Ein Bildnis (p.a.)

Carlo stand in Kellermanns Schatten, direkt zum Fuße der hölzernen Treppe, die als einziger dunkler und enger Zugang in die obere Etage führte. Zwei Schritte trat er zurück, doch das Licht wurde nicht klarer; wieder einen nach vorn, bis Kellermann ihn schließlich anschaute, sie eine unbeholfene Folge missverständlicher Blicke austauschten. Dann erst trat Kellermann an die Seite, lehnte sich lässig an das marode Treppengeländer und sah auf die zahlreichen Bilderrahmen der Wand. Alles einer Spontaneität nach und keineswegs aus Rücksicht auf Carlo, der jetzt - wieder im Licht – endlich selbst einen konzentrierteren Blick auf die Bilder werfen konnte.
Alte Schwarzweißaufnahmen waren es, längst vergilbte Photographien aus einer Zeit, als sich Familien noch auf der Bank im Garten zum Portrait zusammenfanden. Die Frauen darauf trugen hochgeschlossene Kleider, die Herren schlank geschnittene schwarze Gehröcke und die Kinder weiße, matrosenähnliche Anzüge. Und sie alle blickten mit einem Ausdruck in die Kamera, als wüssten sie ganz genau, dass sie, bis auf die Kleinsten von ihnen, längst tot waren.
»Wer sind die alle?« fragte Carlo. Und Kellermann streckte seinen überlangen und kräftigen Arm aus, um mit den steinernen Fingerkuppen auf einen der Jungs zu zeigen.
»Das ist mein Großvater«, sagte er, während Carlo seine eigenen Finger in den Mund nahm, die dünnen, eingerissenen Nägel abwechselnd zwischen seinen Zähnen hindurch zog.
»Und der Rest?«
»Alles Verwandte. Die da war meine Großtante, das meine Urgroßeltern.« Nacheinander hatte Kellermann auf zwei weitere Photos gezeigt und lehnte nun wieder unbeeindruckt an dem Treppengeländer. »Alle tot. Die meisten habe ich nie kennen gelernt.«
»Und wer hat die Photos hier aufgehangen? Ich meine, eigentlich sieht sich die doch nie jemand an, oder?« Er selbst sah zu Kellermann, welcher nur kurz die Schultern hob. »Warum hängt man Photos in einen engen, schlecht ausgeleuchteten Treppenaufgang, wo nur jeder an ihnen vorbei geht? Um die Leute darauf zu vergessen?«
»Was weiß ich. – Du stellst Fragen, also wirklich. Meine Mutter hat sie aufgehangen. Ich weiß nicht, ob sie es aus nostalgischen oder aus ästhetischen Gründen getan hat.«
»Wer ist das?« Carlo hatte die Finger aus dem Mund genommen und auf eines der Photos gezeigt, auf dessen Deckglas nun einen kleiner Fleck Carlos Speichel zurück blieb. Eine junge Frau im Halbprofil war dort zu sehen, schönes, dunkles, leicht gelocktes Haar, und die höflich lächelnden, aber doch steinernen Gesichtszüge alter Zeiten, gleich einer Büste von Rodin.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Kellermann offenbar gelangweilt und ging dann zur Seite fort in die Diele, zum Wohnzimmer hin, oder eher noch in die Küche, wie Carlo es annahm.
Der wieder blieb noch für einige Minuten vor dem Photo der jungen Frau stehen, das ihm von Sekunde zu Sekunde größere Rätsel aufgab.
Es war ihr Gesichtsausdruck, der weder Traurigkeit noch Glück verriet, keine Gleichgültigkeit, aber ebenso wenig Gelassenheit. Irgendetwas anderes sagte dieses Gesicht aus. Doch Carlo wollte partout nicht darauf kommen was es war, was für ein Gefühl das war, das sie ausstrahlte wie ein Spiegel. Je länger er das Photo betrachtete, desto undeutlicher wurde es. Nach einigen Minuten schien ihm bereits jedes ihrer Augen aus einem anderen Gemütszustand zu sprechen. Und egal wohin neben das Bild er seinen Kopf auch hielt, nie sah ihn die junge Frau an. Und doch, als Carlo endlich von ihr ließ und in die Diele treten wollte, verfolgte sie ihn. Nicht mit Blicken, nicht mit Worten, ohne sich von ihrem Platz an der Wand zu rühren.

Ein mildes mediterranes Frühsommerlicht flutete die Küche in einem einzigen Atemzug. Als Carlo sie betrat, lag außerdem der wässrig-mehlige Geruch von kochender Pasta in der Luft, und von der steinernen Arbeitsplatte her roch es nach frisch geschnittenem Basilikum. Wie ein Einbrecher blieb Carlo in diesem Oeuvre stehen, sah sich in dem weiten, lichten Raum um, der trotz der stillstehenden Wärme, dem zusätzlichen Dampfen des großen Topfes auf dem Herd, eine angenehme Kühle hatte. Mehr skeptisch denn suchend floh sein Blick über weiße Fliesen, hölzerne Schneidbretter und Kochlöffel, kleine Keramiktöpfe und Gläser voller getrockneter Kräuter und Gewürze, altmetallenes Küchengerät, alles eingehüllt von lichtdurchstoßenem Wasserdampf.
Es war die Leere der Küche, die diesen Ort so gespenstisch klar machte. Als hätte sie gelernt, sich selbst zu benutzen und die Menschen aus diesem Grund aus sich hinaus geworfen. Doch wäre es genau so gewesen, dachte Carlo, dann hätte es wenigstens noch lustig sein können.
Langsam trat er ein paar Schritte näher an die verzogene Terrassentür, hinter deren Gazefenster die Luft heiß und reglos stand, wie ein stummer Aufpasser, der wohl eher den Störenden warnen sollte als die Gestörten.
Dort draußen schien das Licht noch weicher, milchig fast. Der geringe Wind wiegte die Blätter der Pflanzen und Bäume nur wenn sie es wollten. Ein Wetter, bei dem manch einer sich perlendes Wasser über die warme Haut gießt, wo es in einzelnen, dünnen Rinnsalen in die kleinen Vertiefungen des Körpers auszulaufen beginnt.
Carlo schluckte trockenen Halses. Seine Finger berührten nur ganz leicht den Rahmen der Terrassentür, nachdem er einen Augenblick lang noch dort hinaus hatte gehen wollen. Aber nun blieb er einfach hier stehen, sah dabei zu wie Maria draußen vor den Terrakottatöpfen hockte und noch mehr Basilikum pflückte. Er sah gern, wie dabei die ledernen Riemen der Schuhe um ihre Fersen spannten, die ebenso fest wie empfindlich für Berührungen waren. Und gern sah er auch die winzigen Tropfen von Schweiß, die aus ihrem zusammengesteckten Haar langsam in den Nacken rollten. Wie seine Zunge über die ausgetrockneten Lippen strich, schmeckte er ihre salzige Süße und sah weiter dabei zu, wie sich die Knöchel ihrer Handgelenke bewegten, wenn sie die grünen Blätter pflückte. Sie trug den Armreif den er ihr geschenkt hatte, und im Haar die alte hölzerne Spange, die sie gemeinsam vor Jahren auf einem Flohmarkt von Florenz entdeckt hatten.
Gleich neben dieser Spange bewegte sich jetzt die Rispe irgendeines dünnen Grases. Kellermann hatte es aus der Wiese neben der Terrasse gerissen und kitzelte damit zum Spaß ihren Nacken. Immer wieder zwinkerte er in die Sonne, während er sich neben Maria hockte und sie sich unterhielten. Was sie redeten, konnte Carlo nicht verstehen. Er sah nur wie Kellermann mit gepardenhafter Galanterie in seinem Gleichgewicht ruhte, wie seine blauen Augen in die Sonne funkelten und Maria immer wieder zu ihm sah, lächelte, ja lachte und mit charmantem Blick seine Sätze erwiderte.

Nach den schwierigen, den seelisch so zermürbenden letzten Monaten und ihren vorangegangenen tragischen Ereignissen, war es Carlos mindeste Pflicht und die erste Idee dazu gewesen, Kellermann zu besuchen, da dessen Haus die Art von Ruhe bot, welche Maria in dieser Zeit brauchte. Beide hatten sie sich auf diese erste Reise seit über einem halben Jahr gefreut. Und Kellermann hatte auch versichert, dass er selbst schon zwei Tage später würde abreisen müssen, sodass Maria und er das Haus für sich hätten.
Inzwischen hatten sich Kellermanns Pläne leider schon den dritten Tag in Folge verschoben, sich die Anzeichen, dass er überhaupt noch fahren würde, nahezu aufgelöst. Als Eigentümer dieses Hauses blieb er beharrlich wo er war, zeigte sich aber gastfreundschaftlich, wenn er Carlo den Wagen lieh, mit dem er für Besorgungen in die Stadt fahren konnte, oder Maria einen geheimen, abgelegenen Spazierpfad in die umliegenden Wälder zeigte. Überhaupt schienen sich die Zwei, wie draußen auf der Terrasse zu beobachten, gut zu verstehen, schien Maria der ganze Aufenthalt hier in der Tat gut zu bekommen. Doch wenn Carlo nicht gewusst hätte, dass genau dies auch seine Absicht gewesen war, hätte er all das als schlechtes Zeichen aufgefasst.
Mit jeder Stunde in der es Maria besser ging, jedem weiteren Lächeln in ihrem Gesicht, jedem neuerlichen Glanz in ihren Augen, wurde Carlos Stimmung trüber. Möglicher Weise, weil er selbst nichts weiter dazu beigetragen hatte, als sie hier her zu bringen. Möglicher Weise, weil sie die meiste Zeit hier allein verbrachte. Und wenn sich doch mal Gelegenheit bot, ihr Gesellschaft zu leisten, so fand sich in diesen Momenten meist schon Kellermann an ihrer Seite. Wie jetzt, wo die Zwei sich anschickten in die Küche zurückzukehren.
Und mit einem Gefühl der Scham, wandte sich Carlo schnell ab, kehrte durch die Diele auf die dunkle Treppe zurück, um von dort aus hinauf ins Badezimmer zu gelangen.
Doch auf halbem Wege blieb er stehen, mitten im Tritt auf einer der Treppenstufen. Als wäre er mit dem Ärmel daran hängen geblieben, blickte er zurück nach dem Photo der jungen Frau, sah in ihr Gesicht, als wäre es gerade eben erst dort erschienen. Und wie er es sah, erkannte er im Ausdruck dieses Gesichtes weder Traurigkeit noch Glück, keine Gleichgültigkeit und auch keine Gelassenheit, sondern nichts als Schuld und die Gewissheit darüber.
Schwarz wurde Carlo vor Augen, und mit der Hand griff er stützend nach dem maroden Treppengeländer.
 
Dass es nicht gerade die kürzeste Kurzgeschichte ist, ist mir klar. Und dennoch – eine Erzählung ist es nicht. Allerdings könnte ich mir bei dieser Geschichte durchaus vorstellen, dass sie noch weiter geht. Würde mich freuen, wenn irgendwer dazu eine Meinung hat.

Ach so, bevor es Fragen hagelt: p.a. soll in dem Fall die Abkürzung für Post Abortus sein
 



 
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