Ein Ende

O

Oliver Uschmann

Gast
EIN ENDE

Noch vor ein paar Minuten hatte es in Strömen geregnet. Nun tropfte der Rest der
Flut bedächtig und langsam von den gebeugten Bäumen.
Dem Mann, der unter den trüben Laternen die dunkle Straße entlangschlich, lief
es in den Nacken, aber er ignorierte es.
Es war still in der Stadt. Hier und da hörte man ein Auto langsam spähend um die
Ecke biegen, dort ein paar flüchtige Stimmen.
Es war aus.
Dieser Streit würde nicht einfach vergehen wie ein Taschentuch im Regen.
Diese Wunden waren endgültig.
Er sollte schreien, heulen, gegen die blöde Mülltonne treten, mit den Händen vor eine
Häuserwand trommeln – aber er hatte noch nicht mal mehr dafür Kraft.
Kraft verschwindet, wenn keine Hoffnung mehr da ist.

Er ließ die Jahre Revue passieren. Sie liefen vor seinem geistigen Auge ab wie ein
alter, speckiger Film aus Großvaters Mottenkiste. Aber es war keine Mottenkiste,
verdammt, es war sein Leben mit ihr, sein Leben durch sie und es war nicht eine
verblassende Erinnerung, es war zuende seid....ein paar Minuten. Unwiederruflich.
Es tat so weh, alles in Trümmern zu sehen. Der Boden unter seinen Füßen war eine
sinnlose, schwammige Masse geworden und die Zeit ein belangloses Vakuum.
Alle Menschen hatten Angst vor dem Tod. Scheiße, das hier war schlimmer.
Es war das Ende eines Lebens mit der idiotischen Auflage, daß man es trotzdem weiter-
zuleben habe. Er war keine zwanzig mehr. Er hatte keine Ausfahrt genommen, sondern
eine sehr sehr lange Straße verlassen, die nur geradeaus gehen konnte – rechts und
links war nur tote Steppe.

Er passierte eine Kneipe. Es kam ihm so lächerlich vor, jetzt in diesen Raum zu gehen
und sich zu betrinken, als wäre er vor einem albernen Krach einer belanglosen Ehe
geflüchtet. Es war banal. Es war billig. Er ging hinein.
An der Theke saßen die üblichen Barfliegen. Männer alten und älteren Alters, die
unmotiviert in ihre Gläser starrten.
„Ein Bier bitte.“
Er sah sich um. Links neben ihm saß ein Mann um die Fünfzig. Nicht so verkalkt
wie der Rest der Bande und durchaus ziemlich gepflegt. Er passte imgrunde genau-
sowenig hier herein wie er.
„Alles klar ?“ fragte dieser unvermittelt.
„Was ?“
„Nun, sie sehen mich so erstaunt an.“
„Ach, es ist nur, weil sie...nun...was machen sie hier ?“
„Was machen sie hier ? Sie sehen nicht wie ein Stammgast aus.“
„....“
„Raus mit der Sprache.“
„Es ist...vorbei...“
„Beziehungsknatsch ?“
„Schöne Verniedlichung.“
Er bekam sein Bier und bestellte gleich noch zwei. Eins für ihn und eins für den
Mann mit dem offenen Ohr. Verdammt, jetzt würde er sich betrinken und einem völlig
Fremden sein Herz ausschütten.
„Sie war...alles. Sie war ein realer Traum, sie hat mich genommen, mich, mich verdammten
Durchschnitt von Mensch....Scheiße.“
Er bekam feuchte Augen und knallte das leere Glas auf die Theke. Er kam sich lächerlich
vor in diesem Moment, wie eine schlechte Figur in einem klischeehaften Film und doch war
alles so echt...tat so weh...war so unmöglich...
„Hey, ist denn gar nichts mehr zu machen ?“
Er schüttelte den Kopf und blickte dabei starr auf einen Punkt hinter der Theke.
„Ich kenne sie nicht, aber, wenn sie so trauern um sie, dann können sie gar nicht so ein
schlechter Kerl sein.“
„Sie haben Recht, sie kennen mich nicht.“
Die zwei neuen Gläser standen vor ihnen auf der schmierig-nassen Theke.
„Danke.“
„Keine Ursache.“
„Wissen sie, ich habe auch mal eine Frau verloren und dachte, alles ist aus, aber ich bin
drüber hinweg gekommen.“
„Tja...“
„Worum ging’s denn ?“
„Haben sie Kinder ?“
„Bitte ?“
„Ob sie Kinder haben.“
„Ja.“
„Haben die sie schon mal gefragt, warum auf der Welt Krieg ist oder der Nachbar wieder
seine Frau anschreit ?“
„Äh..ja..“
„Und ? Konnten sie es ihnen schlüssig erklären, mal eben ?“
„Nein...“
„Sehen sie.“
„Sie kommen drüber hinweg.“ Der Mann rüttelte ihn an der Schulter.
Das Bier war wieder alle.
„Ja, sicher...“, sagte er bitter, blickte ins Nichts und stand auf.
„Danke für ihr Ohr.“
„Jaja, schon gut.“
Er verließ die Kneipe und fühlte sich leerer als vorher. Er wußte nicht annähernd,
was er tun sollte. Morgen zur Arbeit gehen ? Im Zug irgendwelchen Leuten beim
Quatschen zuhören, den Computer anmachen, Kaffee trinken ?
Er war mittlerweile in der Fußgängerzone. Es war still und leer, einzelne Schaufenster
durchleuchteten das Dunkel und die Räume dahinter sahen aus wie unwirkliche
Behausungen aus irgendeinem Raumschiff-Filmchen. Plastiktheken, undefinierbareer
Technik-Kram, einsame Anzüge ohne Menschen drin.
Es gab Leute, deren Laune anstieg, wenn sie in diese komischen Räume reingingen
und Objektive oder luftgepolsterte Sportschuhe kauften. Sowas konnte sie echt auf-
heitern. Diese armen, oberflächlichen, glücklichen Seelen.

Er verließ die Stadt und näherte sich dem städtischen Theater. Das Foyer war erleuchtet,
der Parkplatz voll. Er erinnerte sich an Momente, an denen er mit ihr in diesem Saal saß
und sie vor Enthusiasmus stehende Ovationen begannen. Wie so ein Abend ausklang, wie
man sich gut fühlte an Seele und Geist. Jetzt hätte ihn nicht mal die unglaublichste
Darbietung seines Lieblingsstückes auch nur annähernd abgelenkt.
Es gab nichts mehr, was Sinn gemacht hätte. Er schlich die Straße weiter und fand sich
neben der Kirche wieder. Plötzlich stoppte er, blickte skeptisch an der Mauer hoch
und kehrte um. Ängstlich und zögernd zupfte er an der Tür...sie war offen.
Er glaubte selbst nicht, was er hier tat, aber er betrat die Kirche.
Dumpfes Kerzenlicht, dunkle Stille. Er setzte sich in die hinterste Bank, betrachtete
die flackernden Schatten an der Wand und wartete.
Nichts passierte. Kein zündender Gedanke. Keine Eingebung. Kein bißchen Beruhigung
für sein stolperndes, haderndes Herz.
Was hatte er erwartet ? Gott ? Hatte er ihm sein Leben weggenommen ? Das würde ja
bedeuten, daß es ihn gäbe. Nein, er selbst war der Übeltäter und das würde sich auch
nicht ändern, wenn er seinen Hintern in eine einsame Kirchenbank pflanzte.
Verärgert stand er auf, verließ die Kirche und nahm einen tiefen Zug der frischen Luft,
als er die betäubende Stille des Gotteshauses hinter sich gelassen hatte.

Er ging zurück zu ihrem Haus. Sein Blick wanderte zu seinem, ihrem Fenster.
Es war dunkel. Still. Weit weg. Vor der Tür stand sein Wagen. Er schloß auf und
setzte sich hinein. Spielte mit dem Licht, mit den Scheibenwischern.
Er blickte nochmal zum Fenster hoch. Sein Magen verkrampfte sich, sein Herz war
nur noch ein verzerrter Klumpen.
Jetzt loszufahren, irgendwohin, würde überhaupt nichts bringen.
Sich auf die Autobahn zu setzen und das Gas durchzudrücken, wäre doch nur eine
sinnlose, alberne Flucht.
Die weißen Streifen verschmolzen zu sehen, die anderen Lichter hinter und vor einem,
die schwülen Raststätten mit den in alle Winde zerstreuten, rastlosen Besuchern.
Es wäre sinnlos.
Es wäre dumm.
Es wäre töricht.
Es wäre kindisch.
Es wäre zwecklos.
Es wäre nur eine Flucht ins Nichts.
Er ließ den Wagen an und fuhr los.
 



 
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