Ein Brief

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Schon beim Aufwachen spürt sie, dass heute wieder einer von diesen schrecklichen Tage ist. Wie jeden Morgen fällt ihr Blick zuerst auf sein Bild und zornig runzelt sie die Stirn. Grimmig denkt sie daran, wie lange sie schon wartet. Wieder einmal! Es ärgert sie sehr, dass dieses Warten auf seinen Brief so großen Einfluss auf ihre Stimmung hat.
Wenn sie vergebens den Briefkasten öffnet, scheint ihr die Welt grau. Findet sie aber einen Umschlag mit der vertrauten Schrift, leuchtet alles in bunten Farben.
Sie liebt seine schönen Worte. Er schreibt in farbigen Bildern, ist ein Poet, ein Wortakrobat und sie spürt in seinen Zeilen die Liebe, die er für sie empfindet. Seine phantasievollen, zärtlichen Kosenamen sind wie das warme Streicheln seiner Hand. Er berührt ihre Seele mit seinen Worten.

Beim Aufwachen sollte ihr Blick nicht auf ein Photo von ihm, sondern auf ihn selber fallen.
Er sollte neben ihr liegen. Sie denkt an sein schlafendes Gesicht, in dem jeder Zug ihr so vertraut ist, und muss gegen ihren Willen lächeln. Sofort verzieht sie den Mund. Sie will nicht lächeln. Sie will von ihm hören. Eine kurze Nachricht nur. Nein, ehrlich gesagt will sie nicht nur ein paar Zeilen. Sie wünscht sich einen seitenlange Brief. Viele Seiten gefüllt mit seiner krakeligen, unleserlichen Schrift. Manchmal muss sogar sie an einzelnen Worten herumrätseln! Sie wünscht sich einen Brief, in dem er von seinem Leben erzählt, von seiner Arbeit, davon, was er in seiner Freizeit tut, von seinen Gefühlen, Träumen, Gedanken, Sehnsüchten. Er soll ihr erzählen, was er für sie fühlt, wie sehr er sie vermisst.

Wenn sie einen Brief von ihm bekommt, trägt sie ihn so vorsichtig als wäre er zerbrechlich ins Haus. Sie zieht sich in ihr Zimmer zurück, dreht den Umschlag minutenlang in ihren Händen und vergeht vor Erwartung. Jeder Brief ist ein kostbares Geschenk für sie. Aber dann kann sie es nicht mehr erwarten, endlich zu lesen und reißt den Umschlag ungeduldig, fast gierig auf. Atemlos verschlingt sie seine Worte, die liebevolle Anrede, verschlingt jede Zeile und wenn sie am Ende angekommen ist, beginnt sie von neuem, solange, bis sie seine Worte fast auswendig gelernt hat. Sie kennt ihn so gut, dass sie schon an der Schrift sehen kann, wie es ihm geht. Glück und Trauer, Freude und Frustration, Sehnsucht, Liebe und Schmerz erkennt sie auf den ersten Blick. Deshalb bekommt sie lieber einen Brief von ihm als eine E-mail. Aber letztlich hungert sie nach jedem Wort.

Seufzend schüttelt sie die Gedanken ab und wirft seinem Bild noch einen traurig-bösen Blick zu. Sie steht auf und bringt müde und wortkarg die morgendliche Routine hinter sich. Duschen, Zähne putzen, eincremen, ihre Haut soll weich und zart sein, wenn er sie wieder berührt, Haare fönen, schminken, Bürokleidung, Halskette und Ohrringe nicht vergessen. Hatte sie gestern diese feinen Fältchen unter den Augen auch schon? Resigniert tuscht sie sich noch einmal die Wimpern. Ein paar Tupfer Parfum. Zwischendurch trinkt sie den Kaffee, den ihre jüngere Tochter jeden Morgen liebevoll macht, wenn sie hört, dass die Mutter sich regt. Diese kleine Geste erhellt ihr den Tag und sie weiß schon jetzt, dass sie später, wenn die Tochter ihr eigenes Leben lebt, jeden Morgen bei der ersten Tasse Kaffee an sie denken und sie vermissen wird.
Die andere Tochter schläft noch. Das Abitur ist bestanden, das Studium hat noch nicht begonnen und sie genießt das Leben mit mancher durchfeierten Nacht.

Sie denkt ständig an ihn. Egal was sie tut, wie sehr sie sich auf etwas konzentriert, er ist immer ein Teil ihrer Gedanken. Seit so vielen Jahren ist er schon ein Bestandteil ihres Lebens. Seit sie ihn zum erstem Mal sah, liebt sie ihn und sehnt sich nach ihm. Was ist nur so schiefgegangen?
Wenn der Stress zu groß wird, schließt sie für einen Moment die Augen und gönnt sich eine der schönen Erinnerungen mit ihm, die sie sammelt wie Perlen auf einer Schnur. Sie spürt die Wärme und das Glück, das er in ihr Leben bringt und es geht ihr besser.

Sie verlässt mit der Tochter das Haus und öffnet den Briefkasten. „Dumme Gans,“ schilt sie sich in Gedanken, „seit wann kommt der Briefträger in der Nacht?“ Natürlich ist der Kasten leer. Und doch durchfährt sie die Enttäuschung mit einem kalten Stich.

Sie bringt die Tochter zum Bahnhof und gibt ihr einen Abschiedskuss. Dann fährt sie ins Büro und schaltet widerwillig ihren Computer ein. Wie überall müssen zu wenig Mitarbeiter zu vie Arbeit bewältigen. Der neue Chef ist fachlich eine Niete und macht das Leben noch schwerer. Seit kurzem kann sie ihre privaten E-mails nicht mehr abrufen und muss warten, bis sie wieder zu Hause ist. Dabei hat er zur Zeit gar keinen Internetzugang. Auf eine Mail wartet sie also auch vergebens.
Sie fragt sich immer noch oft, warum er gerade sie so sehr liebt. Warum sie? Es gibt doch so viele, die jünger, schöner, interessanter sind.
„Du müsstest mal Dich mit meinen Augen sehen!“, hat er gesagt.
Das versucht sie seitdem oft, aber sie sieht immer nur ihr eigenes vertrautes Spiegelbild.
Nicht mehr jung, nicht mehr schlank. Die Augen sind irgendwie grün – undefinierbar. Die kurzen Haare wäre weiß, würde sie sie nicht dunkelrot färben. In ihrer Familie bekommen die Menschen schon früh weiße Haare.

Noch nie hat sie einem Menschen so bedingungslos vertraut, ihn so sehr geliebt. Manchmal erschrickt sie vor der Tiefe ihrer Gefühle und ihres Vertrauens. Sie ist kein junges, naives Mädchen mehr und kennt die Menschen. Aber wenn er sie verletzt, wird sie nie wieder vertrauen und lieben können. Niemals zuvor hat sie einen Menschen so nah an sich herangelassen und es gibt niemanden, der sie so gut kennt . Er weiß um ihre geheimsten Gedanken und Sehnsüchte. Er kennt ihre Fehler und Macken. Und er liebt sie trotzdem – oder gerade deswegen? Ob er sich der Macht, die er über sie hat, bewusst ist? Wird er sein Versprechen halten, wenn seine Kinder alt genug sind? Wird er dann den Mut haben, sich offen und ganz für sie zu entscheiden? Oder wird sie wie eine der vielen enttäuschten Frauen enden, die sich auf eine Beziehung mit einem verheirateten Mann eingelassen haben? Nein, so einer ist er nicht. Er nicht! Ihre Liebe ist einmalig.

Am späten Vormittag ruft sie zu Hause an und weckt damit ihre Tochter. „Kannst Du mal nach der Post schauen“, bittet sie, „ich erwarte ein Schreiben von der Versicherung.“ Nein, es ist kein Versicherungsschreiben, auf das sie wartet und die schämt sich vor sich selbst. Die Tochter ruft zurück. Ironischerweise ist tatsächlich ein Brief der Versicherung im Briefkasten, dazu etwas Werbung, eine Postkarte, die ihr Cousin aus dem Urlaub geschrieben hat. Aber kein Brief von ihm. Die Enttäuschung legt sich wie ein klammes, kaltes Tuch auf ihr Herz.

Sie telefoniert mit den Kunden, ist kompetent und charmant. Dann geht sie in ein Meeting und vertritt zielstrebig, energisch und mit einem Lächeln ihre Position. Ihr Fachkenntnis wird anerkannt, ihre Vorschläge werden diskutiert und angenommen. Sie denkt an ihn. Wie gerne würde sie ihn jetzt anrufen und ihm von ihrem Erfolg erzählen. Er wäre stolz auf sie.
Sie hat ihr Leben im Griff, gilt als selbstbewusst, engagiert und stark. Doch er sieht sie, wie sie wirklich ist. Bei ihm darf sie schwach sein und gerade das macht sie stark. Er tut ihr gut. Sie wird ruhig in seiner Gegenwart, kann loslassen. Er ist der einzige Mensch, bei dem sie sich nicht als Versagerin fühlt, wenn sie seine Hilfe annimmt.

Manchmal schreibt er ihr ein paar Zeilen auf französisch. Sie liebt diese Sprache und seine Worte klingen in ihr noch einmal so schön. Sie liebt ihn. Heimlich. Noch nicht einmal ihre Schwester weiß von dieser Beziehung. Warum eigentlich nicht? Um ihn zu schützen? Dabei bräuchte sie manchmal so sehr einen Menschen, mit dem sie reden könnte. Die Töchter sehen, ahnen, wollen aber nicht wissen. Wenn ihre Mutter weint, bricht für sie die Welt zusammen. Sie muss stark sein. Die Mädchen haben ja nur sie und ihre Trauer und Qual macht ihnen Angst. Also verbirgt sie es, so gut es geht. Dabei möchte sie so gerne ehrlich sein zu ihren Kindern. Sie belügen zu müssen, ist ihre größte Pein.

Sie verlässt das Büro und auf dem Heimweg geht sie einkaufen. Noch einmal schließt sie den Briefkasten auf, wohl wissend, dass sie nichts anderes als vielleicht Reklame finden wird. Aber vielleicht...? Natürlich ist da kein Brief und wieder schimpft sie mit sich selbst.

Die Töchter warten schon und wollen von ihrem Tag erzählen. Geduldig hört sie sich die kleinen Geschichten und Erlebnisse an. Dann kocht sie das Abendessen. Während die Töchter nach dem Essen die Küche aufräumen ruft sie ihre Mails ab.
Kein Wort von ihm. Die Enttäuschung treibt ihr die Tränen in die Augen. Sie wischt sie schnell ab, die Mädchen dürfen sie nicht weinen sehen.
Gemeinsam schauen sie einen Fernsehfilm an. Dann folgt das abendliche Ritual. Abschminken, Zähne putzen, Haare bürsten, eincremen, der Gutenachtkuss für die Mädchen.

Sie setzt sich noch einmal an den Computer, aber sie hat keine Nachricht von ihm. Frustriert und müde geht sie zu Bett.

Sie zieht sich die Bettdecke bis unter das Kinn und schaut sehnsüchtig auf sein Bild.
Dann schlägt sie die Decke wieder zurück und holt den Briefblock. Briefe an ihn schreibt sie nur auf feinstem Papier. Etwas anderes erscheint ihr einfach unpassend, seiner nicht würdig. Wenn sie ihm schreibt, fühlt sie sich ihm näher. Sie teilt ihre Gedanken mit ihm, lässt ihn teilhaben an ihren Erlebnissen, Enttäuschungen und an den Träumen, Hoffnungen und Sehnsüchten, die immer um ihn kreisen. Sie schreibt, bis sie über dem Papier einschläft und träumt davon, seinen Brief zu bekommen. Vielleicht schon morgen.
 



 
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