ES

Scherze mit dem Tod gelten als pietätlos. Aber was, wenn der Tod mit uns scherzt?
ES lauert überall. Ein eindeutigES Wort habe ich nicht gefunden. Zwischen Zuversicht und Zweifel verweigerte ES den Nachschub. Keine lebendigen Sätze, keine Ideen und Gedanken. Der Stil meiner Erzählungen verkam zu dem bürokratischer Richtlinien, Berichte oder langweiliger Lebensgebrauchsanleitungen.
Abenteuerlust packte mich zwar noch, aber ES und das Abenteuer blieben aus, obwohl angeblich eine Reise nach innen spannender sein soll als die Entdeckung unbekannter Höhlen, antiker Königsgräber und von Goldschätzen.
VielES könnte in mir schlummern. Doch ES weigert sich aufzuwachen.
Gerade stelle ich mir vor, in jene Tiefen hinabzusteigen, die in meinem Innern darauf warten, entdeckt zu werden. Und albern wie ich bin, finde ich mich mit Hilfe meiner Fantasie in meinen Dünndarm wieder. Mühsam krieche ich auf schleimigem Boden. Überall riecht ES nach ESsensrESten. Verzweifelt halte ich inne. Nein, zu den Tiefen meiner Seele, werde ich über den Dünndarm wohl nicht vordringen, obwohl der sich mit all seiner Peristaltik Mühe gibt, mich voran zu schieben. Um zu ahnen, wo die Abschiebung enden könnte, bedarf ES für den bevorstehenden Fall keiner bESonderen Vorstellungskraft.
Vielleicht ist ES wirklich nur ES und Seelen gibt ES keine, da sie allein die Erfindung religiöser Seelsorger oder ihrer weltlich-psychologischen Konkurrenz sind.
Doch so schnell will ich meine Expedition nicht aufgeben, nur weil ich zunächst den offenbar falschen Einstieg - den über mein Verdauungssystem - wählte.
Den letzten von mir verfassten Erzählungen fehlte ES. GESchichten, die Seele haben sollen, brauchen Schreiber, die aus lebendigen Seelen schöpfen können.
Vielleicht sollte ich völlig absichtslos mit einer GESchichte beginnen, da absichtsvolle GESchichten ohnehin nur gewollt wirken.
Also nennen wir den Helden Walther S. . Klingt harmlos. Die LESerinnen und LESer werden ihn für unbedarft halten. Später soll er groß rauskommen. Das deute ich bereits im Eingangssatz an:
Walther S. hat seine Gründe, nicht nur bei der Kleidung Wert darauf zu legen, möglichst unauffällig zu erscheinen.
Seit Wochen fühlt er sich leer. Atmet er tief ein, gelingt ES ihm nur mit Mühe, seinen schweren Brustkorb zu heben, während unwillkürlichES Stöhnen und Seufzen sein Ausatmen begleiten. Will er schreien, erstickt seine Stimme in trockenem Husten.
Und da er ein zurzeit seelenloser Schriftsteller ist, bleiben seine Worte und Sätze ausdruckslos wie sein müdES GESicht.
Seit Wochen schläft er schlecht, erwacht jede Nacht gegen drei, geht ins Bad und bekommt dort den ersten heftigen Hustenanfall dES TagES. Löst sich der Schleim in den Bronchien, spuckt er ihn verächtlich ins Klobecken. Kommt er ins Schlafzimmer zurück, kann er nicht wieder einschlafen. Setzt er sich an den Schreibtisch, macht er sich zwar viele Notizen, jede für sich sogar ziemlich originell, aber kaum einmal taugen wenigstens zwei der nächtlich notierten Sätze für eine gemeinsame GESchichte.
Probleme mit den Atemwegen und regelmäßigES Wachwerden um drei Uhr nachts seien typisch für DeprESsionen, erfuhr er bei einer der zurzeit üblichen FernsehgESundheitssendungen.
Der Tod kommt immer auf Raten. DiESen Satz notierte sich Walther S. heute Nacht. Freund Georg Hansemann vertraute ihm den gestern am monatlichen Stammtisch in der „Ewigen Lampe“ an, bevor die Anderen kamen, die vor allem politische Parolen verbreiten, nicht stubenreine Witze von sich geben und lästern – einer der Anderen über den Anderen der Einen. Und da die Anderen weiter auf sich warten ließen, erzählte Walter S. leise, sein Vater habe auch schlecht geschlafen. Hatte Angst, im Schlaf zu sterben, sei von Tag zu Tag müder geworden und schließlich in einer Nacht gegen drei Uhr morgens gEStorben. Allerdings auf der Toilette, die er im wachen Zustand aufsuchte. Als Schlafwandler war sein Vater nämlich nie aufgefallen.
„Herzinfarkt beim Kacken!“ Freund Georg schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
Maria, die letzte Lebensgefährtin seinES Vaters traute sich nicht, die Toilettenspülung zu bedienen, da sie die letzten Lebenszeichen ihrES MannES nicht vernichten wollte.
Schließlich drückte Walther S. nach drei Tagen den Wasserspülungsknopf und reinigte mit der Klosettbürste das Becken. Bis dahin gingen Maria und er zu Nachbarn aufs Klo.
Als Maria nach der Beerdigung zum ersten Mal wieder auf die eigene Toilette ging, pinkelte sie im SchwebESitz. Walther musste schließlich im Heimwerkermarkt eine neue Brille kaufen. Die alte vergrub er im Garten und Maria pflanzte einen Rosenstock darauf. „Rosen liebte dein Vater. BESonders dunkelrote!“ sagte sie unter Tränen. „Hab deshalb für seinen Sarg so ein riESigES Rosengebinde machen lassen.“
Walther stellte sich neben Maria und streichelte ihr liebevoll den Buckel. Dankbar sah sie zu ihm auf, wie auf dem Nachttisch-Foto zu seinem einen Kopf größeren Vater.
Walther S. ließ ich gEStern, als er vom Stammtisch zurückkam und ich die GESchichte vom Toilettentod dES Vaters seinES FreundES Georg aufgESchrieben hatte, ununterbrochen gähnen. Ich gähnte mit, legte mich auf mein Sofa, wachte heute Morgen auf und wunderte mich, vollständig angekleidet zu sein.
Im Bad, in dem mich jeden Morgen mein zweiter Hustenanfall ereilt, blieb ich vor der Toilette stehen. LeichtES Kratzen im Hals, aber kein Hustenanfall.
Beruhigt setzte ich mich an den Schreibtisch, ließ Walther S., ausgESchlafen, wie er nach dieser Nacht war, sein Frühstück bei Maisonne auf dem Balkon genießen.
Walthers letzte Lebensabschnittsgefährtin verließ ihn vor zwei Jahren und er überlegte beim Kaffee, der ihm viel zu stark geraten war, wie wunderschön ES wäre, mit einer Frau auf dem Balkon zu frühstücken.
Da war er wieder. Seelenloser Kitsch: Maisonne, Säfte steigen, Sehnsucht nach Liebe. Wunschsex im Alter. Jetzt müsste Walter S. noch ein sentimentalES Gedicht verfassen. Nun, das könnte ich ironisch bringen. Andererseits könnte auf dem Balkon gegenüber eine leicht bekleidete Nachbarin ihrer Morgengymnastik nachgehen und den schüchternen Walther verleiten, laut zu pfeifen, um sich dann schnell hinter dem mit einer grünen Plane verhängten Balkongeländer zu ducken. Lieber lasse ich Walther S. nachts um drei vor der Kloschüssel stehen.
Sein Freund Georg sagte grinsend, als die anderen Stammtischbrüder kamen: „Der Mensch stirbt so, wie er gelebt hat.“ „Ja“, bestätigte ich, „mein Vater hat viel Scheiße gemacht.“ Obwohl sie die GESchichte vom Tod seinES Vaters gar nicht mitbekommen hatten, lachten alle dröhnend, weil man, wenn ES persönlich wird, am Stammtisch dröhnend lacht. Wird ES politisch, gilt es ernsthaft zu wirken.
Freund Georg Hansemann erzähle von drei Ehen und ein paar anderen Beziehungen seinES Vaters. Alle Frauen verließen ihn. Ging ständig fremd. Beruflich baute er auch Mist. Unterschlagung, Urkundenfälschung und so. Zweieinhalb Jahre habe er gESESsen und ES danach mit ner neuen Frau versucht. Sozialarbeiterin. Hatte er im Knast kennen lernte.
Fritz Mallach erzähle von seiner verstorbenen Frau und endete, wie üblich mit: „Sie war die Rose meines Lebens. Hat mir leider nur ihre Dornen gezeigt.“ Und Fritz erzählte den Witz vom Sensenmann. Hier muss ich mir noch einen makabren Witz einfallen lassen. Bin dazu aber gerade nicht in Stimmung.
Walther S. steht noch vor der Kloschüssel. Entgegen seiner Gewohnheit, sitzend zu pinkeln, könnte er ES im Stehen versuchen. Spürt den Hustenreiz, kann ihn unterdrücken, setzt sich.
Könnte ihn sterben lassen, wie seinen Vater. Oder wie meinen, obwohl der in seinem vierundachtzigsten Lebensjahr überhaupt noch nicht sterben wollte und sich stets wünschte, „im Bett hinüber zu schlafen“.
Ich werde müde. Soll ich Walther S. durchschlafen lassen?
Wenn ich heute Nacht wach werde, setze ich mich an den Schreibtisch und werde versuchen, zu weinen.
 

Haremsdame

Mitglied
Hallo Karl,

bei mir ist die Qual angekommen, die eine Schreibhemmung mit sich bringt. Wie sich der Schriftsteller fühlt, wenn ES ihm nicht gelingt, das, was ihm arbeitet, aufs Papier zu bringen.
Zu Beginn der Geschichte fragte ich mich noch, was das solle, war da aber schon so hineingezogen, dass ich weiterlesen musste.

Gefallen hat mir die Großschreibung jedes ES.

Auf jeden Fall ist ES ein Text, den ich mir nochmal zu Gemüte führen werde...

Grüße von der Haremsdame
 
Liebe Haremsdame,
herzlichen Dank dafür, dass du dir den langen Text zu Gemüte geführt hast. Und natürlich freue ich mich, dass er offensichtlich ein paar Spuren bei dir hinterließ.
Mir geht es nicht nur um die Schreibhemmung sondern auch um das Gefühl, bei der schreibenden Selbstsuche kein echtes Selbstgefühl mehr zu finden. Durch Schreiben äußere ich mich. Und wenn ich das Gefühl habe, mich nicht so äußern zu können, wie ich es gern möchte, dann macht mir das erheblich zu schaffen und kann mich wochenlang beschäftigen.
Liebe Grüße
Karl
 



 
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