Durchgefallen

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Inge Anna

Mitglied
Durchgefallen

Da war Willi, sang sich mir ins Herz.
Ich lernte den jungen Mann an meinem 18. Geburtstag kennen.
In unserem Wohnhaus war die Heizung ausgefallen. Die Familie saß, eingehüllt in Wolldecken, an der liebevoll gedeckten Kaffeetafel. Hoffend auf das Erscheinen des bestellten Installateurs waren wir alle in recht fröhlicher Stimmung.
Es währte dann auch nicht lange, bis die Hausklingel uns einen Besucher signalisierte. Hurra! Da war er, der erwartete Klempnergesell, der sich mit: "Ich bin Willi, der rührige Wärmezauberer" vorstellte und drauf unverzüglich ans Werk ging. Bald schon wurde es mollig warm in den Stuben. Wir atmeten auf.
Zum Dank für die rasche Hilfe lud man Willi dann zum Abendbrot ein. Dieser nahm die Einladung freudig an. Seine offene Art gefiel allen - ein Mensch, mit dem man sehr schnell warm wurde.
Später holte Willi dann seine Minka (Gitarre) aus dem Auto, unterhilt die ganze Gesellschaft mit Spiel und Gesang. Und er sang sich mir an diesem Abend tief ins Herz.
Willi hatte es mir angetan. Anderntags überdrehte ich den Wasserhahn im Bad. Willi würde kommen und - er kam. Von da an brauchte ich auch keinen Defekt mehr herbeizuführen, um seine Gegenwartt zu genießen.
Willi hatte nicht nur eine herrliche Tenorstimme; er war auch ein ausgezeichneter Tänzer. Ich ging oft und gern mit ihm aus.
Mein Sehverlust schien ihm keine Barriere. Mit seinen Freunden machte er mich auf völlig lockere Weise bekannt.

Und dann kam der Tag, an dem Willi mich seiner Mutter - er nannte sie Mutsch - vorstellte.
Die Dame empfing mich allzu herzlich. Das machte mich verlegen.
Sie bot überschwänglich Kaffee und Gebäck an. Ich war derart gehemmt, dass ich mir beim Anheben der übervollen Kaffetasse wohl die Hälfte des edlen Getränks aufs Kleid kippte. Peinlich...
Weit schlimmer war, was sich danach zutrug.
Mutsch fragte mich nach der Farbe ihres Pullovers. Ich antwortete spontan: "Grün ist der - grün". Das traf zu. Bei der Farbe ihrer Schuhe verließ mich die Eingebung der Gnade. Braun war falsch. Mutsch brach in schallendes Gelächter aus: "Durchgefallen - durchgefallen - durchgefallen!" Sie hatte einen Mordsspaß. Ich wollte nur noch fort, fort aus dem Bereich dieses Hohngelächters.
Willi schwieg, drehte indes das Radio lauter. Rudolf Schock meinte gesanglich: Immer nur lächeln.
Mutsch befahl ihrem Sohn, mich nach Hause zu fahren.
"Durchgefallen", sagte ich, als er mich grußlos vor der Haustür absetzte.
 

Carlo Ihde

Mitglied
Durchgefallen? Das erinnert mich an die berühmte Szene in Helge Schneiders Film "Praxis Dr. Hasenbein" als er eine Sprechstundenhilfe sucht... sehenswert.

Nur was da in Humor verpackt ist, wirkt bei dir kafkaesk, undurchdringbar, es ist halt einfach so.

Gab es am Ende Trauer?

Ich glaube nicht.

Schauerlich schön.
 

Carlo Ihde

Mitglied
Dann doch Wut? Die Geschichte ist so momenthaft, da hätte ich eine Weiterführung in solchen großen Gefühlen wie Wut gar nicht vermutet. Hätte gedacht: vorbei ist vorbei, wie mit dem Text so mit seinem Inhalt.

So oder so.
 



 
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