Eichmännchen

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LUPESIWA

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Aus meiner Reihe "Geschichten über Senioren für Senioren"

Eichmännchen

Martha Eichmann sitzt im Rollstuhl und schaut regungslos aus dem großen Fenster ihres Zimmers, genau auf eine wunderschön gewachsene Rotbuche. Sie liebt diesen Baum in allen Jahreszeiten. Selbst im Winter, wenn die fast kahlen Äste gespenstisch in den Nachthimmel ragen.
Aber heute kann sie sich nicht einmal über die üppige Blätterpracht freuen, die mit prächtigen gelben, orangeroten und rotbraunen Farben in der goldenen Herbstsonne glänzt.
Martha ist sehr traurig, vielmehr noch, ihr ist einfach nur zum Heulen zumute. Nichts und niemand kann sie heute aufmuntern. Dabei sitzen ihre Mitbewohner gerade gemütlich in der Cafeteria zusammen und feiern das Erntedankfest. Aber auch Schwester Birgit, der sonst keiner widerstehen kann, hat es nicht geschafft sie zu überreden daran teilzuhaben.
Sie presst ihre Hände auf die schmerzende Brust, genau wo das Herz darunter wild pocht und schickt ein Stoßgebet in den Himmel. Sie hadert mit Gott, weil er sie damals nicht auch zu sich geholt hatte. Heute vor fünf Jahren verstarb ihr Mann an einem Herzinfarkt – Schluss – Aus - und plötzlich war alles anders.
Martha schließt die Augen und sieht überdeutlich wieder diese Bilder.

Sie packte gerade die Koffer für ihre letzte große Abenteuerreise nach Südafrika. Ihr Herbert liebte Afrika. Eigentlich liebte er die ganze Welt. Er war ein sehr kluger Mann, arbeitete fast 50 Jahre als Verhaltensforscher und bereiste alle Kontinente. Und da es ihr nicht vergönnt war Kinder zu gebären, reiste sie die ganzen Jahre an seiner Seite mit.
Sie hatten eben ihre goldene Hochzeit gefeiert und ihr Eichmännchen, so nannte sie ihn liebevoll, schenkte ihr die Reise. Es sollte die letzte sein. Schließlich war er inzwischen stolze 80 Jahre alt, und sie würde in wenigen Tagen ihren 75 sten vollenden.
An diesem besagten Tag stand sie oben an der breiten, sanft geschwungenen Wendeltreppe mit einem karierten Hemd in der Hand. Sie hätte es am liebsten schon entsorgt. Am Kragen und an den Ärmeln war der Stoff arg abgerieben, aber es war sein Lieblingshemd.
„Eichmännchen“, rief sie damals, „soll das auch wieder mit?“ Es kam keine Antwort und plötzlich sah sie ihn liegen, ganz still und bewegungslos. Ein tiefer Schmerz bohrte sich in ihr Herz und sie machte einen Schritt nach vorn.

Martha sitzt wie erstarrt in ihrem Stuhl. Heute weiß sie, dass sie damals die gesamte Wendeltreppe herunter gestürzt war und sich dabei im Becken und der rechten Hüfte irreparable Trümmerbrüche zugezogen hatte. Nach einigen schweren Operationen und zahllosen REHA Maßnahmen musste sie sich damit abfinden, dass sie nie wieder ohne Rollstuhl zurechtkommen würde.
Noch viel schlimmer als alle körperlichen Schmerzen war die Qual in ihrer Seele, da sie sich nicht in aller Ruhe von ihrem Herbert verabschieden konnte. Wochenlang betete sie vor jeder Operation, dass sie nicht mehr aufwachen möge.
Doch sie wusste auch, dass ihr Mann das nicht gewollt hätte und so kämpfte sie sich ins Leben zurück. Nur an diesem einen Tag im Jahr war und ist alles unerträglich.

Die Dämmerung wirft schon ihre Schatten und ein leises klopfendes Geräusch am Fenster lässt sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Sie traut ihren Augen nicht. Ein rotbraunes Eichhörnchen sitzt draußen auf der Fensterbank und reißt auch nicht aus, als sie ganz nah heranrollt. Wie gebannt schaut Martha in die runden schwarzen Augen, und ein unglaubliches Gefühl von Wärme und Geborgenheit durchströmt ihren Körper.
„Eichmännchen“ flüstert sie. Dann faltet sie die Hände zum Gebet und große Tränen laufen über ihre Wangen. Das erste Mal in den vergangenen fünf Jahren.
 



 
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