene in der Lunge verursacht hatte.

Ich bin selbst sehr erstaunt, dass dieser Text Wort für Wort, so wie er da steht, schon kurze Zeit nach der Todesnachricht zu mir gekommen ist und zu dem Text habe ich selbst natürlich noch gar keinen Abstand.

Dein Lob tut mir gut, aber eigentlich gehört es irgendwo anders hin, keine Ahnung wohin, eben dorthin, von wo der Text mir zugekommen ist.

Lieben Dank und liebe Grüße
Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Heidrun,

es ist sehr schwer, eine solche Krankheit einzuordnen und wieviele Anteile dabei waren, die auf beispielsweise in der Kindheit überaus schmerzhaft Erlebtes zurück zu führen waren, das weiß man nicht. Aber auch ich hatte immer solche Mutmaßungen. Die Dinge zu integrieren, sie aufzuarbeiten,das war dem Kranken verwehrt und so trug er alles ständig bei sich aufgestockt mit Lebensbedrängnissen fremder Personen, die ihm
ihre Anliegen in seine Gedanken hineindrängten.

Es grenzt an ein Wunder, dass er das so lange ertragen hat und das Erbrechen deutest Du durchaus so, wie man das betrachten kann, dass mit diesem unverdaulichen Zeug endlich Schluss sein musste, was allerdings dann auch den Schluss seines Lebens bedeutet hat.

Danke für Deinen Kommentar!
Herzliche Grüße
Vera-Lena
 

HerbertH

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

ein ganz starker Text aus meiner Sicht.

Das persönliche Erleben läßt Dich eindringliche Bilder finden, die ich nicht wirklich für verschlüsselt halte, und Du öffnest damit auch sprachlich eine Brücke vom "er ging über den Jordan" zu "er wandelte über die Wasser".

Liebe Grüße

Herbert
 

nisavi

Mitglied
hallo vera-lena,

ich habe die bereits vorhandenen kommentare nicht gelesen, schleiche aber schon eine weile um deinen text herum.

ich finde ihn berührend und vor meinem geistigen auge entsteht ein bild - zusammengesetzt aus den erinnerungen des lyrICH. es scheinen erinnerungen an naturwissenschaftler zu sein. zumindest impliziert "formeln" das.

sprachlich betrachtet finde ich einige dinge nicht glücklich gelöst.

"du gehst über die fluten nun." - ein schönes bild, aber warum steht "nun" am ende des satzes? das wirkt auf mich künstlich. die gängige wortstellung fände ich passender.

außerdem meine ich, dass der text "sperrig" wird durch die vielen partizipien. ("aufgehängt", "hinterlassend", "herausgefiltert", "gezerrt", "geöffnet") vielleicht war genau dies deine absicht.

lg

nisavi
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Herbert,

danke für Deine Antwort! Es freut mich zu hören, dass der Text nicht allzu sehr verschlüsselt ist.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe nisavi,

ich hatte überhaupt keine Absicht. Der Text kam zu mir, so, wie er da steht. Mit den Naturwissenschaften hast Du Recht. Alles, was dem Kranken zugeflüstert und aufgegeben wurde hatte eine naturwissenschftliche Grundlage.

Das "nun" am Ende ist mir deswegen so wichtig, weil der Kranke 43 Jahre lang gelitten hat. Die ersten 27 Jahre seines Lebens war er anscheinend gesund, aber danach ein gequälter Mensch. Er muss nicht mehr leiden nun. Das "nun" lasse ich ganz sicher dort stehen als etwas, das am Ende der Überschrift und Unterschrift ein besonderes Gewicht erhält.

Die Partizipien sind mir auch wichtig, wie ich jetzt sehe, weil sie das Ausgeliefertsein des Kranken unterstreichen, während, als er sich endlich zur Wehr setzt, sich vier Verben ansammeln. Erst zu seinem Tode hin konnte er wirklich selbst aktiv werden und das Gängelband abstreifen.

Für mich ist es auf diese Weise eine runde Sache.

Danke fürs Lesen und für Deinen Kommentar, der mir wichtig ist.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 



 
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