Ein Froschkönig

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Aligator

Mitglied
An einem dieser Tage, an denen im Grunde nichts geschieht, außer dass sie vergehen, schlenderte Lehmann den Kanalweg hinab. Er beobachtete die Möwen, so als ob er ihrem immer gleichem Schauspiel etwas Neues abgewinnen könnte. Kalte Böen nahmen eine Träne mit sich. Er war allein.

Irgendwann - was bedeutet schon Zeit für jemanden, auf dem niemand wartet – gab er sich einen Ruck und machte sich auf den Nachhauseweg. Er beeilte sich, denn das eben noch zum Spazieren einladende Wetter wurde stetig ungemütlicher. Da stolperte er über einen Pflasterstein, der erhaben über die anderen sich als regelrechte Falle erwies und konnte sich gerade noch mit einem reflexartigen Vorschnellen seines rechten Beines vor einem Sturz bewahren. Durch die Streckung fuhr es ihm ins Knie, auf dass er fluchte. Es waren dies die ersten Worte, die er seit langem gesprochen hatte und so kam durch den auf den Stimmritzen sich anhaftenden Schleim ein höchst seltsamer Laut hervor, ähnlichem dem eines Frosches.

In diesem Moment kam Lehmann eine Frau entgegen, die einen etwa fünfjährigen Sohn an der Hand hielt und ihn angesichts des nahenden Unwetters unwirsch hinter sich her zerrte. Der Junge wurde Zeuge von Lehmanns Beinahesturz mit dem eigentümlichen Laut und begann lauthals zu lachen. Seine Mutter zog schnell weiter, obwohl sie höchstwahrscheinlich alles mitbekommen hatte - wenigstens eine kleine Ermahnung hätte Lehmann erwartet -, tat sie gerade so, als wäre nichts geschehen. So blieb von dieser Szene nichts übrig außer dem kindlich wahnhaftem Lachen des Fünfjährigen, das sich durch das Bestreben der Mutter, sich ins Warme zu bringen, immer weiter entfernte, bis es der Wind verweht hatte.

Lehmann stand wie angewurzelt mitten auf dem Weg und atmete tief durch die Nase. Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Die Schadenfreude des Kindes hatte ihm wegen seines Gemütszustand unverhältnismäßig stark zugesetzt. Äußerlich betrachtet war nicht viel passiert, doch Lehmann kam es vor wie das berüchtigte Tröpfchen Etwas, was das Fass zum Überlaufen bringt. Dieses gellende Lachen hatte ihn schwer getroffen.

Seit zwei Wochen war er endgültig geschieden mit Renate. Das neue Leben und die Einsamkeit machten ihm schwer zu schaffen. Die Zwei-Zimmer-Wohnung, in der er nun lebte, kam ihm vor wie ein etwas geräumigerer Sarg. Am meisten fehlten ihm die Kinder. Er musste sich von ihnen fernhalten. Konnte dieses Richterschwein nicht nachvollziehen, was das für einen Vater bedeutete? Sicherlich war er zu weit gegangen. Er hätte Renate nicht schlagen sollen. Aber wieso hatte niemand für ihn Verständnis? Lehmann hatte sich stets Mühe gegeben und wollte ein guter Ehemann und Vater sein. Doch der Druck kam von allen Seiten. Wussten die, wie das war, der Stress in der Firma und dann kam man nach Hause und wie sah es dort aus? Durfte man als Mann nicht ein kleines Stückchen Respekt erwarten?

Lehmann öffnete die Augen und sah eine Familie auf sich zu kommen. Zwei Kinder fuhren auf Rollern um das Paar, das händchenhaltend plauderte. Die Gesellschaft und ihr heuchlerisches Getue! Alles nur Fassade! Er war sich sicher den Grund für sein verkorkstes Leben zu kennen. Die Gesellschaft hatte ihn verraten. Sie hatte nicht Wort gehalten. Er konnte deren Erwartungen nicht entsprechen. Er wollte es nicht mehr.
Sein Blick wanderte zum Wegesrand, wo nahe dem Abfalleimer ein einzelner, herausgelöster Pflasterstein lag.

Lehmann musterte wieder den Mann. Wie er daherkam, mit seiner Windjacke und dem Dreitagebart! Was glotzte er denn auch noch so? Bei dem kleinsten Anzeichen würde es krachen, das war sicher, und zwar mitten ins Gesicht. Lehmann konnte schon die Alte kreischen hören, wenn er sich auf ihn stürzte. Er wartete nur auf eine dumme Bemerkung oder einen herablassenden Blick. Die Fäuste geballt räusperte er sich. Ein erwartungsvolles Lächeln überkam ihm. Er hatte sich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt.

Der Mann war nun fast auf gleicher Höhe, nickte Lehmann zu und grüßte freundlich. Wahrscheinlich hatte sich von Lehmanns Lächeln anstecken lassen. Mag sein, dass er sich fragte, warum ihn dieser Mann, der mitten im Weg stand und keine Anstalten machte, vor dem Unwetter zu flüchten, ihn lächelnd anstarrte. Vielleicht war es eine reine Abwehrmaßnahme gewesen. Doch letztendlich blieb es was es war, nämlich eine freundliche Geste.

Lehmann erwiderte den Gruß. Seine Miene verfinsterte sich wieder. Warum war ihm nur diese aufgesetzte Freundlichkeit begegnet? Nun kam er sich wieder sinnlos und leer vor. Und er schämte sich noch dazu.
Eine ganze Weile stand er mit gesenktem Haupt regungslos da. Es begann allmählich wie aus Kübeln zu gießen. Die Nässe rann ihm in den Nacken. Da setzte er seinen Nachhauseweg fort.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Gelungene Miniatur über einen einsamen Froschkönig, dessen neues trostloses Leben beinahe schon wieder aus den Fugen geraten wäre.

Bei dem Satz


Seit zwei Wochen war er endgültig geschieden mit Renate.
würde ich schreiben:

Seit zwei Wochen war er endgültig geschieden von Renate.

LG Doc
 
U

USch

Gast
Hallo Aligator,

Kalte Böen nahmen eine Träne mit sich.
Toller Satz!

Ein paar Vorschläge Fehler und Verbesserungen betreffend:
So blieb von dieser Szene nichts übrig außer dem [strike]kindlich wahnhaftem [/strike]Lachen des Fünfjährigen.
Die Schadenfreude des Kindes hatte ihm wegen seines Gemütszustand[blue]es[/blue] unverhältnismäßig stark zugesetzt.
Er war sich sicher[blue], Komma![/blue] den Grund für sein verkorkstes Leben zu kennen. Die Gesellschaft hatte ihn verraten. Sie [blue]seine Frau oder die Gesellschaft?[/blue] hatte nicht Wort gehalten. Er konnte [strike]deren [/strike] [blue]ihren [/blue]Erwartungen nicht entsprechen.
Ein erwartungsvolles Lächeln überkam [strike]ihm [/strike][blue]ihn[/blue]
Wahrscheinlich hatte [blue]er [/blue]sich von Lehmanns Lächeln anstecken lassen.
LG USch
 

Aligator

Mitglied
An einem dieser Tage, an denen im Grunde nichts geschieht, außer dass sie vergehen, schlenderte Lehmann den Kanalweg hinab. Er beobachtete die Möwen, so als ob er ihrem immer gleichem Schauspiel etwas Neues abgewinnen könnte. Kalte Böen nahmen eine Träne mit sich. Er war allein.

Irgendwann - was bedeutet schon Zeit für jemanden, auf dem niemand wartet – gab er sich einen Ruck und machte sich auf den Nachhauseweg. Er beeilte sich, denn das eben noch zum Spazieren einladende Wetter wurde stetig ungemütlicher. Da stolperte er über einen Pflasterstein, der erhaben über die anderen sich als regelrechte Falle erwies und konnte sich gerade noch mit einem reflexartigen Vorschnellen seines rechten Beines vor einem Sturz bewahren. Durch die Streckung fuhr es ihm ins Knie, auf dass er fluchte. Es waren dies die ersten Worte, die er seit langem gesprochen hatte und so kam durch den auf den Stimmritzen sich anhaftenden Schleim ein höchst seltsamer Laut hervor, ähnlichem dem eines Frosches.

In diesem Moment kam Lehmann eine Frau entgegen, die einen etwa fünfjährigen Sohn an der Hand hielt und ihn angesichts des nahenden Unwetters unwirsch hinter sich her zerrte. Der Junge wurde Zeuge von Lehmanns Beinahesturz mit dem eigentümlichen Laut und begann lauthals zu lachen. Seine Mutter zog schnell weiter, obwohl sie höchstwahrscheinlich alles mitbekommen hatte - wenigstens eine kleine Ermahnung hätte Lehmann erwartet -, tat sie gerade so, als wäre nichts geschehen. So blieb von dieser Szene nichts übrig außer dem Lachen des Fünfjährigen, das sich durch das Bestreben der Mutter, sich ins Warme zu bringen, immer weiter entfernte, bis es der Wind verweht hatte.

Lehmann stand wie angewurzelt mitten auf dem Weg und atmete tief durch die Nase. Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Die Schadenfreude des Kindes hatte ihm wegen seines Gemütszustand unverhältnismäßig stark zugesetzt. Äußerlich betrachtet war nicht viel passiert, doch Lehmann kam es vor wie das berüchtigte Tröpfchen Etwas, was das Fass zum Überlaufen bringt. Dieses gellende Lachen hatte ihn schwer getroffen.

Seit zwei Wochen war er endgültig geschieden mit Renate. Das neue Leben und die Einsamkeit machten ihm schwer zu schaffen. Die Zwei-Zimmer-Wohnung, in der er nun lebte, kam ihm vor wie ein etwas geräumigerer Sarg. Am meisten fehlten ihm die Kinder. Er musste sich von ihnen fernhalten. Konnte dieses Richterschwein nicht nachvollziehen, was das für einen Vater bedeutete? Sicherlich war er zu weit gegangen. Er hätte Renate nicht schlagen sollen. Aber wieso hatte niemand für ihn Verständnis? Lehmann hatte sich stets Mühe gegeben und wollte ein guter Ehemann und Vater sein. Doch der Druck kam von allen Seiten. Wussten die, wie das war, der Stress in der Firma und dann kam man nach Hause und wie sah es dort aus? Durfte man als Mann nicht ein kleines Stückchen Respekt erwarten?

Lehmann öffnete die Augen und sah eine Familie auf sich zu kommen. Zwei Kinder fuhren auf Rollern um das Paar, das händchenhaltend plauderte. Die Gesellschaft und ihr heuchlerisches Getue! Alles nur Fassade! Er war sich sicher den Grund für sein verkorkstes Leben zu kennen. Die Gesellschaft hatte ihn verraten. Sie hatte nicht Wort gehalten. Er konnte deren Erwartungen nicht entsprechen. Er wollte es nicht mehr.
Sein Blick wanderte zum Wegesrand, wo nahe dem Abfalleimer ein einzelner, herausgelöster Pflasterstein lag.

Lehmann musterte wieder den Mann. Wie er daherkam, mit seiner Windjacke und dem Dreitagebart! Was glotzte er denn auch noch so? Bei dem kleinsten Anzeichen würde es krachen, das war sicher, und zwar mitten ins Gesicht. Lehmann konnte schon die Alte kreischen hören, wenn er sich auf ihn stürzte. Er wartete nur auf eine dumme Bemerkung oder einen herablassenden Blick. Die Fäuste geballt räusperte er sich. Ein erwartungsvolles Lächeln überkam ihm. Er hatte sich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt.

Der Mann war nun fast auf gleicher Höhe, nickte Lehmann zu und grüßte freundlich. Wahrscheinlich hatte sich von Lehmanns Lächeln anstecken lassen. Mag sein, dass er sich fragte, warum ihn dieser Mann, der mitten im Weg stand und keine Anstalten machte, vor dem Unwetter zu flüchten, ihn lächelnd anstarrte. Vielleicht war es eine reine Abwehrmaßnahme gewesen. Doch letztendlich blieb es was es war, nämlich eine freundliche Geste.

Lehmann erwiderte den Gruß. Seine Miene verfinsterte sich wieder. Warum war ihm nur diese aufgesetzte Freundlichkeit begegnet? Nun kam er sich wieder sinnlos und leer vor. Und er schämte sich noch dazu.
Eine ganze Weile stand er mit gesenktem Haupt regungslos da. Es begann allmählich wie aus Kübeln zu gießen. Die Nässe rann ihm in den Nacken. Da setzte er seinen Nachhauseweg fort.
 

Aligator

Mitglied
An einem dieser Tage, an denen im Grunde nichts geschieht, außer dass sie vergehen, schlenderte Lehmann den Kanalweg hinab. Er beobachtete die Möwen, so als ob er ihrem immer gleichem Schauspiel etwas Neues abgewinnen könnte. Kalte Böen nahmen eine Träne mit sich. Er war allein.

Irgendwann - was bedeutet schon Zeit für jemanden, auf dem niemand wartet – gab er sich einen Ruck und machte sich auf den Nachhauseweg. Er beeilte sich, denn das eben noch zum Spazieren einladende Wetter wurde stetig ungemütlicher. Da stolperte er über einen Pflasterstein, der erhaben über die anderen sich als regelrechte Falle erwies und konnte sich gerade noch mit einem reflexartigen Vorschnellen seines rechten Beines vor einem Sturz bewahren. Durch die Streckung fuhr es ihm ins Knie, auf dass er fluchte. Es waren dies die ersten Worte, die er seit langem gesprochen hatte und so kam durch den auf den Stimmritzen sich anhaftenden Schleim ein höchst seltsamer Laut hervor, ähnlichem dem eines Frosches.

In diesem Moment kam Lehmann eine Frau entgegen, die einen etwa fünfjährigen Sohn an der Hand hielt und ihn angesichts des nahenden Unwetters unwirsch hinter sich her zerrte. Der Junge wurde Zeuge von Lehmanns Beinahesturz mit dem eigentümlichen Laut und begann lauthals zu lachen. Seine Mutter zog schnell weiter, obwohl sie höchstwahrscheinlich alles mitbekommen hatte - wenigstens eine kleine Ermahnung hätte Lehmann erwartet -, tat sie gerade so, als wäre nichts geschehen. So blieb von dieser Szene nichts übrig außer dem Lachen des Fünfjährigen, das sich durch das Bestreben der Mutter, sich ins Warme zu bringen, immer weiter entfernte, bis es der Wind verweht hatte.

Lehmann stand wie angewurzelt mitten auf dem Weg und atmete tief durch die Nase. Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Die Schadenfreude des Kindes hatte ihm wegen seines Gemütszustandes unverhältnismäßig stark zugesetzt. Äußerlich betrachtet war nicht viel passiert, doch Lehmann kam es vor wie das berüchtigte Tröpfchen Etwas, was das Fass zum Überlaufen bringt. Dieses gellende Lachen hatte ihn schwer getroffen.

Seit zwei Wochen war er endgültig geschieden von Renate. Das neue Leben und die Einsamkeit machten ihm schwer zu schaffen. Die Zwei-Zimmer-Wohnung, in der er nun lebte, kam ihm vor wie ein etwas geräumigerer Sarg. Am meisten fehlten ihm die Kinder. Er musste sich von ihnen fernhalten. Konnte dieses Richterschwein nicht nachvollziehen, was das für einen Vater bedeutete? Sicherlich war er zu weit gegangen. Er hätte Renate nicht schlagen sollen. Aber wieso hatte niemand für ihn Verständnis? Lehmann hatte sich stets Mühe gegeben und wollte ein guter Ehemann und Vater sein. Doch der Druck kam von allen Seiten. Wussten die, wie das war, der Stress in der Firma und dann kam man nach Hause und wie sah es dort aus? Durfte man als Mann nicht ein kleines Stückchen Respekt erwarten?

Lehmann öffnete die Augen und sah eine Familie auf sich zu kommen. Zwei Kinder fuhren auf Rollern um das Paar, das händchenhaltend plauderte. Die Gesellschaft und ihr heuchlerisches Getue! Alles nur Fassade! Er war sich sicher, den Grund für sein verkorkstes Leben zu kennen. Die Gesellschaft hatte ihn verraten und nicht Wort gehalten. Er konnte deren Erwartungen nicht entsprechen. Jetzt wollte er nicht mehr.
Sein Blick wanderte zum Wegesrand, wo nahe dem Abfalleimer ein einzelner, herausgelöster Pflasterstein lag.

Lehmann musterte wieder den Mann. Wie er daherkam, mit seiner Windjacke und dem Dreitagebart! Was glotzte er denn auch noch so? Bei dem kleinsten Anzeichen würde es krachen, das war sicher, und zwar mitten ins Gesicht. Lehmann konnte schon die Alte kreischen hören, wenn er sich auf ihn stürzte. Er wartete nur auf eine dumme Bemerkung oder einen herablassenden Blick. Die Fäuste geballt räusperte er sich. Ein erwartungsvolles Lächeln überkam ihm. Er hatte sich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt.

Der Mann war nun fast auf gleicher Höhe, nickte Lehmann zu und grüßte freundlich. Wahrscheinlich hatte sich von Lehmanns Lächeln anstecken lassen. Mag sein, dass er sich fragte, warum ihn dieser Mann, der mitten im Weg stand und keine Anstalten machte, vor dem Unwetter zu flüchten, ihn lächelnd anstarrte. Vielleicht war es eine reine Abwehrmaßnahme gewesen. Doch letztendlich blieb es was es war, nämlich eine freundliche Geste.

Lehmann erwiderte den Gruß. Seine Miene verfinsterte sich wieder. Warum war ihm nur diese aufgesetzte Freundlichkeit begegnet? Nun kam er sich wieder sinnlos und leer vor. Und er schämte sich noch dazu.
Eine ganze Weile stand er mit gesenktem Haupt regungslos da. Es begann allmählich wie aus Kübeln zu gießen. Die Nässe rann ihm in den Nacken. Da setzte er seinen Nachhauseweg fort.
 

Aligator

Mitglied
An einem dieser Tage, an denen im Grunde nichts geschieht, außer dass sie vergehen, schlenderte Lehmann den Kanalweg hinab. Er beobachtete die Möwen, so als ob er ihrem immer gleichem Schauspiel etwas Neues abgewinnen könnte. Kalte Böen nahmen eine Träne mit sich. Er war allein.

Irgendwann - was bedeutet schon Zeit für jemanden, auf dem niemand wartet – gab er sich einen Ruck und machte sich auf den Nachhauseweg. Er beeilte sich, denn das eben noch zum Spazieren einladende Wetter wurde stetig ungemütlicher. Da stolperte er über einen Pflasterstein, der erhaben über die anderen sich als regelrechte Falle erwies und konnte sich gerade noch mit einem reflexartigen Vorschnellen seines rechten Beines vor einem Sturz bewahren. Durch die Streckung fuhr es ihm ins Knie, auf dass er fluchte. Es waren dies die ersten Worte, die er seit langem gesprochen hatte und so kam durch den auf den Stimmritzen sich anhaftenden Schleim ein höchst seltsamer Laut hervor, ähnlichem dem eines Frosches.

In diesem Moment kam Lehmann eine Frau entgegen, die einen etwa fünfjährigen Sohn an der Hand hielt und ihn angesichts des nahenden Unwetters unwirsch hinter sich her zerrte. Der Junge wurde Zeuge von Lehmanns Beinahesturz mit dem eigentümlichen Laut und begann lauthals zu lachen. Seine Mutter zog schnell weiter, obwohl sie höchstwahrscheinlich alles mitbekommen hatte - wenigstens eine kleine Ermahnung hätte Lehmann erwartet -, tat sie gerade so, als wäre nichts geschehen. So blieb von dieser Szene nichts übrig außer dem Lachen des Fünfjährigen, das sich durch das Bestreben der Mutter, sich ins Warme zu bringen, immer weiter entfernte, bis es der Wind verweht hatte.

Lehmann stand wie angewurzelt mitten auf dem Weg und atmete tief durch die Nase. Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Die Schadenfreude des Kindes hatte ihm wegen seines Gemütszustandes unverhältnismäßig stark zugesetzt. Äußerlich betrachtet war nicht viel passiert, doch Lehmann kam es vor wie das berüchtigte Tröpfchen Etwas, was das Fass zum Überlaufen bringt. Dieses gellende Lachen hatte ihn schwer getroffen.

Seit zwei Wochen war er endgültig geschieden von Renate. Das neue Leben und die Einsamkeit machten ihm schwer zu schaffen. Die Zwei-Zimmer-Wohnung, in der er nun lebte, kam ihm vor wie ein etwas geräumigerer Sarg. Am meisten fehlten ihm die Kinder. Er musste sich von ihnen fernhalten. Konnte dieses Richterschwein nicht nachvollziehen, was das für einen Vater bedeutete? Sicherlich war er zu weit gegangen. Er hätte Renate nicht schlagen sollen. Aber wieso hatte niemand für ihn Verständnis? Lehmann hatte sich stets Mühe gegeben und wollte ein guter Ehemann und Vater sein. Doch der Druck kam von allen Seiten. Wussten die, wie das war, der Stress in der Firma und dann kam man nach Hause und wie sah es dort aus? Durfte man als Mann nicht ein kleines Stückchen Respekt erwarten?

Lehmann öffnete die Augen und sah eine Familie auf sich zu kommen. Zwei Kinder fuhren auf Rollern um das Paar, das händchenhaltend plauderte. Die Gesellschaft und ihr heuchlerisches Getue! Alles nur Fassade! Er war sich sicher, den Grund für sein verkorkstes Leben zu kennen. Die Gesellschaft hatte ihn verraten und nicht Wort gehalten. Er konnte ihren Erwartungen nicht entsprechen. Jetzt wollte er nicht mehr.
Sein Blick wanderte zum Wegesrand, wo nahe dem Abfalleimer ein einzelner, herausgelöster Pflasterstein lag.

Lehmann musterte wieder den Mann. Wie er daherkam, mit seiner Windjacke und dem Dreitagebart! Was glotzte er denn auch noch so? Bei dem kleinsten Anzeichen würde es krachen, das war sicher, und zwar mitten ins Gesicht. Lehmann konnte schon die Alte kreischen hören, wenn er sich auf ihn stürzte. Er wartete nur auf eine dumme Bemerkung oder einen herablassenden Blick. Die Fäuste geballt räusperte er sich. Ein erwartungsvolles Lächeln überkam ihn. Er hatte sich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt.

Der Mann war nun fast auf gleicher Höhe, nickte Lehmann zu und grüßte freundlich. Wahrscheinlich hatte er sich von Lehmanns Lächeln anstecken lassen. Mag sein, dass er sich fragte, warum ihn dieser Mann, der mitten im Weg stand und keine Anstalten machte, vor dem Unwetter zu flüchten, ihn lächelnd anstarrte. Vielleicht war es eine reine Abwehrmaßnahme gewesen. Doch letztendlich blieb es was es war, nämlich eine freundliche Geste.

Lehmann erwiderte den Gruß. Seine Miene verfinsterte sich wieder. Warum war ihm nur diese aufgesetzte Freundlichkeit begegnet? Nun kam er sich wieder sinnlos und leer vor. Und er schämte sich noch dazu.
Eine ganze Weile stand er mit gesenktem Haupt regungslos da. Es begann allmählich wie aus Kübeln zu gießen. Die Nässe rann ihm in den Nacken. Da setzte er seinen Nachhauseweg fort.
 

Aligator

Mitglied
An einem dieser Tage, an denen im Grunde nichts geschieht, außer dass sie vergehen, schlenderte Lehmann den Kanalweg hinab. Er beobachtete die Möwen, so als ob er ihrem immer gleichem Schauspiel etwas Neues abgewinnen könnte. Kalte Böen nahmen eine Träne mit sich. Er war allein.

Irgendwann - was bedeutet schon Zeit für jemanden, auf dem niemand wartet – gab er sich einen Ruck und machte sich auf den Nachhauseweg. Er beeilte sich, denn das eben noch zum Spazieren einladende Wetter wurde stetig ungemütlicher. Da stolperte er über einen Pflasterstein, der erhaben über die anderen sich als regelrechte Falle erwies und konnte sich gerade noch mit einem reflexartigen Vorschnellen seines rechten Beines vor einem Sturz bewahren. Durch die Streckung fuhr es ihm ins Knie, auf dass er fluchte. Es waren dies die ersten Worte, die er seit langem gesprochen hatte und so kam durch den auf den Stimmritzen anhaftenden Schleim ein höchst seltsamer Laut hervor, ähnlichem dem eines Frosches.

In diesem Moment kam Lehmann eine Frau entgegen, die einen etwa fünfjährigen Sohn an der Hand hielt und ihn angesichts des nahenden Unwetters unwirsch hinter sich her zerrte. Der Junge wurde Zeuge von Lehmanns Beinahesturz mit dem eigentümlichen Laut und begann lauthals zu lachen. Seine Mutter zog schnell weiter und obwohl sie höchstwahrscheinlich alles mitbekommen hatte - wenigstens eine kleine Ermahnung hätte Lehmann erwartet -, tat sie gerade so, als wäre nichts geschehen. So blieb von dieser Szene nichts übrig außer dem Lachen des Fünfjährigen, das sich durch das Bestreben der Mutter, sich ins Warme zu bringen, immer weiter entfernte, bis es der Wind verweht hatte.

Lehmann stand wie angewurzelt mitten auf dem Weg und atmete tief durch die Nase. Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Die Schadenfreude des Kindes hatte ihm wegen seines Gemütszustandes unverhältnismäßig stark zugesetzt. Äußerlich betrachtet war nicht viel passiert, doch Lehmann kam es vor wie das berüchtigte Tröpfchen Etwas, was das Fass zum Überlaufen bringt. Dieses gellende Lachen hatte ihn schwer getroffen.

Seit zwei Wochen war er endgültig geschieden von Renate. Das neue Leben und die Einsamkeit machten ihm schwer zu schaffen. Die Zwei-Zimmer-Wohnung, in der er nun lebte, kam ihm vor wie ein etwas geräumigerer Sarg. Am meisten fehlten ihm die Kinder. Er musste sich von ihnen fernhalten. Konnte dieses Richterschwein nicht nachvollziehen, was das für einen Vater bedeutete? Sicherlich war er zu weit gegangen. Er hätte Renate nicht schlagen sollen. Aber wieso hatte niemand für ihn Verständnis? Lehmann hatte sich stets Mühe gegeben und wollte ein guter Ehemann und Vater sein. Doch der Druck kam von allen Seiten. Wussten die, wie das war, der Stress in der Firma und dann kam man nach Hause und wie sah es dort aus? Durfte man als Mann nicht ein kleines Stückchen Respekt erwarten?

Lehmann öffnete die Augen und sah eine Familie auf sich zu kommen. Zwei Kinder fuhren auf Rollern um das Paar, das händchenhaltend plauderte. Die Gesellschaft und ihr heuchlerisches Getue! Alles nur Fassade! Er war sich sicher, den Grund für sein verkorkstes Leben zu kennen. Die Gesellschaft hatte ihn verraten und nicht Wort gehalten. Er konnte ihren Erwartungen nicht entsprechen. Jetzt wollte er nicht mehr. Sein Blick wanderte zum Wegesrand, wo nahe dem Abfalleimer ein einzelner, herausgelöster Pflasterstein lag.

Lehmann musterte wieder den Mann. Wie er daherkam, mit seiner Windjacke und dem Dreitagebart! Was glotzte er denn auch noch so? Bei dem kleinsten Anzeichen würde es krachen, das war sicher, und zwar mitten ins Gesicht. Lehmann konnte schon die Alte kreischen hören, wenn er sich auf ihn stürzte. Er wartete nur auf eine dumme Bemerkung oder einen herablassenden Blick. Die Fäuste geballt räusperte er sich. Ein erwartungsvolles Lächeln überkam ihn. Er hatte sich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt.

Der Mann war nun fast auf gleicher Höhe, nickte Lehmann zu und grüßte freundlich. Wahrscheinlich hatte er sich von Lehmanns Lächeln anstecken lassen. Mag sein, dass er sich fragte, warum ihn dieser Mann, der mitten im Weg stand und keine Anstalten machte, vor dem Unwetter zu flüchten, ihn lächelnd anstarrte. Vielleicht war es eine reine Abwehrmaßnahme gewesen. Doch letztendlich blieb es was es war, nämlich eine freundliche Geste.

Lehmann erwiderte den Gruß. Seine Miene verfinsterte sich wieder. Warum war ihm nur diese aufgesetzte Freundlichkeit begegnet? Nun kam er sich wieder sinnlos und leer vor. Und er schämte sich noch dazu.
Eine ganze Weile stand er mit gesenktem Haupt regungslos da. Es begann allmählich wie aus Kübeln zu gießen. Die Nässe rann ihm in den Nacken. Da setzte er seinen Nachhauseweg fort.
 



 
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