Ein Diminutiv-Suffix im Bus 128

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Die Fahrer der Buslinie 128 sind nicht zu beneiden. Ihre Strecke beginnt am Flughafen Tegel mit vielen Fahrgästen, die wie vom Himmel gefallen weder mit Tarifen noch Routen in die Stadt vertraut sind, dafür Gepäck im Übermaß hereinschleppen. Rasch sind alle Sitzplätze belegt. Wer keinen erwischt hat, steht unsicher über Koffer und Reisetaschen gebeugt und am nächsten Haltegriff baumelnd. Los geht die kurvenreiche Fahrt, erst zügig über Schnellstraßen mit wiederholtem Aus- und Einfädeln. Vor dem Kurt-Schumacher-Platz wie fast immer längerer Stau und dann hört man auch schon im Tiefflug die Maschinen über den Bus hinwegdonnern. Wenn Hälse sich verdrehen, sind es die von Fremden; abgestumpft die Einheimischen. An der U-Bahn-Station kommt der große Wechsel. Die meisten steigen hier um, werden sogleich durch die ersetzt, die im Einkaufszentrum Waren besorgt haben. Anstelle des Reisegepäcks versperren nun zwei, drei Kinderwagen den Durchgang in der Mitte. Es ist noch beengter als vorher.

Mit fünf Minuten Verspätung geht es weiter. Jetzt kommen auf fünfhundert Metern drei Kreuzungen und jedes Mal muss der Bus abbiegen, sich vorher einordnen, zwischendurch noch zwei Haltestellen bedienen. Bei einem großen alten Friedhof geht es rechts herum, nun länger geradeaus. An jeder Station quälen sich die, die ihr Ziel erreicht haben, durch Trauben ungeduldig Hereinströmender. Der Fahrer drückt aufs Tempo – schon neun Minuten über der Zeit. Er fährt zunehmend zackig, beschleunigt und bremst abrupt. An der Londoner Straße passiert es dann: Ein älterer Mann in Rentnerbeige ist, beinahe am Ziel, dem stürmischen Fahrstil nicht mehr gewachsen, verliert jeden Halt und taumelt, stürzt auf die Mitfahrenden, wird aufgefangen, berappelt sich und ist noch mal heil davongekommen. Doch er ist wütend, ausgestiegen tappt er am Bus entlang, schlägt auf die Frontscheibe und macht dem Fahrer durch die offene Vordertür laut zeternd Vorwürfe.

Und was brüllt der zurück: „Da hättste mal deine Fingerchen benutzen sollen …!“ Er braust weiter.

Ich horche auf, er hat Fingerchen gesagt, denke ich, nicht Hände oder gar Flossen. Zwar mit Zornesstimme gesagt, doch zärtlich seine Wortwahl? Ich gehe der Sache nach und finde bei Wikipedia auch dazu das Passende:

„Verwendung des Diminutivs im Deutschen: … als Wertung: Minderung des Ansehens einer Person oder des Wertes eines Gegenstandes als Pejorativum bzw. Dysphemismus … Da aber Verkleinerungssilben gleichzeitig die gegenteilige positive Bedeutung des Liebkosens aufweisen (Schwesterchen, Omilein), wird in solchen Ausdrücken der Akt der Abwertung gleichzeitig wieder zu einem gewissen Grad zurückgenommen …“

Demnach alles noch mal ohne ernste Verletzungen abgegangen, wie schön. Man muss eben nur den angemessenen Ton zu treffen wissen.
 

FrankK

Mitglied
Hallo Arno
Welch wundersame Fügung ... erneut "Das neueste". ;)

Man muss eben nur den angemessenen [blue]Ton[/blue] zu treffen wissen.
Zur Steigerung der Humoreske hätte ich abschließend ein "Tönchen" erwartet, oder eher ein "Tönleinchen"? :)


Danke für die Unterhaltung des Tages.

Grüßend
Frank
 
Danke, Frank, für deine positive Reaktion auf den Text. Und ansonsten: Pst! Nicht füttern, nicht necken, nicht reizen ...

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

FrankK

Mitglied
Klar, Arno
Psst - nicht füttern. ;)

Hallo ahorn
Das wird ja nur noch von "Deutsche Bahn" getopt ... :)


Grüßend
Frank
 
Danke, ahorn. Das ist ausgesprochen amüsant, ich kannte es noch nicht. Allerdings denke ich, die Zeit für so viel Selbstironie ist inzwischen schon wieder vorüber. Seit der Veröffentlichung des Videos sind knapp zweieinhalb Jahre vergangen, in denen sich die Situation der BVG dramatisch und für die Nutzer sehr fühlbar verschlechtert hat.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Willibald

Mitglied
Schöner Text mit Meta-Sprach-Reflexion am Schluss, das hat einfach was.

Eventuell chiasmusartige Umstellung?
... die von Fremden; abgestumpft die Einheimischen
...die von Fremden; die Einheimischen abgestumpft

greetse
ww
 
Die Fahrer der Buslinie 128 sind nicht zu beneiden. Ihre Strecke beginnt am Flughafen Tegel mit vielen Fahrgästen, die wie vom Himmel gefallen weder mit Tarifen noch Routen in die Stadt vertraut sind, dafür Gepäck im Übermaß hereinschleppen. Rasch sind alle Sitzplätze belegt. Wer keinen erwischt hat, steht unsicher über Koffer und Reisetaschen gebeugt und am nächsten Haltegriff baumelnd. Los geht die kurvenreiche Fahrt, erst zügig über Schnellstraßen mit wiederholtem Aus- und Einfädeln. Vor dem Kurt-Schumacher-Platz wie fast immer längerer Stau und dann hört man auch schon im Tiefflug die Maschinen über den Bus hinwegdonnern. Wenn Hälse sich verdrehen, sind es die von Fremden; die Einheimischen abgestumpft. An der U-Bahn-Station kommt der große Wechsel. Die meisten steigen hier um, werden sogleich durch die ersetzt, die im Einkaufszentrum Waren besorgt haben. Anstelle des Reisegepäcks versperren nun zwei, drei Kinderwagen den Durchgang in der Mitte. Es ist noch beengter als vorher.

Mit fünf Minuten Verspätung geht es weiter. Jetzt kommen auf fünfhundert Metern drei Kreuzungen und jedes Mal muss der Bus abbiegen, sich vorher einordnen, zwischendurch noch zwei Haltestellen bedienen. Bei einem großen alten Friedhof geht es rechts herum, nun länger geradeaus. An jeder Station quälen sich die, die ihr Ziel erreicht haben, durch Trauben ungeduldig Hereinströmender. Der Fahrer drückt aufs Tempo – schon neun Minuten über der Zeit. Er fährt zunehmend zackig, beschleunigt und bremst abrupt. An der Londoner Straße passiert es dann: Ein älterer Mann in Rentnerbeige ist, beinahe am Ziel, dem stürmischen Fahrstil nicht mehr gewachsen, verliert jeden Halt und taumelt, stürzt auf die Mitfahrenden, wird aufgefangen, berappelt sich und ist noch mal heil davongekommen. Doch er ist wütend, ausgestiegen tappt er am Bus entlang, schlägt auf die Frontscheibe und macht dem Fahrer durch die offene Vordertür laut zeternd Vorwürfe.

Und was brüllt der zurück: „Da hättste mal deine Fingerchen benutzen sollen …!“ Er braust weiter.

Ich horche auf, er hat Fingerchen gesagt, denke ich, nicht Hände oder gar Flossen. Zwar mit Zornesstimme gesagt, doch zärtlich seine Wortwahl? Ich gehe der Sache nach und finde bei Wikipedia auch dazu das Passende:

„Verwendung des Diminutivs im Deutschen: … als Wertung: Minderung des Ansehens einer Person oder des Wertes eines Gegenstandes als Pejorativum bzw. Dysphemismus … Da aber Verkleinerungssilben gleichzeitig die gegenteilige positive Bedeutung des Liebkosens aufweisen (Schwesterchen, Omilein), wird in solchen Ausdrücken der Akt der Abwertung gleichzeitig wieder zu einem gewissen Grad zurückgenommen …“

Demnach alles noch mal ohne ernste Verletzungen abgegangen, wie schön. Man muss eben nur den angemessenen Ton zu treffen wissen.
 
Dank auch an dich, Willibald, insbesondere für das Aufzeigen einer Alternative an einer Stelle, die mir selbst schon etwas holprig vorkam. Beschämend, dass ich nicht selbst auf den einfachen Ausweg kam - gefunden ist er nun.

Schönen Gruß
Arno Abendschön
 

MicM

Mitglied
Der Text ist gut geschrieben, doch bleibt er nach meinem Geschmack hinter dem zurück, was er noch könnte. Es beginnt mit der viel versprechenden Überschrift „Diminutiv-Suffix“. Da in der deutschen Sprache geschätzt mindestens 95% der Diminutive als Suffixe daherkommen, hatte ich - wenn es derart hervorgehoben wird - ein besonderes Suffix erwartet. Das Diminutiv entpuppte sich nach längerer Einleitung dann als gewöhnliches „-chen“. Vielleicht liegt das Spezielle daher in Verbindung mit der Berliner Bussituation, dachte ich. Doch finde ich, dass die „Berliner Schnauze“ über die Stadtgrenze hinaus bekannt ist - auch dass sie durchaus als Ausdruck der Zuneigung verstanden werden sollte. Kann man drüber schreiben, doch schiene mir dann der Titel „Berliner Busfahrt“ treffender. Eine Würze hätte es daher gegeben, wenn aus den Fingerchen norddeutsche „Fingerken“ oder süddeutsche „Fingerle“ geworden wären - das wäre, gesprochen von einem Berliner Busfahrer, einer Erwähnung Wert. So hoffte ich gegen Ende der Geschichte, dass wenigstens der Gescholtene zurück stürmt, den Bus kapert und eine wilde Busfahrt beginnt, was die amerikanischen Touristen als perfekt inszeniertes Willkommens-Highlight geschätzt und die Berliner (erneut) gelangweilt zur Kenntnis genommen hätten. Da auch das nicht passierte, blieb die Geschichte - wie gesagt, nach meinem Geschmack - zu stark im Gewöhnlichen und exakt beschriebenen Alltag stecken.

Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Ohnehin bitte ich diese Anmerkung nur als konstruktive Anregung zu verstehen. Bei den vorangegangenen Anmerkenden würde mich interessieren, was genau aus ihrer Lesersicht den Reiz ausmachte.

Auf bald,
MicM
 
Danke, MicM, für die Darlegung deiner Erwartungen bei einem solchen Stoff. Leider bin ich nicht der geeignete Autor, um ihnen gerecht werden zu können. Mich interessiert tatsächlich eher ein realer Rentner, der knapp einem gefährlichen Sturz entgangen und nun wütend ist und dem dann vom allzu gestressten Busfahrer kess über den Mund gefahren wird. Grellbunt ausgemalte Geschichten, wie du sie schätzt, langweilen mich dagegen meistens.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

MicM

Mitglied
Das ist eine interessante Erwiderung auf meine Anmerkung, Arno. Denn auch mich interessiert der Rentner sehr. Dann rege ich an, den älteren Herrn nicht nur wortlos zetern zu lassen, sondern ihn mit einem „Mach du erst mal dein Führerscheinchen!“ als (Diminutiv-)Sieger hervortreten zu lassen. Es muss nicht grellbunt sein...

Auf bald,
MicM
 
Nun, MicM, was du jetzt vorschlägst, ist nicht mehr ganz so bunt wie deine früheren Anregungen (Kaperung eines Busses). Es würde aber immer noch eine Verfälschung der tatsächlich beobachteten Situation darstellen. So schlagfertig sind die meisten alten Leute nicht, schon gar nicht, wenn sie noch unter Schock stehen und der Busfahrer sofort nach seinem Ausruf die Tür schließt und durchstartet.

In diesem Genre habe ich nur den Anspruch, Alltagsbeobachtungen sprachlich angemessen zu gestalten. Warum sollte ich etwas Unwahrscheinliches hinzuerfinden? Allein um Leserbedürfnisse zu befriedigen, die ich selbst nicht habe? Ich muss nichts verkaufen, zum Glück.

Schönen Abendgruß
Arno
 

Willibald

Mitglied
Mir scheint, der Text steuert eben nicht den grellen Effekt oder den Schenkelpatscher oder die fette Komik an. Er mündet ohne überwältigende Pointe in einer Selbstbeobachtung des Erzählers, was die Wortwahl des Busfahrers hier bewirkte, bei den Passagieren, bei dem erlebenden Ich des Erzählers. Und schön betulich geht das in eine Sprachreflexion über, samt Bemühen um die lexikalisch-semantisch-pragmatische Funktion des Diminutivs.

Gerade das macht den Text zu einem ernsthaften und komischen Slowburner.

Der Verzicht auf den Knalleffekt unterläuft Gag-Erwartungen. Der leicht sprachwissenschaftlich privatisierende Ton hat etwas Verschrobenes, auf den ersten Blick. Das bleibt auch auf den zweiten Blick so. Aber die empirisch belastbare Erkenntnis, dass in dem Diminutiv sich liebkosende und abwertende Elemente mischen und dass das für die Deeskalation der Szene verantwortlich ist, dass Aggressivität und Zuwendung sich gegenseitig geschmeidig bis zu einem gewissen Grad entschärfen können, das gibt dann eben der leicht professoralen, scheinbar lebensfremden Sprachreflexion plötzlich Würde und dem Text eine vergnügliche Wirkung, er ist leicht und licht.

Es ist selten, dass sich Rationales und Emotionales in Heiterkeit gegenseitig stärken können. Hier ist es gelungen.

greetse

ww
 

FrankK

Mitglied
Hallo MicM
Bei den vorangegangenen Anmerkenden würde mich interessieren, was genau aus ihrer Lesersicht den Reiz ausmachte.
Das Stück hat mir gefallen:
- Weil es unmittelbar aus dem Leben gegriffen wirkt.
- Weil es fein beobachtet ist.
- Weil es für die Visualisierung alle notwendigen Elemente mitbringt - und mehr nicht.
- Weil es mich miterleben lässt, wie in der Gedankenwelt des Erzählers die Erkenntnis aufscheint.

Willibald hat es sehr gut zusammengefasst:
Es ist selten, dass sich Rationales und Emotionales in Heiterkeit gegenseitig stärken können. Hier ist es gelungen.
Eben diese Heiterkeit würde bei einem literarisch stringenten Ausbau zu einer vollständigen Geschichte verloren gehen.
Wir haben hier nur eine Szene (wir sind in der Kurzprosa), die den Stress der Fahrt im vollbesetzten-, nahezu überfüllten Bus thematisiert: die Belastung des Busfahrers im Verkehrschaos, die wackelige Konstitution der Senioren auf den Stehplätzen.
All dies führt zu einer bedrohlichen Eskalation, die in diesem leichtfüßigen Spruch des Fahrers zunächst abgewürgt und abschließend mit den interpretativen Gedankengängen regelgerecht seziert wird.


Grüßend
Frank
 

MicM

Mitglied
Es stimmt, Arno, ob man nur für sich selbst oder auch für einige Leser (und wenn ja, welche) schreibt, bleibt einem jeden überlassen. Ein MUSS gibt es nicht, zum Glück, da sind wir uns einig. Nur was die (vermeintliche) Verfälschung angeht, gehe ich nicht mit. Dem Leser wird ein (zwangsläufig gefilterter und unvollständiger) Ausschnitt präsentiert. Der Autor schreibt, was er möchte und was nicht überprüfbar ist (der Leser war ja nicht dabei). In dem Sinne ist alles wahr (oder auch „falsch“, weil der Autor etwas auslässt, was er für nicht erzählenswert hält). Jedenfalls diese „Verantwortung“ (was erzählt und was ausgelassen wird) kann man einem (publizierenden) Autor nicht nehmen.

@Willibald und @Frank: Danke für die Ergänzungen. Vieles davon teile ich und, gewiss, der Text ist auch aus meiner Sicht gut geschrieben. Was „Rationalität und Emotionales“ angeht, finde ich allerdings, dass das Rationale (das Deskriptive) zu stark überwiegt bzw. die Emotionen im Vergleich zu flach beschrieben werden (ein Mann fällt beinahe hin und flucht darüber; ein genervter Bussfahrer macht einen Spruch). Zum Beispiel: Die Farbigkeit des Mantels des Mannes wird präzise mit „rentnerbeige“ beschrieben, über seinen Gesichtsausdruck, seine Haltung erfahre ich nichts. Beides muss nicht bunt oder komisch sein, es darf farb- und humorllos sein. Selbiges gilt auch für den Busfahrer, dessen Worte - im positiven Sinne - auf die Goldwaage gelegt werden (grinst er? schwitzt er? schaut er sich prüfend um?). Der Bus ist voller Menschen, aber niemand reagiert in einer Weise, dass es erwähnt wird (ein Stirnrunzeln, ein Schmunzeln, ein Kopfschütteln...). Es darf hier aus meiner Sicht etwas mehr Mensch sein, um die Balance zu halten, gerade für eine Geschichte aus dem Leben und auch bzw. gerade als Kurzprosa.

Dass es hier nur um Anregungen und eine individuelle Geschmacksache geht, sei abschließend noch einmal erwähnt.

Auf bald,
MicM
 



 
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