Ein Büroangestellter

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Lio

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Ein Büroangestellter

Im Verlag grüße ich Jenny und Claudia und ignoriere die Leute von der Redaktion. Wir sitzen unten, sie oben, wir händigen uns Wichtelgeschenke aus, sie trinken Sekt. Ich habe mir den Beruf als Lektor interessanter vorgestellt. Ich habe gedacht, da bekommt man als erstes die großen, die ganz großen Manuskripte zu lesen. Aber nichts davon. Die Lehrbuchmaterialien bearbeite ich.
Jenny ist gerade beim Umziehen, weil ihr Mann sie betrogen hat. Mich interessiert das nicht, aber ich höre ihr zu. Dass sie ihn nicht mehr bemuttern wolle, schimpft sie. Und dass sie von der Männerwelt nun erst einmal die Schnauze voll habe. Ich nicke und trinke Tee und tue so, als würde ich mich über die selbstgebackenen Dominosteine von Claudia freuen.
Früher als gewöhnlich fahre ich mit der Regionalbahn 151 nach Hause. Es ist erst Mittag, deshalb ist mein Abteil selten ruhig. Nur wenige Passagiere sitzen hinter oder vor mir, lesen oder dösen vor sich hin. Bei Wattenscheid kommt eine dicke Frau mit ihrem kleinen Jungen in unser Abteil. Er setzt sich mir gegenüber, sie neben ihn. Er starrt mich an, sie an mir vorbei, ich aus dem Fenster.
Schlecht erzogen, denke ich und betrachte die grauen Kiefernspitzen, die draußen vorüber ziehen. Man sollte seinem Kind beibringen, dass es fremde Menschen nicht so anstarrt.
„Wie heißt du?“, fragt mich der Junge.
Ich räuspere mich. Die Mutter ist mit etwas anderem beschäftigt, nestelt in ihrer Handtasche herum. Wie soll man auf so eine Frage reagieren?
„Wie heißt du?“, trötet er noch einmal. So laut, dass man sich nach uns umguckt. Mir ist das unangenehm. Die Mutter sagt, „lass den Mann in Frieden“. Da atme ich auf. Aber der Junge hört nicht auf mich anzustarren. Wie alt er wohl sein mag, vier Jahre vielleicht. Ob ich damals genauso gestarrt habe?
„Kann der Mann nicht sprechen?“, fragt der Junge jetzt seine Mutter. Wieder viel zu laut, zwei Reihen hinter mir kichert jemand.
Jetzt muss ich antworten, irgendetwas, das ist ja peinlich, aber ich zögere zu lange.
„Er kann schon sprechen, aber er will vielleicht nicht“, antwortet die Mutter.
Gänsehaut überläuft mich. Was für eine verzwickte Situation und das gesamte Zugabteil lauscht. Ich sehe weiter aus dem Fenster. Nur noch zwei Haltestellen, dann muss ich ohnehin aussteigen. Da lohnt sich die Mühe nicht. Da sollte ich jetzt durchhalten und schweigen.
„Er will nicht?“, fragt der Junge erstaunt. Sein Blick klebt noch immer an mir, das sehe ich aus den Augenwinkeln.
„Lass den Mann doch mit deinen Fragen in Ruhe“, sagt die Mutter wieder. Aber jetzt muss ich ja doch einmal etwas sagen. Wie kann man da noch schweigen.
Ich räuspere mich und lächele den Jungen an. Er erwidert mein Lächeln nicht. Die Mutter? Sie tut es auch nicht. Wieder den Jungen. Vielleicht ist ein Lächeln hier nicht angebracht, deshalb gucke ich ernst, aber den Jungen beängstigt dieser plötzliche Wandel meiner Mimik. Also wieder lächeln, aber der Kleine ist schon zu sehr eingeschüchtert.
Seine Brust beginnt sich konvulsivisch zu heben und zu senken. Er zieht den Rotz hoch, gleich fängt er an zu heulen. Ich schaue hektisch zur Mutter. Kann sie nicht etwas sagen? Herr Gott. Ich sehe ihn schon losbrüllen, spüre schon die anklagenden Blicke des ganzen Abteils. Da fällt mir plötzlich dieses Gedicht von Ringelnatz ein, das mir meine Tante immer erzählt hat in meiner Kindheit mit diesen seltsam komischen Grimassen.
Überstürzt und mit trockener Kehle beginne ich zu rezitieren:

Wenn ich in die Stube speie,
Lacht mein Bruder wie ein Schwein.
Wenn er lacht, haut meine Schwester,
Wenn sie haut, weint Mütterlein.
Wenn die weint, muss Vater fluchen.
Wenn er flucht, trinkt Tante Wein.
Trinkt sie Wein, schenkt sie mir Kuchen:
Wenn ich Kuchen kriege, muss ich spein.

Ich schneide beim Wiedergeben ähnliche Grimassen wie meine Tante damals, rümpfe die Nase, haue mir selbst mit der Faust gegen die Wange, schimpfe mit dem Zeigefinger, zeige an wie man Wein trinkt. Nach meiner Rezitation herrscht Stille. Habe ich zu schnell vorgetragen? Zu unverständlich?
Schrecklich lange Sekunden ziehen vorüber. Wie laut habe ich gesprochen? Hat das gesamte Abteil mitgehört? Dann beginnen sich die Lippen der Frau zu bewegen. Ganz langsam heben sich die Mundwinkel, bald lächelt sie in sich hinein, dann zunehmend breiter. „Wie ging das nochmal?“ fragt sie.
Ich beginne erneut, will das mit den Grimassen sein lassen, aber sie sagt, „nein, nein, mit diesen Fratzen“. Ich habe kaum begonnen da beginnt sie zu lachen und gegen Ende meiner Rezitation stimmt auch der Junge vorsichtig mit ein.
„Noch einmal!“, fordert er und ich beginne bereitwillig von Neuem. Schlage mir mit der flachen Hand gegen die Stirn, verdrehe die Augen, reibe mir die Nase und lasse die Augenbrauen hüpfen. „Noch einmal“ ruft der Junge, „noch einmal“. Bei der vierten Rezitation lachen beide schallend um die Wette, bei der sechsten sind sie schon den Tränen nahe, bei der achten winkt die Frau ab und bringt unter Lachen mühsam ein „genug, bitte“ hervor. Kurz bevor ich aussteigen muss und sie mich mit verweinten Augen ansehen, rümpfe ich noch mit der Nase, einfach so. Und beide brechen wieder in schallendes Gelächter aus.
„Sind sie ein Komiker oder so was?“, ruft mir die Frau noch hinterher.
Nein, denke ich, als ich auf den Bahnsteig trete. Eigentlich gar nicht.
 

Clara

Mitglied
den find ich gut - absolut
warum wohl dem jungen Mann dieser Text wieder einfiel?
kicher -leicht bekömmlich, aber doch recht ernst.
 



 
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