Ein Buchstabe zu wenig

Raniero

Textablader
Ein Buchstabe zuwenig

„Meinst du wirklich, dass man das jetzt schon machen sollte, Wilfried“ zeigte sich der Chef des kleinen Familienunternehmens skeptisch, „hältst du das nicht für ein wenig verfrüht?“
„Aber nein, lieber Norbert“, gab Wilfried Heckenröder zurück, „das machen doch fast alle heutzutage, einer früher als der andere, du brauchst dich nur umzuschauen. Warum, in aller Welt, sollten wir uns da nicht anschließen und gleich Maßstäbe setzen, indem wir es noch früher tun, zu einem Zeitpunkt, an dem die anderen nicht einmal im Traum daran denken?“

Norbert Gräwelein, ein Mann Ende Zwanzig, sah zum ersten Mal in seinem Leben Vaterfreuden entgegen. Am Vortage hatte seine Frau Ute ihm die freudige Nachricht mitgeteilt, und wie viele Erstväter war Norbert geradezu überwältigt, vor Glück, hatten sie beide doch schon so lange auf dieses Ziel hingearbeitet. Nun saß er in seinem Büro und dachte an nichts anderes als an die künftige Geburt seines Nachwuchses, und ihm schwebte vor, dass dieses einmalige Ereignis unbedingt entsprechend gewürdigt werden müsse, aber wie?
In tiefster Not kam ihm der rettende Gedanke; sein bester Freund Wilfried Heckenröter, der wusste praktisch immer Rat, und zudem hatte Wilfried schon ein Kind, besaß folglich einen nicht unerheblichen Vorsprung in punkto Vaterfreuden.

Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer des Freundes. Wilfried Heckenröter war fast genauso überwältigt wie der werdende Vater, gemeinsame Freude, doppelte Freude.
„Sag mal, Wilfried“ wollte Norbert wissen, „hast du eine Idee, wie man so eine Erstgeburt am besten feiern, am besten würdigen könnte. Es ist ja noch ein wenig hin, aber Vorbereitungen sollte man schon treffen. Wie war das denn bei dir, damals?“
Lang und breit erklärte Wilfried dem Freund, wie er die Geburt seines ersten Sohnes seinerzeit gefeiert hatte; mit einem kleinen Diamanten für die Mutter und einem Paket kinderfreundlicher Aktien für das Neugeborene.
„Doch das ist längst nicht mehr originell“ schloss er seine Erzählung, „das machen mittlerweile Jan und Pit, da kannst du keinen mehr hinterm Ofen hervorlocken. Nein, es müsste schon etwas originelleres sein.“
„Aber was ist heut schon originell, Wilfried, in dieser schnelllebigen Zeit?“
„Das ist die Frage. Es sollte jedoch auf jeden Fall etwas Überraschendes für beide sein, für Mutter und Kind, auch wenn der Kleine es noch nicht sofort erfasst.
Wart mal, mir kommt da so ein Gedanke. Ja, das wär’s, in der Tat. Das hat bestimmt noch kein werdender Vater in die Tat umgesetzt.“
„Was meinst du, Wilfried, spann mich nicht so auf die Folter.“
„Eine Biographie.“
„Eine Biographie?“
„Na, du lässt eine Biographie von dem Kleinen schreiben.“
„Wie bitte? Aber der ist doch noch gar nicht geboren!“
„Das macht doch nichts.“

Norbert Gräwelein war sprachlos; nicht über die Tatsache, dass der Freund den zu erwartenden Nachwuchs ohne weiteres als männlich voraussetzte, das tat er selbst auch.
Obwohl er mit seiner Frau eine stillschweigende Übereinkunft geschlossen hatte, vor der Geburt das Geschlecht nicht in Erfahrung zu bringen, ging er einfach von einem Jungen aus, da er sich nichts sehnlicher wünschte als einen Stammhalter.
Doch eine Biographie, eine curriculum vitae eines Menschen, der noch gar nicht das Licht der Welt erblickt hatte, das hielt er doch für ein starkes Stück.
Wilfried Heckenröter beruhigte ihn.
„Was ist schon dabei, so außergewöhnlich ist das nun auch nicht mehr, im Gegenteil. Schau dir doch den Büchermarkt an, da findest du doch fast mehr Biographien von lebenden Personen als von Verstorbenen. Jeder, der glaubt, er sei es wert, lässt doch heute schon seine Biographie verfassen, und diese Leute werden immer jünger; warum nicht dem Trend vorauseilen und eine von einem Ungeborenen schreiben? Ein absolutes Novum auf dem Büchermarkt! Was meinst du, das wird eine Überraschung, deine Ute wird weinen, vor Glück, und der Kleine vor allem, wenn er seine eigene Biographie in Händen hält, wenn er sie erstmal selbst liest.“

Norbert Gräwelein war nicht so ganz überzeugt, dass seine Frau wie auch das Kind vor Glück weinen würden, doch in einem musste er dem Freund Recht geben.
Eine gelungene Überraschung war es allemal.
Darauf musste man erst einmal kommen.
Schließlich willigte er ein, vor allem, weil er der Meinung war, dass man eine solche Biographie durchaus schon im voraus zu Papier bringen könne.
Wenn es nach ihm ginge, war der Weg seines Sohnes in der Tat schon vorgezeichnet. Er würde die gleiche Ausbildung machen, wie sein Vater, danach in die elterliche Firma eintreten und sie später übernehmen, exakt so, wie dieses nun schon seit mehreren Generationen in seiner Familie gehandhabt wurde.
Das alles, sagte sich Norbert, könnte man tatsächlich schon einmal in entsprechende Formulierungen fassen lassen, von einem Ghostwrighter.
Den Rest, ein paar Kinderkrankheiten und ähnliche unbedeutende Zwischenfälle des Lebens, die ließen sich bei einer späteren Auflage bestimmt noch einschieben.

Ein Ghostwrighter war schnell gefunden, ein Anruf bei einem Boulevardblatt genügte. Zu Beginn zeigte sich der Schreiberling überrascht, fügte sich jedoch schnell ein; für Geld hatte er schon ganz anderes geschrieben. So hämmerte er denn drauflos, nach Vorgabe des Vaters eine Biographie für dessen ungeborenen Sohn zu schreiben, die genau am Tag der Geburt des Kindes, dafür würde der Erzeuger schon sorgen, ebenfalls das Licht der Welt erblicken sollte.

Der Tag der Niederkunft war gekommen, und Norbert Gräwelein ließ sich, die fertige Biographie des Stammhalters in der Tasche, gemeinsam mit seiner Ehefrau, bei der heftige Wehen eingesetzt hatten, in die Klinik fahren.
Jetzt hieß es nur noch durchhalten bis zum Schluss.
Die Geburt gestaltete sich als schwieriger als erwartet, und während Arzt und Hebamme alle Hände voll zu tun hatten, dem kommenden Erdenbürger den Weg zu ebnen, hatte dessen Erzeuger große Mühe, nicht in Ohnmacht zu fallen.
Endlich war es soweit; ein winzig kleines Köpfchen lugte aus dem Muttermund heraus. Unbemerkt von Hebamme und Arzt zog Norbert blitzschnell die Biographie hervor und zeigte sie dem Sohne, worauf dieser entrüstet das Köpfchen schüttelte und sich wieder zurückzog, in den warmen, gemütlichen Mutterleib.
Und da blieb er drin, zum Leidwesen seiner Eltern.
Arzt und Hebamme waren erfahrene Geburtshelfer, doch wie immer auch sie es anstellten, den kleinen Körper ans Licht der Welt zu befördern, es wollte und wollte nicht gelingen. Einen solchen Fall hatten sie noch nicht erlebt.
Eiligst wurden weitere Fachleute zu Rate gezogen, Kapazitäten von nah und fern, doch alle scheiterten auf die gleiche Weise.
Einen solchen Fall hatte die Fachwelt noch nicht erlebt, und niemand von den Experten sah einen Grund dafür, warum dieses Kind absolut nicht geboren werden wollte.
Der Einzige, der wenn nicht eine Erklärung so doch eine Ahnung hatte, war der Vater des Kindes, und nach drei Tagen gab er auf.
Als die Fachleute wieder einmal versuchten, mit äußerster Behutsamkeit das klitzekleine Köpfchen herauszuziehen, zeriss er vor den Augen des Kindes die Biographie, und im gleichen Augenblick gab der Sohn nach.
Dieser Sohn stellte sich, kaum dass die Nabelschnur abgetrennt worden war, als Tochter heraus. Niemand hatte zuvor im Eifer des Gefechts darauf geachtet, welches Geschlecht das künftige Kind hatte. Als es der Mutter in die Arme gelegt wurde, weinte diese vor Glück, und ein wenig später schossen auch Norbert die Tränen in die Augen. Die Tochter erhielt den Namen Emily, und sie blieb das einzige Kind von Norbert und Ute.

Viele Jahre später machten Emily und ihr betagter Vater einen Spaziergang. Ute, die Mutter weilte schon lange nicht mehr unter den Lebenden.
Der Lebensweg von Emily hatte im großen Ganzen den Verlauf genommen, den ihr Vater seinerzeit vorgezeichnet hatte, ein Weg, wie er seit Generationen in der Familie schon eingeschlagen worden war.
„Liebe Emily“ begann Norbert, „morgen feierst du deinen sechzigsten Geburtstag. Ich habe lange überlegt, was ich dir zu diesem Tag schenken könnte, und ich möchte ganz sicher gehen, dass du mein Geschenk nicht missverstehst. Nun gut, du bist ja kein Kind mehr, daher bin ich der Meinung, dass ich dich lieber vorher frage, ob du einverstanden bist. Was hältst du von einer Biographie? Deiner Biographie?“
„So eine wie damals, Vater?“ fragte Emily mit einem Augenzwinkern.
„Du erinnerst dich noch daran?“
„Aber ja doch.“
„Ja, warum, zum Teufel, hast du sie denn damals abgelehnt, bei deiner Geburt?“
„Das weißt du nicht, Vater?“
„Nein, Kind, absolut nicht.“
„Auf dem Cover stand Emil Gräwelein“, entrüstete sich die Tochter, „einfach ein Buchstabe zuwenig!“
 
O

Open Mike

Gast
„Meinst du wirklich, dass man das jetzt schon machen sollte, Wilfried“ zeigte sich der Chef des kleinen Familienunternehmens skeptisch, „hältst du das nicht für ein wenig verfrüht?
Mit dem, was Wilfried vorgeblich meinte, war dies bereits geklärt. Eine skeptische Nachfrage ließe sich freundlicher formulieren: "ist das nicht ein wenig verfrüht?" oder zumindest "du hältst das nicht für ein wenig verfrüht?"
Kann sein, dass nicht jeder den feinen Unterschied bemerkt.

Auf "ein wenig" sollten Sie in jenem ersten Satz verzichten, zum einen wegen des Titels und zum anderen weil's kurz darauf in anderem Kontext ebenfalls heißt:
"Es ist ja noch ein wenig hin"
Warum, in aller Welt, sollten wir uns da nicht anschließen
Wozu die Pausenzeichen?
„das machen doch fast alle heutzutage, einer früher als der andere, du brauchst dich nur umzuschauen. Warum, in aller Welt, sollten wir uns da nicht anschließen und gleich Maßstäbe setzen, indem wir es noch früher tun, zu einem Zeitpunkt, an dem die anderen nicht einmal im Traum daran denken?“
→ oder
"Uns nicht anschließen" kann aber auch gestrichen werden.

So viel zum ersten Abschnitt.

om
 



 
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