Ein Anfang, vielleicht

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Astrid

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Ein Anfang, vielleicht

Die Wut war vor ihr wach. Zentnerschwer lag der Groll im Magen.
Antje war sauer. Dass die Sonne durch die heruntergezogene Jalousie knallte, dass sie nicht hatte schlafen können in der Nacht wie oft in letzter Zeit, weil die Gedanken keine Ruhe gaben.
Und sie war sauer, dass sie diesen Termin hatte. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und knallte ihre Gedanken aufs Papier, ein paar Seiten lang, in der Hoffnung, die Steine im Magen würden sich auflösen. Der Schweiß rann ihr den Rücken runter. Ihr Zimmerthermometer zeigte schon am Vormittag fast 30 Grad.

Am liebsten würde sie absagen. Doch das war bereits der zweite Anlauf.
Wenn sich eine Verabredung nicht vermeiden ließ, steckte sie Notizbuch und Stift ein und sagte sich „ich muss mit einer Geschichte wiederkommen.“ Schließlich hatte sie ja einmal vier Semester Journalistik studiert. Das war ihr Trick. Manchmal funktionierte er.
„Hoffentlich muss ich nicht in einem dieser weichen Sessel sitzen, in denen man versinkt. Und bitte kein Leder!“
Sie strich sich vor dem Spiegel die verschwitzten Haare glatt, um sie zu waschen war es jetzt zu spät, und machte sich auf den Weg. In einer knappen halben Stunde könnte sie da sein.

Vor sich sah sie einen Mann, der eigentümlich lief. Fast schon war sie versucht, ihn nachzuahmen. Er hatte den Rücken stark durchgedrückt; die Beine schienen bei jedem Schritt das Gleichgewicht seines Körpers neu auszubalancieren und sein Bauch war so weit nach vorn geschoben, als würde er ein unsichtbares Hindernis vor sich herschieben.
Schließlich überholte sie ihn.

Antje war zu früh da. Als sie klingelte, entdeckte sie im selben Moment durch die Fenster des Foyers die weit geöffnete Tür auf der gegenüberliegenden Seite.
Sie musste bis in den fünften Stock. An der Fahrstuhltür baumelte ein Schild: „Außer Betrieb.“ Halbherzig trat sie dagegen. „Scheißtag.“
Ihren zeitlichen Vorsprung ließ sie im Treppenhaus, wo ihr auch einfiel, dass sie die Wasserflasche zu Hause vergessen hatte.

Auf dem Flur im Fünften war es angenehm kühl und sehr still bis auf Stimmengemurmel, das aus einem offen stehenden Büro drang. Die Tür daneben war geschlossen, hellgrün und irgendwie breiter. Das Schild mit Namen und Doktortitel nahm sich fast spärlich aus daneben.

Auf einem kleinen Bistrotisch lag ein Stapel Zeitschriften. Antje ließ sich auf einen der beiden Stühle nieder und griff nach einem Magazin. In dieser Ausgabe wurde über Frauen berichtet, die einen Neuanfang gewagt hatten. „Den könnte ich auch gebrauchen.“
Sie las sich fest. „Anfangs haben einige meiner Freunde den Kopf geschüttelt, als ich ihnen sagte, ich wolle in meinem Alter mit einem Medizinstudium beginnen“ erzählte Jutta. Kleine Schritte habe sie gemacht, bis sie da war, wo sie heute ist.
„Kleine Schritte“ schoss es Antje durch den Kopf, „sind nicht meine Stärke. Ich will immer alles und sofort. Wäre ich ein Läufer, würde ich ständig stolpern, weil ich den fünften vor dem dritten Schritt mache. Oder ich würde fliegen, aber das geht ja nicht wegen der Höhenangst. Höhenangst, Kurzatmigkeit und ein permanentes Gefühl von Unzufriedenheit. – Perfekt“ dachte sie.

Aus der hellgrünen Tür trat ein Mädchen, nickte ihr freundlich zu und ging Richtung Treppe. Antje war überrascht, wie jung sie war. Was wollte die hier?
Eine ältere Frau folgte kurz darauf und bat sie hinein - ihr Termin.
Den Neuanfang warf sie auf den Tisch.

Das Büro war winzig, die Tür zu einem kleinen Balkon stand offen und brachte etwas Abkühlung. In einer Stunde würde die Sonne rum sein und sie müsste sie schließen. Die Frau trug ein Sommerkleid in dezenten Farben und hatte kurze braune Haare, die es einem schwer machten, ihr Alter zu schätzen. Sie trat hinter ihren gläsernen Schreibtisch, tippte auf den Tasten des Laptops herum, der sei mal wieder kaputt, gestern ging er noch und nun musste sie alles mit der Hand schreiben.
Antje stand noch immer und dachte, dass sie das eigentlich nicht wirklich interessierte.

„Nehmen Sie doch bitte Platz!“
Ledersessel. Weiche. Platz fand man nicht wirklich darin; man wurde tiefer gelegt, verrutschte. Die Sätze, die sich Antje zurechtgelegt hatte, verrutschten auch.

„Warum kommen Sie zu mir?“
Wie sehr hatte sie genau diese Frage gefürchtet. Ihr Zettel mit einigen Notizen lag in der Handtasche. Es wäre ihr unangenehm, ihn jetzt rauszuholen. „Ach ich fange einfach an“, dachte Antje, “ reden fällt mir schließlich nicht schwer.“
Und während sie redete, hörte sie sich selber und bekam einen besseren Eindruck von sich, als es ihr morgendliches Gefühl widergespiegelt hatte. Nur keine Pausen machen, nicken durfte die Frau, aber möglichst keine Zwischenfragen stellen. In diesem Moment schien Antjes Überleben davon abzuhängen, dass ihr Mund nicht still stand. Ab und an warf sie einen kurzen Blick auf ihr Gegenüber. Meist aber sprach sie zum geöffneten Balkonfenster.

Plötzlich hörte sie sich von schwarzen Klamotten reden, vom unsichtbar sein wollen, abgesagten Verabredungen, Adrenalin durchtränkten Höhenflügen und leeren Löchern und Wut und wie es ist, wenn jemand ihr die Hände festhält, sodass sie nichts tun kann, einfach nichts.

„Warum wollen Sie nicht gesehen werden?“

Eine fette Fliege saß neben dem Laptop. Antje wurde es heiß, sie spürte wie sich das Leder klebrigfeucht an ihre Schenkel drückte. Wie sollte sie nachher nur aus diesem Monstrum rauskommen, ohne eine Schwitzspur zu hinterlassen?
Ihr Blick bohrte ein Loch in die Fliege. Spuren verwischen – das war ihr wohl trotz ihrer Redekunst nicht besonders gut gelungen. Die ganze Zeit hatte diese Frau still zugehört und dann– zack – eine Frage wie ein Pfeil, mitten ins Schwarze.
Antje räusperte sich, erzählte von völlig anderen Dingen, hoffte, dass die Ablenkung erfolgreich war.

„Hatten Sie schon einmal Suizidgedanken?“
Der nächste Pfeil. Antje hatte die Schultern hochgezogen und die Arme verschränkt. „Hilfe nein“ dachte sie. Da war nur manchmal dieses Gefühl, als wollte ein riesiger dunkler Rachen sie verschlingen.“
In diesem Moment musste sie an den Freitod eines Journalisten denken, über den sie gelesen hatte. „Selbst im Tod wollte er nicht gesehen werden.“

Die Frau hatte unauffällig zur kleinen Uhr auf dem Tisch gesehen. Antje war der Blick nicht entgangen. Draußen wartete bereits der Nächste.
Patient, Mandant, Kunde, wie sagte man hier, Kandidat? „Willkommen im Spiel des Lebens, hier können Sie nur gewinnen!“
Der Nächste hatte auch geklingelt.

Sie schrieb etwas an ihrem gläsernen Schreibtisch, wobei sie noch einmal erwähnen musste, wie sehr ihr der Computer fehlte.
„Sie entscheiden, ob Sie mit mir zusammen arbeiten wollen.“
Sie gab Antje ein Formular, auf welches sie oben rechts die Bezeichnung
F 32.1 geschrieben hatte, was irgendwie geheimnisvoll klang und wie eine Beurteilung dessen, was Antje hier gezeigt hatte.
„Das lassen Sie bitte von Ihrem behandelnden Arzt ausfüllen. Ich habe Sie mit mittelschwerer Depression eingeschätzt.“
Antje war in ihrem Sessel bis an die vordere Kante gerutscht.
„Wir sehen uns dann in einer Woche wieder.“

Die hellgrüne Tür wirkte schmaler als vorhin. Auf dem Gang wartete der Mann, den sie überholt hatte.
Die Neuanfänge lagen noch so, wie sie sie auf dem Tisch gelassen hatte.
 



 
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