Du und mein Leben. Überlegungen auf der Suche.

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Anonym

Gast
Ich wünschte mir manchmal, Du hättest es getan, das, was Du Dir gewünscht hast, wahrscheinlich, als Du mich das erste Mal gesehen hast, als Du das erste Mal mit Deiner kleinen, alten, gebückten Frau durch die Tür in unser Haus gekommen bist, Euch beide in gebrochenem Deutsch vorgestellt hast und sich unser westlicher Reichtum in Deinen Augen spiegelte.

Ich wünschte, Du hättest einfach einen Moment gefunden, in dem es Dir möglich gewesen wäre, das zu vollenden, was Du Dir vielleicht nachts dachtest, wenn Deine Frau neben Dir lag und Du im Mondschein aufstandest, weil Du keinen Schlaf fandest, und Dich der Enge Eures Zimmers entwinden musstest, das Euch zugeteilt worden war, weil es nicht mehr Platz gab für Euch, in unserer Stadt, und auf dem Weg zur Tür einen Blick auf Deine Kinder warfst.

Ich wünschte, Du hättest das bekommen, wovon Du dachtest, dass ich es Dir geben könnte, das, was Du gesucht hast in meinen Augen, wenn Du mein Gesicht mit beiden Händen festgehalten hast, das was Du von meinen Lippen wie von einem Spiegel zu lesen versuchtest, wenn Du „Ich liebe Dich“ sagtest, das, was mein Körper Dir zu versprechen schien, wenn ich durchs Haus lief.

Ich wünschte, Du hättest es gefunden bei mir, und mich gefunden, an einem der vielen Tage, an denen ich von Zimmer zu Zimmer lief, nur um Dir nicht zu begegnen, an einem der vielen Tage, als ich mich im Schrank versteckte und schon wieder keine Taschenlampe hatte, nur ein Buch, um das ich meine Hände krallte und das mir im Dunkeln nicht helfen konnte, zu fliehen.

Ich wünschte, Du hättest es Dir genommen, denn Du hättest es Dein Leben lang behalten können und es immer wieder in Deinen Händen halten können, es immer wieder auf die Waage legen, immer wieder neue Abmessungen vornehmen und neue Dimensionen entdecken, neue Farben, Facetten, in denen Du Dein Gesicht erkennen könntest, Deine Handschrift, Dein Leben, komprimiert auf die Erinnerung an einen einzigen Moment, denn dann hättest Du dies für Dich und man hätte sehen können, dass es mir genommen worden ist, und man hätte meinen Verlust ebenso anschauen, vermessen, auswiegen und abschätzen können wie Deinen Gewinn, und vielleicht hätte man irgendetwas finden können, was ihn mir erleichtert hätte; man hätte mir vielleicht etwas geben können, irgend etwas, das mich wieder ganz gemacht hätte, vielleicht hätte es so etwas gegeben, wenn ich wirklich so beraubt und löchrig gewesen wäre.

Ich wünschte, Du hättest es gehabt und wärst dann gegangen, anstatt mich dort sitzen zu lassen, im Schrank, wo ich mich verwandelte, weil die Enge an meiner Wange geklebt hätte, wenn ich hätte lächeln wollen weil die Dunkelheit sich langsam in meinen Augen einnistete und detaillierte Helligkeit danach immer schmerzte und weil ich mir meinen Mund zunähte, mit Händen und Armen und Beinen und Füßen verschloss, ihn als überflüssig erklärte, weil mir draußen niemand glaubte und weil ich nichts hörte als das Echo meines eigenen Atems.

Ich wünschte, der falsche Tag wäre gekommen.
Dann wäre er
jetzt
vorbei.
 

GabiSils

Mitglied
Hallo A.,

möchtest du diesen Text gern in einem Werkeforum haben? Eine Kurzgeschichte ist es eigentlich nicht; das Tagebuch käme in Frage.

Gruß,
Gabi
 

Anonym

Gast
Hallo GabiSils,

nee, lass es mal hier stehen. Ist mir anonym lieber.

Viele Grüße
anonyma
 



 
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