Anton Zamka
Mitglied
Eggesin möglicherweise
„Was die Kleingärten betrifft. Die Kleingärten sind in Gefahr. Da kommt
ein Wirbelsturm demnächst. Und da werden einige Kleingärten hops
gehen.“ (Die Wahrsagerin)
Da ich überhaupt nie daran gedacht hatte, jemals in Eggesin zu übernachten, ich plante, am Samstag fahre ich früh los und würde den Zug am Nachmittag zurück nehmen, schlief ich die erste Nacht im Hotel Mecklenburg. Am Sonntagnachmittag war Eggesins Bahnhof nur mit zwei Soldaten, die ihrem Alter nach, noch in der Schießausbildung waren, bestanden. Sie wirkten nicht gerade glücklich über den Umstand, Eggesin verlassen zu müssen, waren sie doch bis zu der etwas plötzlichen Lautsprecheransage, die von ihnen weitestgehend gelassen, ich möchte sagen bodenspuckend hingenommen wurde, mit der üblichen Tipperei an den Handtelefonen beschäftigt, wahrscheinlich um die zurückgebliebene Eggesiner Clique über den jeweiligen Stand der Reise zu informieren. Gemäß meiner Nerven, war ich bei der, wie gesagt plötzlichen, doch vor allem sehr rabiaten Lautsprecherstimme etwas erschrocken, während ich doch gerade daran dachte, dass ich, wie die beiden Soldaten, Eggesin verlassen würde, am Fahrscheinautomat sogar fest glaubte, nie wieder nach Eggesin zurückzukehren. Mich meinen Überlegungen am Fahrscheinautomaten sozusagen hingab, ob mir, wie den zwei Soldaten, der Abschied von Eggesin schwer fallen würde, ich mich gar, vielleicht nach einer Stunde Zugfahrt nach Eggesin zurücksehnen würde. Was ja grotesk wäre, denn ich hatte nie nach Eggesin gewollt, interessiert hatte es mich ja, doch die Bundesgartenschau hätte mich in gleichen Maßen interessiert wie Eggesin, ich hatte ja nur für einen Tag nach Eggesin fahren wollen.
Mein verlängerter Aufenthalt in Eggesin hätte nicht an den Eggesiner Sehenswürdigkeiten gelegen, von denen ich überdies nichts wusste, die sprichwörtliche Liebenswürdigkeit der Eggesiner war es auch nicht gewesen, sondern, es hätte im Eigentlichen keinen Grund für einen verlängerten Eggesinaufenthalt gegeben.
Montags in der Frühstückspause hatte der Programmierer gesagt, man müsse nach Berlin. Er war am Wochenende in Berlin gewesen.
Dort wäre Action und alles neu, hatte er gesagt. Zu mir gerichtet, ich wusste nicht warum: „Berlin ist ja auch die Künstlerstadt, schon immer gewesen.“
Die Künste waren mir eine zeitlang, dass könne der junge Programmierer aber nicht wissen, sympathisch gewesen. Ich sympathisierte sozusagen mit Der Kunst. Doch nie mit Dem Künstler. Im Übrigen war es nie Die Kunst allgemein. Im Eigentlichen wäre es gar keine Kunst mit der ich sympathisiere, da ich Die Kunst eigentlich nicht ausstehen könne, sie mir regelrecht auf den Geist gehen würde. Kunst hatte ich immer nur zu Dingen gesagt, die gar keine, im herkömmlichen Sinne, künstlerischen Dinge waren.
Ich wäre in Eggesin gewesen. Sie lachten. Dass sie kein Interesse an Eggesin zeigten, emp-fand ich als normal. Im Übrigen hätte ich auch nicht gewusst, was es über Eggesin zu erzählen gäbe. Ich interessierte mich ja auch nicht für Eggesin. Am Schreibtisch rief ich doch das Eggesiner Kreisblatt an um ein Abonnement zu bestellen.
Das Eggesiner Kreisblatt lag schon am Mittwochmorgen überraschend im Briefkasten. Mit Genugtuung nahm ich in der Mittagspause, als gerade die Lehrergattin S. den Terminkalender zückte, mein Eggesiner Kreisblatt aus der Tasche.
Treuselig schauten mich im Lokalteil zwei dunkle Pferdeaugen an. An der Bundesstraße, die Eggesin im Übrigen umgeht, hätte der Pferdezüchter L., mit zunächst glimpflichem Ausgang, einen Unfall verursacht. Die freiwillige Feuerwehr aus Eggesin hatte alles unter Kontrolle bringen können, doch während der Aufräumarbeiten war das Sportpferd aus der Pferdebox entkommen und nächtens verwirrt über die Bundesstraße davon galoppiert. Mercury, so der Name des Sportpferdes, wäre Richtung Eggesin verschwunden, so Feuerwehrsbrigadier B. Der alteingesessene Wurstfabrikant P., schrieb der Reporter, wäre der Letzte gewesen, der Mercury lebend gesehen hätte. Mercury hätte, so der Fabrikant, in unmittelbarer Nähe des neu gebauten Fleischeinsprungtrichters die neue Freiheit herumspringend gefeiert. Fabrikant P. beteuerte aber dem Reporter gegenüber, technisch sei es zwar möglich, doch er glaube es nicht.
Schade, dachte ich, dass ich hinter dem Eggesiner Kreisblatt nicht die Gesichter der Kollegen sehen könne, die mich ja immerhin schon jahrelang als Höropfer ihres neidischen Theater-gastlebens oder größensüchtiger Berlinliebeleien benutzten.
Die Lehrergattin S. könne ja ohne ihren Terminkalender nicht leben, in jeder Mittagspause würde sie ihren Terminkalender auf die groteskeste Art und Weise durchblättern.
Während ich vortäuschte zu lesen, dabei immer mal wieder ein erstauntes „Oho!“ oder „Na sieh mal an!“ preisgab, überlegte ich, sie hätte überhaupt nie gelebt.
Nicht nur weil sie augenscheinlich von Termin zu Termin rennen würde und damit unemp-fänglich für Spontaneität, schlimmer, gerade zu von einer panischen Spontaneitätsangst zersetzt war, sondern weil sie gewissermaßen eine perverse Theatergängerin sei. Tatsächlich war jeder Tag mit einem abendlichen Theatergang verplant, mal sei es ein Ibsen, mal ein Grillparzer, ich fürchte sogar, sie ginge auch zu einem Bernhard, was mir augenblicklich Schmerzen bereitete. Sie hatte mal gesagt, fiel mir plötzlich ein, ihr Gatte, der Lehrer, wäre ja Naturwissenschaftler und somit wäre Konkurrenz im ehelichen Zusammenleben ausgeschlos-sen. Damals hatte ich noch höflich geantwortet, in dieser Kombination könnten sie gut in einer Wissensshow auftreten, als die Theaterfrau mit dem Physiker. Doch ihre Ehe sei sicher die reinste Konkurrenzhölle, beide würden sich hinter ihren hochmütigen Brillenblicken die reinsten Wissensschlachten liefern. Dass die Lehrergattin überhaupt auf den Gedanken käme, in einer Ehe Konkurrenz zu vermuten, - in ihrer ja nicht! -, zeige doch nur im höchsten Maße, dass sie nur in der Konkurrenzkategorie zu denken pflegt. Ich hätte mich ihren Konkurrenzat-tacken nicht immer wehren können. Zu oft war ich auf ihre kleinen Tricks hereingefallen. Saß sie in der Mittagspause über Tolstoi, so befand man sich in der allerkürzesten Zeit in einem Wissensstreit über Tolstoi, bald in einem Wissensstreit über die gesamte russische Kultur. Sie, die nie in Russland gewesen war, ereiferte sich an ihrem Universitätswissen. Die Tochter meines Moskaufreundes hatte erzählt, sie liebe Tolstois` Kosak. Auf die Frage „wen den noch?“, überlegte sie kurz, - „den Kosak!“ und lachte. Tausend Mal mehr zählen würde das.
Zur Untermiete las ich: Am Johannapark wäre ein Zimmer frei, mit Badewanne.
Wieder im Büro schlug ich das Eggesiner Pferdeportrait auf und dachte es rahmen zu lassen.
„Hier Eggesin!“
„Guten Tag. Ich rufe an wegen der Annonce. Ist das Zimmer noch frei?“
„Warum wollen Sie denn in Eggesin wohnen?“
„Ja, warum? Ich dachte daran einen Pferdehof zu eröffnen.“
„Na ja, das habe ich noch nie gehört.“
Den folgenden Tag nahm ich frei und fuhr mit dem Frühzug nach Eggesin. Ich würde mir das Zimmer anschauen aber nicht nehmen. Ich hatte die Vorstellung einer Art Geistwohnung.
Ich würde nach Eggesin fahren, mir unter Vortäuschung falscher Tatsachen das Zimmer anschauen und versprechen, darüber nachzudenken.
Selbstverständlich würde ich das Zimmer nicht nehmen, weniger aus finanziellen Gründen, vielmehr würde ich nach Eggesin fahren, einem anderem Lebensbild wegen.
Im Frühzug nach Eggesin, dachte ich, die Geschichte vom Juden I. hätte mich das halbe Leben verfolgt. Zwanzig Jahre hatte ich versucht mich an die Anekdote des Juden I. zu erinnern. Im Grunde war es eine der wenigen Schulerinnerungen die ich überhaupt besitze. Doktor Wanja (stets müde) hatte sie uns erzählt. Mittlerweile konnte ich nicht mehr zwischen Erdachtem und Erzähltem unterscheiden.
Immer wieder versuchte ich mich zurückzuerinnern, sozusagen an die Urwörter Wanjas zu gelangen, um aus diesen eine Lebensvariante des Juden I. zu konstruieren. Was ich zu wissen glaubte: Der Jude I. lebte in Odessa am Schwarzen Meer. An Odessas altem Gemäuer schlängeln sich allenthalben Weinreben. Die Frauen Odessas sind die Schönsten der Welt, obschon sie Schnurrbärte trügen und kein Parfum benützten. Auch wären ihre Achseln schwarzhaarig und sie kleideten sich am liebsten in ärmellosen Tops. In den Sechszigerjahren studierte der Jude I. Germanistik. Nach erfolgreichem Abschluss, es war Sommer, entschied er, nach Deutschland zu ziehen. Er packte zwei Köfferchen und setzte sich in den Zug.
Das lebenslänglich letzte Bild aus Odessa, sogar das letzte nüchterne Bild der Ukraine, denn sobald der Zug ins Rollen gekommen war, wurden die Wodkaflaschen geöffnet, Brot, Wurst und Gürkchen angeschnitten, dieses letzte Bild jedenfalls, dass der Jude I. sein Leben lang in sich trug, war das eines blonden Jungen, der den Zugreisenden, schlaksig im Unterhemd, braungebrannt an einem Bahndamm, in den Ausläufern der Stadt lässig den Mittelfinger zeigte.
Als bald fiel der Jude I. in einen tagelangen Schlaf, woran der Wodka Mitschuld trug. Verschwitzt war er endlich, für ihn hätten es Wochen sein mögen, aufgewacht. Die Mitrei-senden schnarchten, lagen ineinander verknäuelt, leere Wodkaflaschen rollten auf dem Waggonboden. Es war eben genauso, dachte er, wie die Odessiten nun mal zu reisen pflegten.
Etwas Geheimnisvolles passiert, spürte er, während er über den Wulst an Schnapsleichen aus dem Fenster schaute. Draußen breitete sich eine karge Landschaft aus, baumlos und daher fast an Steppe erinnernd, waren nur hier und dort kleine Barackchen eingestreut.
Der Zug drosselte quietschend das Tempo, rechtsseitig ragten hohe, leicht gebeugte Flutlich-ter empor, ein endlos langer Betonsteig zog sich gerade an der Zugtrasse entlang.
Nirgendwo war auch nur eine Menschenseele zu sehen. Es wäre ein Zeichen, das nur er, alle anderen schliefen ja, er, der Jude I. bekommen hätte.
So dachte er, und überlegte nach dem Sinn des Zeichens, als der Zug mit einem letzten Ruck hielt. Da wurde die Stille drückend, von einer Birke erhoben sich einige Krähen. Das Orts-schild hing schief im an einem Pfosten, die schwarzen Buchstaben waren von Rost angefressen: Auschwitz.
Darauf fiel er wieder in einen tiefen, tagelangen Schlaf, und als er das nächste Mal erwachte: Die gleiche Szenerie, wieder hielt der Zug, dieses Mal schon in Deutschland, in Bergen-Belsen. Das waren die Fakten, die mir vom Juden I. bekannt waren.
Die Eggesiner Wohnung war möbliert und hatte Kasernenausblick. Es waren indes, wie sich herausstellte, siebzehn Wohnungen, alle möbliert mit Kasernenblick.
„Sie könne alle haben oder nur eine.“, sagte die Vermieterin.
„Hier“, die Vermieterin am Fenster stehend, „die Kaserne.“
„Leer?“
„Ja, sind alle weg!“
„Da oben die Rumpelkammer. Schauen Sie nach, ob Sie noch was Brauchbares finden.“
Ich unterschrieb den Mietvertrag in ihrer Wohnküche. Beinahe hätte ich, dass hatte ich früher oft getan, mit anderem Namen unterschrieben. Den Nachmittag war ich in mein Eggesiner Zimmerchen gegangen und am Fenster gestanden. Leere Offizierswohnungen standen mir gegenüber. Das schwarz-rot-gold gestrichene Schrankhäuschen war verlassen und der Schlagbaum blieb liegen. Für einen Augenblick glaubte ich, das Pferd zu sehen. Wie es auf den Schlagbaum zutrabt. Am Abend wachte ich in verschwitzter Kleidung auf.
Auf den Boden war ich gestiegen und hatte mir die Schreibmaschine geholt. Seit Jahren mein Traum: In eine Schreibmaschine hacken.
Liebe Freunde. Ich schreibe aus einer Stadt, von der man sagt, dass es sie in ein paar Jahren nicht mehr gibt.
Die Situation vor dem Absprung
Am Morgen war ich mit meinen Briefchen in die kleine Dorfgasse spaziert. Ich hatte sie eingeworfen, dann war ich zum Kaffe in die Bäckerei gegangen.
„Wie läuft`s Geschäft?“, fragte ich.
„Ich schaue mir noch ein Jahr an.“, sagte der Bäcker. „Das schaue ich mir noch an. Danach werde ich entscheiden.“
Einige Tage später schaute treuselig, im Lokalteil des Eggesiner Kreisblattes, der schwarzäu-gige Pferdehofbetreiber in die Leserschaft. Der Vermieterin E. nach, wäre der Eggesiner Neubürger schon drei Nächte in Folge nicht mehr in der Wohnung gewesen. Wurstfabrikant P., schrieb der Reporter, wäre der Letzte gewesen, der den Mann lebend gesehen hätte. Er hätte, so der Fabrikant, in unmittelbarer Nähe des neu gebauten Fleischeinsprungtrichters gestanden. Fabrikant P. beteuerte aber dem Reporter gegenüber, technisch sei es zwar möglich, doch er glaube es nicht.