Ein Mensch am Abgrund

heidi dorma

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EIN MENSCH AM ABGRUND​
Teil 3 von 3​

Erst nach 14 Tagen fiel Anette auf, dass Kevins Notebook nicht an seinem Platz stand. Den Verlust der anderen Teile bemerkte sie gar nicht. „Mutti, weißt du wo der kleine tragbare Computer abgeblieben ist, der hier unten am Schrank gestanden hat?“ fragte Anette bei Maren nach. Diese überlegte: „Ich habe keine Ahnung. Gestern habe ich hier Staub gewischt. Nein, also da stand nichts.“ „Ich dachte, dass ich ihn letzte Woche hier stehen gesehen habe. Vielleicht täusche ich mich auch“ kam es unsicher von Anette. Maren versuchte sich zu erinnern: „Ich weiß es wirklich nicht. Aber wenn er hier gestanden hat, wer soll ihn denn da weggenommen haben? Kevin! Vielleicht war er hier und hat ihn...“ weiter kam sie nicht, denn Anette fiel ihrer Mutter ins Wort: „Quatsch! Erzähle bitte nicht so einen Unsinn! Nehmen wir mal an er wäre wirklich hier gewesen - dann hätte ihn doch irgendwer bestimmt gesehen. Wenn schon nicht wir, dann doch die Sprechstundenhilfe - und die hätte uns das gesagt! Und an den Wochenenden sind wir immer zu Hause. Wahrscheinlich habe ich mich ganz einfach nur geirrt.“ Maren pflichtete ihrer Tochter widerstrebend bei: „Ja, stimmt - aber vor 14 Tagen war doch Taufe. Da könnte er doch hier gewesen sein...“ Anette winkte ab: „Wenn er tatsächlich hier gewesen wäre, hätte er garantiert das Geld aus dem Safe mitgenommen. Es lagen über DM 10.000,- in bar drinnen - zusammen mit der Police für meine Lebensversicherung. Ich habe sie nämlich endlich geändert und erhöht. Falls mir mal etwas passieren sollte, so bekommen Sahra und Kevin sie zu gleichen Teilen ausgezahlt. Wenn Kevin nicht innerhalb der nächsten 10 Jahre wieder auftaucht, bekommt Sahra alles.“

An den Safe hatte Kevin in der Tat nicht gedacht aber er hatte ja genügend Bargeld zur Verfügung.

Da sich Kevin nach 6 Wochen nicht zu Hause gemeldet hatte ging Anette zur Polizei und meldete ihn als vermisst. Das Foto, das sie vorlegte, war schon über ein Jahr alt und hatte mit Kevin, so wie er jetzt aussah, so gut wie keine Ähnlichkeit. Trotzdem fuhr es Kevin durch Mark und Bein, als er sich - wenn auch nur klein - abgebildet in der Zeitung sah. Molle war gerade im Vorzelt bei Kevin und sah ihm über die Schulter: „Na, steht heute was Interessantes drinnen?“ Neben dem Artikel von Kevin war ein Bericht über den Ausbau einer Strasse und so antwortete er: „In Harburg soll eine Strasse verbreitert werden.“ Molle wurde hellhörig: „Wo denn da? Zeig mal her!“ Am Tisch stehend las er sich den Artikel durch: „Das ist ganz bei mir in der Nähe.“ Sein Blick fiel auf Kevins Foto: „Oh, da hat sich schon wieder einer aus dem Staub gemacht.“ Molle blätterte weiter. Erleichtert atmete Kevin auf - Molle hatte ihn nicht erkannt.

Auch Erwin Striezel las die Zeitung. Ungläubig starrte er auf die Anzeige. Ohne zu zögern griff er zum Telefon und rief bei Anette an. Er berichtete ihr alles was er diesbezüglich wusste. Anette begriff: Er hatte genügend Bargeld - genug um sich im Ausland eine neue Existenz aufzubauen. Holland, Spanien oder die USA waren früher, als er noch studierte, sein Traum. Hatte er sich diesen Traum jetzt erfüllt? Schweren Herzens teilte sie ihren Verdacht der Polizei mit. Aber viel konnte sie nicht für Anette tun - schließlich hatte Kevin sich nichts zu Schulden kommen lassen.

Kevin hatte sich an das Leben auf dem Campingplatz gewöhnt. Es war das 1. Wochenende im November. Der Winter stand vor der Tür. Total erstaunt sah Kevin, dass Molle an einem Freitag in Begleitung seiner Ehefrau vorfuhr. Nach kurzer Begrüßung und Vorstellung klärte Molle Kevin auf: „Für dieses Jahr machen wir Schluss. Im Winter ist hier tote Hose, da kommt keiner hier her, höchstens mal 2, 3 Kurzurlauber oder Durchreisende. Eddy, mach´s gut. Nächstes Jahr im Februar oder März kommen wir alle wieder. Wir wollen jetzt packen und den Wagen winterfest machen. Du hast es gut - dein Vorzelt ist ja ausgebaut.“ Molle verschwand in sein Vorzelt zu seiner dort schon packenden Frau. Die Mitteilung traf Kevin völlig unvorbereitet. Wie ein verscheuchter Hund kehrte auch er nun in sein Vorzelt zurück. Langsam begriff er: 3, 4 Monate war er hier alleine - ganz alleine. Weihnachten, Silvester... Christian! Wie lange war es nun eigentlich schon her, dass er ihn anrufen wollte? Kevin schaltete sein Handy ein und wählte - doch er hörte nur: „Kein Anschluss unter dieser Nummer...“ Hatte er sich etwa verwählt? Beim 2. Versuch hörte er wieder die gleiche Stimme... Resigniert schaltete Kevin das Handy aus.

Ende November war Kevin ganz alleine auf dem Campingplatz. Nach einer Woche fiel ihm buchstäblich die Decke auf den Kopf. Es war kalt und regnerisch. Kevin setzte sich ins Auto und fuhr in die Stadt. Langsam schlenderte er durch die Einkaufsstraßen. Die Leute hasteten an ihm vorbei. Keiner nahm Notiz von ihm. Müde setzte er sich auf eine Bank. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, doch von seiner Baseball-Kappe tropfte es noch nach. Kevin, der in der Zwischenzeit einen Vollbart und einen Pferdeschwanz trug beobachtete die Leute. Er nahm seine Baseball-Kappe ab und legte sie neben sich auf die Bank. Ein Berber gesellte sich zu ihm: „Ich habe dich hier noch nie gesehen.“ Erschrocken fuhr Kevin zusammen: „Ich sitze hier zum ersten mal, aber nur um mich auszuruhen...“ hörte er sich selber sagen. Eine Frau ging vorbei und warf mitleidig ein paar Münzen in Kevins Kappe. Entsetzt sah Kevin der Frau hinterher. Man hielt ihn für einen Berber! „Du bist neu auf der Platte, stimmt doch, oder?“ hörte Kevin seinen Sitznachbarn fragen. Er wandte sich zu ihm und sah in ein ausgemergeltes Gesicht: „Ich bin Paul und wie heißt du?“ „Eddy“ kam es gewohnheitsmäßig von Kevin. „Eddy, du bist neu, das merke ich. Der Anfang ist Scheiße. So wie du haben wir hier alle mal angefangen. Erst geht es dir gut, dann läuft was quer und irgendwann steckst du in der Scheiße und kommst nicht mehr raus. Dann landest du hier auf der Platte. Keine Angst, wir sind hier alle irgendwie wie eine große Familie. Mir ging es früher auch mal besser. Ich war selbständig, hatte eine Frau und 2 Kinder - Jungs. Dann gingen die Geschäfte schlecht und irgendwann war ich pleite und hatte Schulden. Vor lauter Verzweifelung habe ich angefangen zu saufen. Im Suff habe ich dann meine Frau verprügelt. Da hat sie sich scheiden lassen. Ich hatte keinen Job, keine Wohnung und hohe Schulden. Jetzt bin ich hier auf der Platte, stehe am Abgrund und kann die Scherben meines Lebens nicht mehr kitten. Scheiße. Irgendwann krepiere ich hier auch.“ Kevin sagte kein Wort. Das war also die Sprache der Berber! Andererseits hatte er jetzt jemanden zum Reden: „Paul, egal ob du es mir nun glaubst oder auch nicht - ich bin Arzt.“ Kevin erzählte Paul alles, nur nicht, dass er finanziell noch ganz gut dastand. Danach fühlte er sich leichter. Endlich hatte er jemanden gefunden, der ein ähnliches Schicksal hatte und der ihn verstand. Paul nickte stumm mit dem Kopf: „Wenn du willst, kannst du heute Nacht bei mir pennen. Ich weiß da ein altes Haus, das demnächst abgerissen werden soll...“ Kevin schüttelte den Kopf: „Noch habe ich einen Kumpel, bei dem ich schlafen kann - aber wie lange noch, weiß ich auch nicht.“ Paul sah Kevin bewundernd an: „Du hast es gut, ein richtiges Bett. Sag mal, kann ich da auch pennen?“ Kevin wurde verlegen: „Wenn ich da mit dir aufkreuze kann ich auch gleich gehen.“ „Hätte ja sein können“ hörte er Paul monoton klingend sagen. Kevin nahm seine Kappe, steckte die Münzen ein und ging in das nächste Kaufhaus. Paul blieb auf der Bank sitzen: „Eddy, wir sehen uns bald wieder...“ brabbelte er wissend in seinen Bart.

Paul behielt Recht. Schon 3 Tage später hielt Kevin die Einsamkeit nicht mehr aus. Wieder fuhr er in die Stadt. Auf seiner Bank saß Paul. Kevin gesellte sich zu ihm. Nach ein paar Minuten kamen noch 2 weitere Berber. Erst auf den 2. Blick stellte Kevin fest, dass einer von den beiden eine Frau war. „Das ist Eddy, der Arzt von dem ich euch erzählt habe und das sind Dora und Atze“ stellte Paul die 3 einander vor. Kevin erfuhr die Lebensgeschichten der anderen beiden Berber - sie ähnelten sich alle. Kevin dachte an sein Geld. Er musste sehr sparsam leben, damit er nicht genau so enden würde. Außerdem wollte er sich endlich um einen Job bemühen. Er hatte lange genug herumgegammelt.

Doch obwohl sich Kevin redlich bemühte eine Stelle im medizinischen Bereich oder in einer Apotheke zu bekommen, wurde er immer wieder abgelehnt. Die meisten hielten ihn - aufgrund seiner äußeren Erscheinung - für entweder verrückt oder sie waren der Meinung, dass sie irgendwer verulken will. Nur ein einziger machte sich die Mühe einen Blick in Kevins Bewerbungsunterlagen zu werfen. Sie waren gut - trotzdem gab man einem anderen Bewerber den Vorrang.

Weihnachten und Neujahr hatte Kevin mit den Berbern verlebt. Es gab Nächte, wo er sogar mit ihnen unter Brücken schlief oder in Abbruchhäusern. Das passierte immer dann, wenn Kevin zu betrunken war um mit dem Auto wieder zurück zum Campingplatz zu fahren.

Nun war es Mitte Februar. Kevin kam gerade vom Duschen, da sah er Molle ankommen. Kevin hatte den Eindruck, dass Molle noch dicker geworden war. Molle war der erste, der nach den Wintermonaten wieder zurück zum Campingplatz kam. Im ersten Augenblick erkannte Molle Kevin nicht wieder: „Mensch Eddy, du bist ja um Jahre gealtert - was ist los?“ „Die Einsamkeit hat mich aufgefressen. Ich habe sogar bei den Berbern Anschluss gesucht“ kam es fast entschuldigend von Kevin. Molle zog Kevin kopfschüttelnd in sein Auto: „So, ab mit dir zum Frisör, du siehst ja furchtbar aus. Als ob du Reklame für irgend eine Geisterbahn machst...“ „Lass mich doch so wie ich bin.“ protestierte Kevin schwach. Molle wurde energisch: „Nichts da! Jetzt wird wieder ein normaler Mensch aus dir gemacht.“ Kevin ergab sich seinem Schicksal. Eine Stunde später sah er wieder manierlich aus. Die Haare waren ordentlich geschnitten und der Bart war kräftig gestutzt. Molle wartete auf Kevin und bezahlte anschließend die Rechnung: „Na, das hat sich ja gelohnt.“ „Es ist wirklich eine ganze Menge runtergekommen.“ staunte Kevin. Plötzlich fühlte er sich so gut wie schon lange nicht mehr.

Nachdem Molle am nächsten Tag für sich und Kevin Brötchen und Zeitung geholt hatte deckte Kevin den Tisch. Molle blätterte die Zeitung durch: „Waaas? Was ist das?!“ hörte Kevin Molle keuchen. Molle saß zusammengesunken am Tisch. Seine Augen flackerten. Die Farbe seines runden Gesichts wechselte im Sekundentakt von dunkelrot auf schneeweiß und wieder zurück. Kevin eilte zu seinem Freund. Routinemäßig fühlte er den Puls - er raste. „Leg dich hin! Sofort!“ Kevin stürmte in den Wohnwagen, holte seine Arzttasche, maß den Blutdruck und gab Molle eine Beruhigungsspritze. Bald darauf ging es Molle besser. „Was war denn los?“ erkundigte sich Kevin. „In der Zeitung steht, dass die Firma, bei der ich arbeite, eventuell ihren Sitz ins Ausland verlegen will. Mensch, die haben doch einen Ratsch an der Daddel, denen haben sie wohl ins Gehirn geschissen. Wenn jetzt jemand von der Geschäftsleitung vor mir stehen würde - der würde auf die 12 kriegen bis er lacht, und dann würde er auf die 12 kriegen weil er gelacht hat.“ Molle hatte zwar immer ein paar mehr oder minder derbe Sprüche auf Lager, aber so hatte Kevin seinen Freund noch nie fluchen gehört.„Mensch, in meinem Alter kriege ich doch keinen neuen Job mehr...“ jammerte Molle. Kevin stand da wie vom Blitz erschlagen. „Oh Mann...“ mehr wusste er in diesem Augenblick auch nicht zu sagen. Molle schielte zu Kevin: „Eddy, was hast du mir vorhin gegeben?“ Kevin nannte den Namen der Arznei. „Es ist ein starkes Beruhigungsmittel“ fügte er erklärend hinzu. Molle kniff die Augen zusammen: „Ich hab es doch gewusst - du bist Arzt. Nur Ärzte haben diese Ausrüstung!“ Kevin schüttelte den Kopf: „Auch angehende Ärzte, die kurz vor dem Examen stehen, haben meistens schon ihre eigenen Geräte. Du weißt doch, dass ich Arzt werden wollte. Diese Tasche ist seit Jahren mein Eigentum.“ „Die Medikamente müssen doch schon längst abgelaufen sein!“ kam es entsetzt von Molle. „Nein, da kann ich dich beruhigen. Die Präparate bekomme ich von meinem Schwager für meine Experimente. Es sind alles unverkäufliche Muster - Probepackungen sozusagen.“ Molle war erleichtert: „Eddy, ich lasse mich nur noch von dir behandeln.“ Erschrocken sah Kevin seinen Freund an: „Um Himmels Willen - Nein! Du musst mir versprechen keinem Menschen etwas von dieser Sache zu erzählen. Wenn das herauskommt gehe ich in den Knast. Nur promovierte Ärzte dürfen diese Spritzen setzen, aber ich konnte dich doch nicht abkratzen lassen.“ „Eddy, reg dich ab. Ich halte die Klappe. Versprochen! Aber im Notfall hilfst du mir doch wieder?“ hakte Molle nach. „Ich hoffe, es gibt nie wieder einen Notfall“ entgegnete Kevin. Er wunderte sich selber, wie leicht die Lügen über seine Lippen kamen. Molle glaubte Kevin: „Wenn du Arzt geworden wärst, also ich wäre dein Patient. Dir vertraue ich.“ Kevin versuchte zu lächeln, aber es sah mehr wie eine Fratze aus.

Der Alltagstrott hatte Kevin eingeholt. Eines Tages fand er eine Benachrichtigung in seinem Postfach. Die Jahrespacht war fällig und noch einmal fast die gleiche Summe für Strom. Kevin schluckte. Er rechnete: DM 1.300,- Platzmiete (sie war um DM 100,- erhöht worden), DM 1.100,- für Strom und auf einen Monat umgerechnet ca. DM 200,- für Gas. Das ergab eine monatliche Belastung von DM 400,- warm. Ein möbliertes Zimmer bekam er für diesen Preis nirgendwo. Kevin musste also weiter auf dem Campingplatz leben, denn sein Kapital war auf schlappe DM 35.000,- zusammengeschrumpft. Etwa DM 800,00 brauchte er im Monat zum Leben. Ein ganzes Jahr war er nun schon hier. Er lebte sehr bescheiden, ernährte sich gesund, rauchte nicht und trank selten Alkohol. Kevin wusste, falls er krank werden sollte, die Medikamente musste er aus seiner eigenen Tasche bezahlen, denn er war nicht krankenversichert.

Dann passierte es doch: Kevin war im folgenden Winter wieder mit den Berbern zusammen und handelte sich eine handfeste Bronchitis ein. Seine eigenen Medikamente waren jetzt abgelaufen. Zwar konnte er sich selber Rezepte ausstellen, aber bezahlen musste er die Medizin aus eigener Tasche. Diese schlugen mit einer für Kevin großen Summe zu Buche. Er brauchte dringend einen Job, sonst würde er in 2, 3 Jahren genau wie Paul und die anderen auf der Platte sein. Aber egal, wo Kevin sich auch vorstellte, er bekam nichts.

Wieder war es ein regnerischer Wintertag und Kevin hing missmutig bei den Berbern herum. Er frönte seiner Lieblingsbeschäftigung: Leute beobachten. Plötzlich vernahm er einen ihm vertrauten Geruch. Kevin blickte zur Seite. Er hatte das Gefühl zu träumen oder Geister zu sehen: Nur 2 Schritte von ihm entfernt standen Anette und Christian. Sie wirkten sehr vertraut. Kevin hörte Christian sagen: „Ach, ich bin ja schon so aufgeregt.“ Anette streichelte ihm übers Haar: „Ich weiß, dass du das Richtige tust.“ Dann gingen die beiden weiter ohne Kevin zu bemerken. Er ballte die Fäuste. Offensichtlich waren die beiden ein Paar. Der Weg zurück nach Hause schien Kevin nun endgültig versperrt. Er ahnte es nicht mal ansatzweise, dass sein Freund Christian bald heiraten wollte und er Anette nur mitgenommen hatte, weil sie ihm bei der Auswahl seiner Garderobe behilflich sein sollte. Christian wusste, dass Anette einen sehr guten Geschmack besaß. Frustriert ging Kevin in das nächste Kaufhaus und kaufte sich eine Flasche Weinbrand... Deprimiert, wie schon so oft in der letzten Zeit, trank er die Flasche leer. Ein paar Stunden später bekam er Magenkrämpfe. Kevin war schon alles egal. Er wollte einen Notarzt anrufen, aber sein Handy war kaputt - nichts ging mehr. Er warf es einfach fort: „Was soll´s? Wenn ich krepiere, bin ich eben weg...“

Am nächsten Tag ging es Kevin schon wieder etwas besser. Er ließ die vergangene Zeit noch einmal in Gedanken Revue passieren - es war immer dasselbe. Gelegentlich sehnte er sich zwar nach einer Frau, mit der er die Nacht verbringen konnte, aber privat kannte er - außer den Frauen von der Platte - keine. Doch die hätte er nicht mal im Traum angefasst. Ein einziges Mal nur ging er in Hamburg über den Kiez, aber die Nutten kosteten ihm zu viel Geld. So ließ er es bleiben und unterdrückte sein Verlangen - und die Zeitabstände dazwischen wurden immer länger. Ins Kino oder Gaststätten ging Kevin ebenfalls nicht. Er rechnete mit jedem Pfennig. Den einzigen Luxus, den er sich ganz selten mal gönnte, war ein kleines Glas Bier in der preiswerten Camping-Bar und da saßen allenfalls mal 2, 3 ältere Witwen bei einer Tasse Kaffee und Kuchen... Die meiste Zeit verbrachte Kevin vor seinem Computer. Morgens las er ausgiebig die Zeitung, 2 mal die Woche ging er einkaufen, außerdem putzte er seinen Wohnwagen, hatte alle 14 Tage seinen Waschtag und pflegte seinen Garten. Abends sah er fern. Täglich trieb er eine Stunde Sport um körperlich fit zu bleiben. Nur in den Sommermonaten, wenn Molle an den Wochenenden auf dem Platz war, lebte Kevin so richtig auf. In den Wintermonaten fand man ihn immer häufiger bei den Berbern.

Nach weiteren 2 Jahren waren Kevins Finanzen fast aufgebraucht. Er verkaufte sein Auto. So war sichergestellt, dass er zumindest noch ein Jahr die Platzmiete aufbringen konnte. Es wurde wieder Winter und Kevin trug noch immer den alten abgewetzten Parka den er sich vor 5 Jahren gekauft hatte. Seit 1 ½ Monaten war Kevin nicht mehr in der Stadt gewesen, aber immer nur alleine sein - Kevin hielt es nicht mehr aus. Er schlenderte wie immer an den Schaufenstern vorbei, als er eine weibliche Stimme vernahm: „Kevin! Kevin, du alter Ausreißer! Bleib stehen!“ Wie angewurzelt blieb Kevin stehen. Im Zeitlupentempo sah er sich um. Eine blonde junge Frau, die ihn gar nicht beachtete, lief mit schnellen Schritten zu einem kleinen Jungen: „Kevin, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht immer weglaufen sollst...“ Sahra ist auch so etwa in dem gleichen Alter wie dieser Junge - schoss es Kevin durch den Kopf. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, seine Tochter jemals wiederzusehen. Gedankenverloren setzte er seinen Weg fort. Ohne zu wissen wo er sich jetzt befand lehnte er sich an ein Geländer. Er stand mitten auf einer Brücke. Geistesabwesend starrte er in die Tiefe. Tränen liefen über sein Gesicht. Was hatte er vom Leben gehabt? Nichts - nur das Lächeln von Sahra und das würde er nie wieder sehen... Ein Schritt nach vorne und alles ist vorbei, die Brücke ist hoch genug, vielleicht nur noch ein kurzer Schmerz - fuhr es Kevin durch den Kopf. Niemand würde ihn vermissen, außer vielleicht Molle. Er hob das Bein um über die Brüstung zu steigen, da hörte er hinter sich Bremsen quietschen und Blech scheppern. Kevin zuckte zusammen. Ohne Rücksicht auf sich selbst zu nehmen rannte er zu der Unglücksstelle.

Ein Auto war frontal gegen einen unglücklich geparkten Container-Anhänger gefahren. Benzin lief aus, der Wagen fing Feuer. Die Türen waren verklemmt und ließen sich nicht öffnen. Kevin schlug mit einem harten Gegenstand, der auf der Strasse lag, geistesgegenwärtig die Scheibe ein. Eine Frau saß am Steuer. Das Gesicht war total entstellt. Sie war offensichtlich tot. Hinter ihr saß ein kleines Mädchen. Es war zwar besinnungslos, aber es atmete noch schwach. Aus einer klaffenden Wunde am Hals quoll Blut hervor. Mit letzter Kraft zog Kevin das Kind aus dem schon lichterloh brennenden Auto. Das er sich dabei selbst verletzte bemerkte er nicht. In letzter Sekunde konnte Kevin sich selbst und auch das kleine Mädchen in Sicherheit bringen. Fest presste er den Finger auf die Halswunde des Kindes um so die Blutung zu unterdrücken. Eine ältere Frau, die hinter dem verunfallten Wagen hergefahren war und sich als Zeugin zur Verfügung hielt, hatte über ihr Auto-Telefon die Rettungskräfte alarmiert. Aus der Ferne hörte Kevin die Martinshörner heulen. Mit quietschenden Rädern hielt ein Notarztwagen neben den beiden an. Kevin vernahm einen dumpfen Knall, wie bei einer Explosion. Sanitäter sprangen aus dem Fahrzeug. „Rettet das Kind! Eine Frau ist noch im Auto“ keuchte Kevin bevor er ohnmächtig zusammenbrach.

Erst in der Notaufnahme kam Kevin wieder zur Besinnung. „Hallo! Hallo aufwachen! Können Sie mich hören?“ Wie durch einen Wattebausch hindurch vernahm Kevin eine männliche Stimme. Er öffnete die Augen und nickte leicht mit dem Kopf. Sein Blick war verschwommen. Wieder vernahm er diese Stimme: „Wissen Sie wie Sie heißen?“ Kevin schloss noch einmal kurz die Augen um sie sogleich neu zu öffnen. Das half. Sein Blick wurde klarer. Er sah sich um. Er kannte diesen Raum - er wusste wo er war: In der Klinik von Professor Dr. Albert Maurus! Kevin stöhnte auf. „Haben Sie Schmerzen?“ hörte er wieder diese Stimme aus dem Hintergrund. „Nein. Die Frau, das Kind - was ist mit ihnen geschehen?“ Eine weitere Person betrat die Kabine. „Haben Sie schon die Personalien von.... Aber das ist doch nicht möglich?! Doch! Sie sind es ja wirklich, Dr. von Borgholm.“ hörte Kevin eine weibliche Stimme aus der Nähe. Die männliche Stimme meldete sich wieder zu Wort: „Sie kennen den Herrn?“ „Er war hier eine Zeit lang als Chef-Chirurg auf Station 25 tätig. Die Unterlagen sind noch alle hier.“ hörte Kevin die Schwester antworten. Erst da sah er ihr Gesicht: „Schwester Jutta?“ „Oberschwester, seit 2 Jahren. Haben Sie Schmerzen?“ erkundigte sie sich bei Kevin. „Nicht der Rede wert. Was ist mit dem Kind und der Frau?“ wiederholte er seine Frage. „Die Frau ist tot, das Kind hat viel Blut verloren und scheinbar einen Lungenriss. Wir müssen umgehend operieren und sehen, dass wir genügend Plasma und Konserven auftreiben. Die Blutgruppe ist sehr selten.“ „Welche Gruppe?“ fragte Kevin in alter Gewohnheit. Oberschwester Jutta wiegte den Kopf: „AB negativ. Normalerweise darf ich Ihnen das alles gar nicht ...“ Weiter kam sie nicht. „Ich bin auch AB negativ. Testet sofort mein Blut. Ruft umgehend im Labor an“ krächzte Kevin. Er hustete. Oberschwester Jutta krempelte Kevin den Ärmel hoch: „Sie haben eine leichte Rauchvergiftung und ein paar Schnittwunden.“

Die Blutuntersuchung ergab, dass Kevins Blut mit dem des kleinen Mädchens 100%ig übereinstimmte. „Ich bin mit einer Direktübertragung einverstanden. Sind die Angehörigen schon informiert?“ Oberschwester Jutta zuckte mit den Schultern: „Ich denke schon. Das macht die Aufnahme und die Polizei.“ Bei dem Wort Polizei zuckte Kevin unmerklich zusammen. „Ich möchte Sie bitten dafür zu sorgen, dass meine Frau nichts davon erfährt. Wir leben seit ein paar Jahren getrennt.“ „Ich werde gleich die Aufnahme unterrichten“ hörte Kevin die Oberschwester sagen. Sie verschwand aus der Kabine. Auf direktem Weg begab sie sich in die Anmeldung. Die Polizei war schon eingetroffen. „Der PKW wird als Leihwagen einer Werkstatt eingesetzt. Gemietet wurde er von einer Ärztin. Sie heißt Anette von Borgholm. Der Ehemann und Vater des Kindes gilt als vermisst. Wir haben nur die Mutter von Frau von Borgholm angetroffen. Es ist davon auszugehen, dass das verletzte Kind die Tochter Sahra von Frau von Borgholm ist. Die Mutter der toten Ärztin heißt Maren Krutzke. Sie wird jeden Augenblick hier eintreffen um ihr Enkelkind zu identifizieren.“ hörte Oberschwester Jutta den Kommissar sagen. Sie sah den Beamten entsetzt an:„Nein, oh bitte, nein! Das ist nicht wahr!“ Sie war kreidebleich. „Wissen Sie näheres?“ fragte der Polizist. Oberschwester Jutta nickte und senkte den Kopf: „Der Vater, wenn es denn der Vater ist, heißt Dr. Kevin von Borgholm. Er ist zur Zeit ein Patient von uns und hat das Kind aus dem Auto gerettet. Jetzt befindet er sich hier und spendet Blut für das Mädchen. Er weiß aber scheinbar nicht, dass es sich um seine Tochter handelt. Er und seine Frau leben seit einigen Jahren voneinander getrennt.“ „Woher wissen Sie das alles?“ der Polizist war erstaunt. „Dr. von Borgholm hat bis vor einigen Jahren hier in der Klinik als Chef-Chirurg gearbeitet. Daher kenne ich ihn. Er hat mir vorhin selbst erzählt, dass er sich vor ein paar Jahren von seiner Frau getrennt hat.“ kam die Antwort von Oberschwester Jutta. Die Tür wurde geöffnet und eine schluchzende Dame kam langsam zur Anmeldung. „Ich heiße Maren Krutzke. Meine Enkeltochter soll hier eingeliefert worden sein. Sie heißt Sahra von Borgholm und ist 5 Jahre alt. Es soll ein Auto-Unfall gewesen sein. Bitte, ich möchte zu ihr. Wie geht es ihr? Wo ist sie?“ Maren Krutzke war völlig aufgelöst. „Der tragische Tod Ihrer Tochter tut uns allen leid. Ihrer Enkelin wird geholfen. Wir tun hier alles für sie, was in unserer Macht steht. Der Vater des Kindes ist hier. Er spendet gerade Blut für seine Tochter. Er hat sie zum Glück in allerletzter Sekunde aus dem brennenden Wagen retten können.“ versuchte Oberschwester Jutta Maren zu trösten. „Kevin? Kevin ist hier? Nein, das ist unmöglich - Sie müssen sich irren. Mein Schwiegersohn gilt schon seit 5 Jahren als vermisst“ stammelte Maren. Oberschwester Jutta legte den Arm um Marens Schulter: „Kommen Sie mit. Ich bringe sie zu ihrer Enkelin und ihrem Schwiegersohn.“ Gebrochen und willenlos folgte Maren der Oberschwester.

Zur gleichen Zeit lagen Kevin und Sahra mit Schläuchen verbunden - aus dem Kevins Blut in den Körper seiner Tochter floss - nebeneinander. Kevin hatte keine Ahnung wer das kleine Mädchen war, dem er da gerade zum 2. mal das Leben rettete. Er betete nur, dass die Kleine am Leben bleiben möge. Man hatte Sahra in ein künstliches Koma gelegt, so konnte Kevin sich nicht mit ihr unterhalten. Er blickte an die Decke. Auf eine für Kevin unerklärliche Art und Weise fühlte er sich dem Kind gegenüber verantwortlich und verbunden: „Kleines hübsches blondes Mädchen, ich weiß nicht wie du heißt und wer du bist. Aber eines, das weiß ich genau: Du wirst gesund werden - du musst einfach gesund werden. Ich werde alles tun um dein junges Leben zu retten. Ich habe auch eine kleine Tochter. Sie heißt Sahra und ist ungefähr so alt wie du. Ich habe mein kleines Mädchen sehr lieb und hoffe, dass es ihr gut geht. Hoffentlich kommt sie nie in die gleiche Situation wie die, in der du dich gerade befindest. Armes Mädchen, du tust mir so leid.“

Durch eine Glasscheibe getrennt sah Maren auf einem Bett liegend Sahra. Der Mann auf dem Bett nebenan sollte wirklich Kevin sein? „Kevin hat nie einen Bart getragen. So erkenne ich ihn nicht. Aber das Mädchen - das ist Sahra.“ flüsterte Maren. Sahra wurde aus dem Raum in den OP geschoben. Sie musste sofort operiert werden. „Ich brauche noch die Einwilligungs-Erklärung. Da der Vater anwesend ist muss er sie unterschreiben.“ hörte Maren die Oberschwester sagen. Maren betrat das Zimmer, in dem Kevin noch lag: „Kevin?“ Maren war noch immer unsicher. „Maren?! Was machst du denn hier?“ kam es verblüfft von Kevin. Erst jetzt erkannte Maren ihren Schwiegersohn. Sie fing wieder an zu weinen. „Maren hör auf zu heulen. Was willst du hier? Woher weißt du, dass ich hier bin? Bitte gehe wieder. Ich werde nicht zu Anette und dir zurückkommen.“ Kevin war fix-und-fertig. Maren schluchzte laut auf: „Anette ist tot! Tot - tot - tot! Sie hat den Unfall nicht überlebt. Wenn du Sahra nicht aus dem Wagen geholt hättest, wäre sie jetzt auch nicht mehr am Leben.“ „Waas?! Nein... Anette ist tot? Ich... Sahra... Das Mädchen ist Sahra? Meine Sahra?“ stammelte Kevin zusammenhanglos. „Neiiin!“ Er schrie laut auf. Ein Weinkrampf schüttelte ihn. Eine Krankenschwester eilte ins Zimmer und drückte den Notknopf. Kurz darauf erschien ein Arzt, der Kevin ein starkes Beruhigungsmittel verabreichte. Eine weitere Schwester führte Maren Krutzke aus dem Zimmer. „Möchten Sie auch etwas zur Beruhigung haben?“ Maren nickte nur mit dem Kopf. Ein weiterer Arzt betrat den Raum von Kevin: „Herr von Borgholm, Ihre Tochter ist bereits im OP. Sie haben die Einwilligung für den Eingriff noch nicht unterschrieben.“ Er reichte Kevin das Papier und einen Stift. Kevin unterzeichnete: „Ich will dabei sein. Ich werde nur zusehen.“ „Das geht nicht, Eltern dürfen nicht mit in den OP.“ erwiderte der andere Arzt. „Doch, das geht. Ich bin selbst Chirurg, den Job habe ich jahrelang gemacht, sogar in dieser Klinik. Ich will bei meiner Tochter sein.“ Der andere Arzt, den Kevin nicht kannte, legte die Stirn ungläubig in Falten: „Sie sind Chirurg?“ „Fragen Sie Oberschwester Jutta oder Albert Maurus. Die können das bestätigen.“ Albert Maurus war das Schlüsselwort. „Kommen Sie, Ihre Tochter liegt wahrscheinlich schon in Narkose...“ Nachdem Kevin sich desinfiziert hatte betrat er kurz nach dem schon operierenden Team ebenfalls den OP. Er überwachte den Eingriff mir Argusaugen, er lief reibungslos ab und es waren keine weiteren Folgeschäden zu befürchten. Kevin war erleichtert. Er begleitete seine Tochter in den Aufwachraum. Doch was sollte er ihr sagen, wenn sie nach ihrer Mutter verlangte? Er hatte Skrupel ihr die Wahrheit zu sagen, aber sie musste sie erfahren. Doch wie würde Sahra reagieren? Maren musste ihm helfen.

Sahra schlief. Kevin ging zurück auf den Flur und begab sich in den öffentlichen Aufenthaltsraum. Er war leer. Schmerzlich wurde Kevin bewusst, dass sein eigenes Kind ihm fremd war und er selber war Sahra fremd! „Anette“ Kevin flüsterte den Namen seiner Frau „Ich liebe dich doch immer noch... Warum hast du Sahra und mich verlassen? Wieso musste das passieren? Du kannst es nicht wissen, aber du hast mein Leben gerettet und deins dafür verloren. Aber was wird jetzt aus Sahra?“ Kevin ging ans Fenster und blickte stumm hinaus.

„Herr Doktor von Borgholm?“ Kevin drehte sich herum „Ja?“ Blitzlichter flackerten auf. Die Presse war vor Ort. „Gehen Sie, bitte gehen Sie! Ich habe Ihnen nichts zu sagen.“ Kevin hustete und hob abwehrend die Hände vor sein Gesicht. Er flüchtete ins Ärztezimmer. Da war er erfahrungsgemäß sicher. „Bringt meine Schwiegermutter in Sicherheit vor den Presse-Haien“ kam es hilfesuchend von Kevin, als er Oberschwester Jutta sah. „Ist schon geschehen. Wir haben sie kurzfristig in Zimmer 412 untergebracht. Schwester Antonia ist bei ihr.“ hörte er die erlösende Nachricht. „Guten Tag Kevin. So sieht man sich also wieder.“ Kevin blieb die Luft weg. Er drehte sich um und sah in das Gesicht von Professor Dr. Albert Maurus. „Guten Tag, Herr Professor.“ mehr wusste Kevin nicht zu sagen. „Wo in aller Welt haben Sie gesteckt? Sie werden überall gesucht. Selbst Interpol ist eingeschaltet.“ Albert Maurus schüttelte verständnislos den Kopf. Kevin ging nicht auf die Fragen ein: „Jetzt bin ich hier - das langt.“ gab er lakonisch Antwort. Die Tür wurde erneut geöffnet und eine Kevin unbekannte Schwester kam herein: „Die Reporter haben das Haus verlassen und die kleine Sahra ist aufgewacht. Wir können sie jetzt auf ihre Station bringen.“ Kevins Lippen bebten: „Ich will zu ihr. Wie geht es ihr?“ „Den Umständen entsprechend gut“ kam der Standartsatz der Schwester. „Vielleicht ist es besser, wenn die kleine Patientin erst einmal ein ihr vertrautes Gesicht sieht. Dr. von Borgholm, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber Ihre Tochter kennt Sie doch gar nicht. Diesen Schock wird sie jetzt noch nicht verkraften.“ warf Oberschwester Jutta voller Bedenken ein. Daran hatte Kevin in diesem Augenblick gar nicht gedacht. „Gut, ja, dann muss Maren zu ihr gehen. Aber weisen Sie meine Schwiegermutter darauf hin, dass sie nichts Unüberlegtes sagt.“ Albert Maurus erhob sich: „Ich werde die ganze Angelegenheit selbst überwachen. Kevin, machen Sie sich keine Sorgen. Sie bleiben erst einmal eine Nacht zur Beobachtung hier. Morgen sehen wir weiter.“

Als Kevin am nächsten Tag die Zeitung las traf ihn fast der Schlag. Ganz groß auf der Titelseite war ein Foto von ihm. Daneben stand in großen Buchstaben „Verschollen geglaubter Arzt rettet seine Tochter“ und nur wenig kleiner darunter: „Er wusste nicht wer sie war“. Es folgte ein Unfallbericht. Ihren eigenen Wagen hatte Anette zur Inspektion gegeben. Der Wagen, in dem Anette zu Tode kam, war ein Leihfahrzeug mit Gangschaltung. Bremsen und Lenkung waren nicht ganz in Ordnung und den Wagen hatte man Anette nur irrtümlich ausgehändigt. Die Staatsanwaltschaft hatte sich bereits eingeschaltet. Kevin explodierte fast vor Zorn und Trauer als er das las. Die Tür wurde geöffnet und 2 Polizisten betraten Kevins Krankenzimmer. Sie wollten von ihm wissen, wo er sich in den letzten 5 Jahren aufgehalten hatte, aber Kevin schwieg und verriet nichts. Stattdessen erstattete er im Gegenzug Anzeige gegen die Auto-Werkstatt. Aber das machte Anette auch nicht wieder lebendig.

Nicht nur Kevin las die Zeitung - auch Molle. Erst glaubte er sich verlesen zu haben, aber das Foto von Kevin brachte ihn auf den Boden der Tatsache zurück. Er quiekte und grunzte wie ein Ferkel: „Eddy, du alter Tiefstapler! Ich wusste doch gleich, dass du Arzt bist. Na warte, wenn ich dich zwischen die Finger kriege!“ „Der Eddy hat die Kurve wieder nach oben gekriegt. Der hatte Glück...“ berichtete Berber Paul zur gleichen Zeit seinen anderen Leidensgefährten das Ereignis.

Kevin quälten ganz andere Sorgen. Betroffen blickte er auf seine zerschlissene Kleidung. Sollte ihn etwa seine Tochter in diesem Aufzug kennenlernen? Er ging ins Ärztezimmer und erkundigte sich nach Oberschwester Jutta. Sie konnte ihm sicher weiterhelfen - aber die Schwester hatte dienstfrei. Kevin überlegte fieberhaft, was er anziehen könnte. Er sah in den Spiegel und erschrak vor sich selbst. Sein Bart war an einigen Stellen angesengt - er sah zum Fürchten aus. Ein Arzt betrat das Zimmer: „He, was machen Sie hier? Sie haben hier nichts zu suchen - verschwinden Sie.“ „Mein Name ist Kevin von Borgholm. Ich bin auf der Suche nach anderen Klamotten. Mit diesen Lumpen kann ich meiner Tochter unmöglich unter die Augen treten“ stellte Kevin sich vor. Der andere Arzt musterte Kevin von oben bis unten: „Sie sind das? Warten Sie, ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Ach übrigens, mein Name ist Schmitt, Rainer Schmitt. Ich bin hier auf dieser Station der Oberarzt. Mein Dienst beginnt in 10 Minuten.“ Er verließ den Raum und kehrte kurze Zeit später mit der erbetenen Kleidung zurück. Kevin sah noch einmal in den Spiegel - der Bart musste weg, ganz ab. Er wechselte die Kleidung. Danach ging er ins Erdgeschoss und suchte dort den Frisör auf. Jetzt sah er ganz anders aus. Dr. Schmitt erkannte Kevin fast nicht wieder, als er erneut vor ihm stand. Auch Maren Krutzke erkannte ihren Schwiegersohn erst auf den 2. Blick: „Jetzt siehst du fast wieder so aus wie damals.“ Die beiden gingen in die Cafeteria. „Maren, du warst doch gestern schon bei Sahra. Was weiß sie und wie hat sie reagiert?“ Kevin war nervös. „Es war noch eine Psychologin dabei. Sahra weiß zwar, dass Anette nicht mehr lebt, aber sie begreift den Sinn noch nicht. Sie ist einfach noch zu jung. Das einzige, was sie begriffen hat ist, dass ihre Mutti jetzt ein Engel ist und das jedes mal, wenn sie den Wind im Gesicht spürt, Anette sie streichelt. Jeder Regentropfen auf ihrer Haut ist ein Kuss von ihrer Mutti...“ Maren versagte die Stimme. Auch Kevin schluckte trocken. „Weiß sie, dass ich hier bin und sie heute besuche?“ Maren wischte sich die Tränen ab: „Ja, die Psychologin hat sie darauf vorbereitet. Anette und ich haben Sahra immer erzählt, dass du ganz weit weg in einem anderen Land bist und da die Menschen wieder gesund machst, so wie Anette hier. Sahra freut sich schon, dich endlich kennen zu lernen. Kevin, diese Psychologin ist sehr einfühlsam. Sie kann gut mit Sahra umgehen und sie kennt die ganze Wahrheit. Soll sie heute noch einmal dabei sein?“ Eigentlich hatte Kevin vor seiner Tochter alleine gegenüberzutreten. „Du sagtest eben, dass Sahra sich darauf freut mich kennen zu lernen. Glaubst du nicht auch, dass da eine weitere Person nur stören würde? Du kannst am Anfang gerne dabei sein und uns einander vorstellen, dann aber möchte ich mit meiner Tochter alleine sein.“ Maren respektierte diesen Wunsch.

„Dr. von Borgholm?“ eine junge Krankenschwester kam lächelnd und mit schnellen Schritten auf Kevin zu: „Sind Sie Dr. von Borgholm?“ Kevin bejahte die Frage. „Auf Station 19 liegt eine junge Dame die Sie erwartet .“ Kevin sprang auf: „Ich komme, ich bin schon unterwegs! Maren, komm, beeil dich.“ Sein Herz klopfte bis zum Hals. Maren hatte Mühe Kevin zu folgen.

Die Schwester war vorangegangen und öffnete die Tür zu dem Zimmer, worin die kleine Sahra ganz alleine lag. Zuerst betrat Kevin den Raum, unmittelbar danach Maren. „Oma!“ Sahra hing am Tropf. Maren trat zusammen mit Kevin an ihr Bett: „Sahra, das hier ist dein Papa.” Sahra musterte Kevin mit großen Augen. „Hallo Sahra, ich bin dein Papa. Ich bin ja so froh, dass es dir wieder besser geht. Hast du Schmerzen? Tut dir was weh?“ Er streichelte Sahra über das blasse Gesicht. „Mir tut der Hals weh und da unten bei der Brust tut es auch weh und das Ding mit der Flasche will ich auch nicht haben. Ich habe eine Nadel im Arm. Kannst du die rausmachen?“ Kevin drückte leicht die Hand seiner Tochter: „Das Ding mit der Flasche macht dich wieder ganz gesund. Durch die Nadel, die in deinem Arm steckt, kommt die Medizin in deinen Körper. Wenn ich die Nadel jetzt rausmache, bleibst du noch ganz, ganz lange krank. Das willst du doch nicht - oder doch?“ Sahra schüttelte den Kopf: „Mama hat mich auch schon mal mit einer Nadel gepiekst. Da hat sie mir eine Spritze gegeben.“ Kevin lächelte: „Dieses hier ist so ähnlich. Eine Spritze ist ganz klein. Da kommt die Medizin ganz schnell in deinen Körper. Schau mal, die Flasche, die da hängt, ist ganz groß. Darum braucht die Medizin auch viel länger um in deinen Körper zu kommen und um dich wieder ganz gesund zu machen.“ Maren Krutzke ging zur Tür. „Oma! Geh´ nicht weg. Lass mich mit dem Papa da nicht alleine...“ Kevin hatte das Gefühl, als ob er einen Faustschlag ins Gesicht bekommen hatte. Woher sollte seine Tochter wissen was ein Vater war? Christian! Logisch! Wahrscheinlich sah sie ihn als Vater an. Bevor Kevin etwas sagen konnte ergriff Maren das Wort und fing an Sahra aufzuklären: „Sahra, deine Freundin Janina hat doch auch einen Papa. Der spielt mit ihr und manchmal schimpft er auch mit ihr. Aber er hat Janina immer ganz lieb. Das weißt du doch.“ Sahra blickte ihre Oma nachdenklich an: „Und der Papa da drüben, hat der Janina auch lieb?“ „Er kennt Janina doch gar nicht. Er kennt nur dich. Zuletzt hat er dich gesehen, als du noch ein ganz kleines Baby warst. Er hat dich genau so lieb wie Janinas Papa deine Freundin Janina.“ Sahra sah Kevin fragend an: „Stimmt das?“ Kevin lächelte: „Ich habe dich noch viel, viel lieber. Sobald du wieder gesund bist und nach Hause darfst, kannst du dir etwas ganz Schönes von mir wünschen.“ Sahras Augen strahlten: „Ich wünsche mir, dass die Mama zu Hause auf mich wartet.“ Kevins Miene verfinsterte sich: „Die Mama ist doch ein Engel. Sie ist schon hier bei dir. Du kannst sie zwar nicht richtig sehen, aber wenn du die Augen schließt merkst du, dass sie immer in deiner Nähe ist.“ Sahras Augen füllten sich mit Tränen: „Kann ich sie nie wieder so richtig mit meinen Augen sehen?“ Kevin schüttelte den Kopf: „Nein, das kann keiner von uns mehr. Wir können die Mutti nur noch auf Fotos oder in unserer Erinnerung sehen.“ Erstaunt sah Sahra, dass auch Kevin Tränen über das Gesicht liefen: „Du weinst ja auch. Kennst du meine Mama?“ Unter Tränen nickte Kevin mit dem Kopf: „Ich kenne deine Mama schon ganz lange und sehr gut. So lange, wie ich die Mama kenne, habe ich sie lieb und ich werde sie auch weiterhin ganz lieb haben - immer, genau so wie dich.“ Sahra griff nach Kevins Hand. Ganz leise hörte er seine Tochter sagen: „Papa, ich glaube, ich habe dich auch lieb.“ Kevin hätte am liebsten vor Glück laut aufgejubelt, aber stattdessen küsste er seine Tochter nur ganz zart auf die Stirn. Sahra empfand diese Liebkosung als angenehm. Sie wurde langsam müde: „Wann darf ich nach Hause?“ „Bald, mein Schatz, bald.“ flüsterte Kevin. Zärtlich streichelte er ihren Arm. Dann sah er, dass Sahra schlief. Gemeinsam mit Maren verließ er das Zimmer.

„Kevin, ich muss mit dir reden“ Maren stand mit hängenden Schultern neben ihrem Schwiegersohn: „Anette und ich wir haben einen großen Fehler begangen. Wir haben dich unbewusst vertrieben, weil wir nur mit uns und Sahra beschäftigt waren. Das ist uns erst zum Bewusstsein gekommen, nachdem du fortgegangen warst. Anette hat ihr Verhalten dir gegenüber wirklich ehrlich bereut - genau wie ich.“ „Ihr habt mich wie den letzten Dreck behandelt.“ kam es bitter von Kevin. Maren liefen schon wieder die Tränen über das Gesicht. „Ja, ich weiß. Bitte verzeih uns. Tu es Sahra zu Liebe.“ „Lass Sahra aus dem Spiel. Sie hat nichts damit zu tun. Das ist eine Sache zwischen dir, mir und Anette.“ Kevin wurde zornig. „Anette hat dich geliebt. Immer. Sie hat sich große Vorwürfe gemacht und bis zum letzten Tag gehofft, dass du zu ihr und Sahra zurückkommst.“ „Ach ja?“ kam es höhnisch von Kevin „Sie hat doch einen guten Freund - Christian Ewel.“ Maren verstand Kevins Andeutung nicht. „Ja, sie sind befreundet. Christian und seine Frau sind gelegentlich mit Anette...“ weiter kam sie nicht, denn Kevin hatte Maren an den Schultern gepackt: „Was sagst du da? Christian ist verheiratet? Seit wann?“ „Etwa 2 oder 3 Jahre ist das nun wohl schon her, so genau weiß ich das nicht.“ gab Maren Antwort. Kevin stöhnte leise auf: Er hatte Anette und Christian zu Unrecht verdächtigt... „Maren, was ist aus meiner Praxis geworden?“ „Sie steht leer. Die Geräte sind zwar noch alle vorhanden, aber Anette hat das Geld für einen Chirurgen gefehlt, der deinen Job hätte übernehmen können. Deine Mitarbeiter hat sie nach 6 Wochen alle entlassen. Es gab keine Probleme, denn sie waren ja noch in der Probezeit. Mein Gott, die Praxis! Was wird denn jetzt aus Anettes Praxis?“ Maren war mit den Nerven am Ende. Hilflos blickte sie Kevin an. „Meinen Bereich könnte ich wieder übernehmen und ihr Personal dazu. Die Praxis selbst kann vermietet oder verpachtet werden. Ich weiß aber nicht, ob ich dazu berechtigt bin, denn ich bin... war ja nur bei Anette angestellt.“ Maren schüttelte den Kopf: „Die Genehmigung, dass du die Praxis eigenständig leiten kannst, liegt schon lange vor. Anette hat die Bestätigung in den Safe gelegt - zusammen mit der Police ihrer Lebensversicherung. Sie hat sie kürzlich noch einmal kräftig erhöht - als ob sie es geahnt hätte...“

Kevin überlegte - er wollte jetzt keinen Fehler machen: „Maren, hast du mal etwas Kleingeld, ich muss ganz dringend mal telefonieren.“ Maren gab ihm ein paar Münzen. Kevin verschwand. Er wählte die Nummer vom Campingplatz: „Hier ist Eddy, Edwin van Beckholt, Platz Nr. 28. Ich habe eben meinen Wohnwagen verkauft. Der neue Besitzer heißt Kevin von Borgholm und wird den neuen Pachtvertrag heute oder morgen unterschreiben.“ Noch bevor die Dame am anderen Ende der Leitung etwas erwidern konnte, legte Kevin den Hörer auf. Seitdem vor 2 Jahren die Senior-Chefin verstorben war, saßen an der Anmeldung immer wieder neue Aushilfen. Kevin hoffte, dass die Ummeldung reibungslos ablaufen würde.

„Maren, ich fahre jetzt nach Hause und ziehe mich um. Dann komme ich noch einmal her und sehe nach Sahra.“ „In welchem Hotel bist du eigentlich abgestiegen?“ wollte Maren wissen. Kevin schüttelte den Kopf: „Ich wohne in keinem Hotel, ich wohne privat.“ Misstrauisch beäugte Maren ihren Schwiegersohn: „Bei einer Frau?“ Kevin ging Marens Neugier auf den Geist: „Ich wohne alleine, ganz alleine. Und jetzt hörst du bitte damit auf mich auszufragen.“ Er drehte sich um und ging zurück ins Ärztezimmer. Zielstrebig steuerte er die Garderobe an, nahm seine Jacke mit dem Portemonnaie und rief sich ein Taxi, mit dem er zum Campingplatz fuhr.

Sein erster Gang führte zur Anmeldung. Erwartungsgemäß lief die Ummeldung problemlos ab. Anschließend schlenderte er zu seinem Wohnwagen und zog sich um. Er wählte einen seiner guten Anzüge aus, den er schon seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Der Stoff war zwar noch gut, aber vom langen Liegen war er leicht verknittert. Noch viel schlimmer hingegen empfand es Kevin, dass er etwas zu weit geworden war. Er nahm eine Tasche, legte die ausgeliehene Kleidung dort hinein und fuhr zurück in die Klinik.

Es war schon später Nachmittag. Kevin knurrte der Magen. Maren saß noch immer in der Cafeteria: „Kevin, wie siehst du denn aus? Du bist aber dünn geworden und der Anzug muss auch mal wieder aufgebügelt werden.“ „Maren, das weiß ich alles selber. Ich gehe jetzt was essen, kommst du mit?“ Wortlos folgte sie ihrem Schwiegersohn. Nach dem Essen fragte Kevin vorsichtig: „Du Maren, sag mal, weißt du eigentlich in welche Werkstatt Anette ihr Auto gebracht hat? Ich muss es doch da abholen.“ Maren kramte in ihrer Handtasche und holte einen Zettel mit der Adresse heraus: „Das ist die gleiche Werkstatt, die ihr den Leihwagen zur Verfü...“ weiter kam sie nicht. Ein Weinkrampf schüttelte sie. Ein zufällig vorbeikommender Arzt nahm sie mit in das Ärztezimmer und gab ihr etwas zur Beruhigung. Kevin hätte am liebsten auch etwas eingenommen, denn tief in seinem Inneren wühlten Wut und Trauer, aber er wollte gleich zu seiner Tochter - und da wollte er nicht unter dem Einfluss von irgendwelchen Medikamenten stehen. Kevin sah, wie Maren das Ärztezimmer verließ. Man hatte ihr ein Taxi gerufen und sie nach Hause geschickt.

Leise betrat Kevin das Zimmer von Sahra. Die Kleine lag schlafend in ihrem Bett. Kevin setzte sich zu ihr und betrachtete sie. Seine Tochter war wunderschön. Ein Märchenbuch lag auf der Fensterbank, darunter befand sich ein Bilderbuch - mehr nicht. Genau so leise wie Kevin gekommen war, ging er wieder. Er eilte zum Kiosk und kaufte einen kleinen Stoffhund und eine Puppe mit echten Haaren. Als Kevin kurze Zeit später erneut Sahras Zimmer betrat, war seine Tochter wach. Mit großen Augen sah sie Kevin erstaunt an: „Wo ist Oma?“ „Die ist bestimmt schon zu Hause. Du brauchst keine Angst zu haben, jetzt bin ich ja bei dir. Und damit du nie mehr alleine bist, habe ich dir auch etwas mitgebracht.“ Kevin zog die Puppe aus der Tüte und gab sie Sahra. Schüchtern sah seine Tochter das Spielzeug an: „Danke. Müssen die Haare jeden Tag gebürstet werden, so wie bei mir?“ Kevin wackelte mit dem Kopf: „Nur, wenn sie ganz struwelig sind. Wie soll sie denn heißen?“ Kevin wurde bewusst, dass er zum 1. Mal alleine mit seiner Tochter zusammen war. „Gina. Sie heißt Gina“ hörte er Sahra sagen. Kevin lächelte: „Schätzchen, die Gina hat ihren besten Freund mitgebracht. Der soll dir helfen wieder ganz gesund zu werden.“ Sahra umklammerte die Puppe: „Ist der Arzt?“ Kevin griff erneut in die Tasche und holte den Hund heraus. „Das ist Ginas Freund.“ Ungläubig blickte Sahra erst auf den Hund und dann zu Kevin: „Ist das jetzt auch meiner?“ „Ja natürlich.“ Kevin beobachtete ihre Reaktion. Sahra strahlte: „Warum schenkst du mir das?“ „Weil ich dein Papa bin und ich dich ganz doll lieb habe.“ Kevin strich seiner Tochter über ihre Haare: „Der Hund hat auch noch keinen Namen. Weißt du einen schönen für ihn?“ Sahra überlegte: „Puma - der Hund ist bestimmt so mutig und so stark wie ein Puma.“ „Und wer weiß, vielleicht hat er ja auch ein ganz klein wenig Zauberkräfte“ versuchte Kevin die Fantasie seiner Tochter noch zu unterstützen. Er beobachtete sie, wie sie mit der Puppe und dem Hund spielte. Unvermittelt hob Sahra den Kopf und blickte Kevin an: „Du Papa, sag mal, hast du auch eine Frau und ein Kind?“ Kevin war sprachlos. Was sollte er ihr antworten? Sahras Augen blickten ihn fragend an: „Doch, ja natürlich. Meine Frau ist deine Mama. Wir sind miteinander verheiratet. Zusammen haben wir ein Kind - das bist du. Und wir haben dich alle ganz doll lieb.“ „Papa, stimmt das wirklich?“ Sahra wollte nicht so recht glauben, was Kevin ihr da erzählte. „Frage einfach mal die Oma, die weiß das auch“ versuchte Kevin Sahras Zweifel zu beseitigen. „Die Mama ist jetzt ein Engel“ flüsterte Sahra Kevin leise zu.

Die Tür ging auf und eine Schwester sah nach dem Rechten. „So, junge Dame, jetzt wird Fieber gemessen und dann wird geschlafen.“ Sie wandte sich an Kevin: „Für heute ist die Besuchszeit zu Ende.“ „Papa, kommst du morgen wieder?“ Kevin hätte am liebsten Luftsprünge gemacht - seine Tochter hatte ihn endgültig akzeptiert: „Natürlich, mein Schatz. Ich komme dich jeden Tag besuchen.“ Kevin küsste seine Tochter zum Abschied auf die Stirn und verabschiedete sich von ihr.

Kevin wusste, was er zu tun hatte. Am nächsten Tag suchte er die Werkstatt auf um Anettes Wagen abzuholen. Bestürzt und verlegen entschuldigte sich der Werkstattleiter bei Kevin. Die Inspektion ging selbstredend aufs Haus. Als Kevin Anettes Wagen sah, traf ihn fast der Schlag. Es war das gleiche Modell wie sein Auto, was er vor 5 Jahren gefahren hatte, nur neuer und mit Automatic-Getriebe. Hätte ich damals nicht das Auto gehabt, säße ich wahrscheinlich schon lange auf der Strasse. Vielleicht wäre ich auch schon nicht mehr am Leben, schoss es Kevin durch den Kopf. Dann fuhr er zum Campingplatz, räumte seine Kleidung und die Lebensmittel ins Auto und fuhr nach Buxtehude. Wenn Sahra aus der Klinik entlassen wird, wollte er mit ihr zu Hause wohnen.

Maren freute sich sehr, als sie Kevin kommen sah: „Ach Kevin, ich bin so froh, dass du wieder nach Hause kommst. Du, es gibt etwas, was wir besprechen müssen.“ Kevin war in Eile: „So, was denn?“ Maren standen schon wieder die Tränen in den Augen: „Es geht um die Beerdigung von Anette...“ schluchzte sie auf. Daran hatte Kevin noch gar nicht gedacht. Er hatte das Gefühl, als ob man ihm den Boden unter den Füßen wegzieht: „Maren, bitte! Können wir das heute Abend in Ruhe besprechen? Ich muss mir noch was vernünftiges zum Anziehen besorgen und ich habe Sahra versprochen, dass ich sie heute noch besuchen werde.“ „Sahra ist ein ganz liebes Mädchen. Lass sie nicht warten.“ hörte Kevin seine Schwiegermutter leise sagen. „Maren, wenn du willst, nehme ich dich mit.“ stimmte Kevin versöhnlich an. „Ja gerne. Warte, ich ziehe mir nur meinen Mantel an...“

Die Beerdigung war vorbei und die Trauergemeinde hatte sich zum Leichenschmaus in einem nahegelegenen Gasthaus versammelt. Erst da fand Kevin Zeit um sich mit den anwesenden Personen zu unterhalten. Vor der Beerdigung musste er sich intensiv um Maren kümmern, die fast zusammengebrochen war. Der erste, der auf Kevin zukam, war sein alter Freund Christian. Wortlos nahmen sich die beiden Freunde in die Arme. Danach stellte Christian Kevin seine Frau vor. Es folgten Erwin Striezel mit seiner noch immer im Rollstuhl sitzenden Gattin und sogar Professor Dr. Albert Maurus war neben einer ganzen Anzahl von Anettes Patienten erschienen. Der letzte, der kondolierte war Molle. Mit ihm hatte Kevin überhaupt nicht gerechnet. „Das ist mein Parzellen-Nachbar“ klärte Kevin Maren auf. Diese reagierte entsetzt: „Was? Du warst in einer Zelle im Gefängnis?“ Kevin konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er schüttelte den Kopf: „Nein, ich war nicht in einer Zelle sondern ich habe eine Parzelle auf einem Campingplatz. Auf dieser Parzelle steht mein Wohnwagen.“ Das war für Maren zu hoch. Sie konnte es einfach nicht begreifen: „In so einem Wagen kann man doch nicht jahrelang richtig wohnen!“ „Gibst du jetzt auf?“ fragte Molle betroffen. „Quatsch, Nein! Ich werde nach Möglichkeit jedes Wochenende mit meiner Tochter zusammen auf dem Platz sein. Du wirst sie bald kennenlernen.“ antwortete Kevin.

Eine Woche später konnte die kleine Sahra aus dem Krankenhaus entlassen werden. Kevin durfte ihr die Botschaft überbringen. „Sahra, was hältst du davon, wenn ich dich heute einfach mit nach Hause nehme. Soll ich das machen?“ Wider erwartend schüttelte das Mädchen den Kopf: „Das geht nicht. Die Mutti ist doch hier bei mir im Krankenhaus.“ Kevin nahm seine Tochter in den Arm: „Die Mutti möchte aber nach Hause fahren mit dir und mit mir.“ „Woher weißt du das?“ Sahra war erstaunt. „Ich habe heute Nacht geträumt, dass ein Engel mich besucht hat. Der Engel war die Mama. Sie hat mir erzählt, dass sie gar keine Lust mehr hat hier zu bleiben.“ Kevin öffnete den Spind, um ihn leer zu räumen. „Papa, hat die Mama noch etwas zu dir gesagt?“ hörte er leise die Stimme seiner Tochter. Er drehte sich zu ihr um: „Ja, sie hat gesagt, dass sie dich und mich und die Oma ganz, ganz lieb hat und irgendwann, wenn du wieder zu Hause bist, will sie dich auch mal im Traum besuchen kommen.“ Sahrah sprang aus dem Bett. Blitzschnell zog sie sich um. „Fertig! Jetzt können wir nach Hause. Ich lege mich in meinem Zimmer gleich ins Bett. Wenn ich dann ganz schnell einschlafe, träume ich dann von meiner Mama? Besucht sie mich dann im Schlaf?“ Kevin zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht. Vielleicht lässt sie sich auch noch ein wenig Zeit. Ich habe auch ganz lange warten müssen. Vielleicht geht es bei dir ja schneller - es kann aber auch sein, dass du auch noch ein paar Tage warten musst. Engel können doch nicht jeden Tag fliegen.“ „Wann fliegt meine Mami denn wieder?“ Sahra stiegen die Tränen in die Augen. „Das hat sie mir leider nicht verraten. Engel mögen uns alle gerne überraschen.“ Sahra gab sich mit Kevins Antwort zufrieden.

Aber wie würde seine Tochter wohl reagieren, wenn sie zu Kevin wieder ins Auto einsteigen musste? Diese Frage plagte Kevin als er mit Sahra an der Hand auf den Parkplatz zuging. Doch seine Bedenken waren unbegründet. Sahra plapperte munter drauflos: „Als ich letztes mal ins Auto gestiegen bin war ich ganz müde. Mama hat mich angeschnallt und dann bin ich eingeschlafen. Als ich wieder aufgewacht bin, war ich hier im Krankenhaus.“ Kevin setzte seine Tochter ins Auto, schnallte sie an und fuhr mit ihr nach Hause. Maren erwartete die beiden bereits ungeduldig. Nach dem Mittagessen fragte Sahra beiläufig: „Du Papa, wo wohnst du eigentlich?“ „Na, hier bei dir. Ich muss doch auf dich aufpassen und dich beschützen.“ Kevin blickte hilfesuchend zu Maren. Doch die war gerade mal wieder damit beschäftigt ihre Brille zu putzen. Sahra schüttelte den Kopf: „Das macht Oma doch schon.“ „Und wer beschützt Oma?“ konterte Kevin. Sahra blickte ihre Großmutter an und dann wieder ihren Vater: „Weiß ich nicht...“ Jetzt hatte Kevin Oberwasser gewonnen: „Ich beschütze dich und die Oma und dafür beschützt ihr beide mich. Bist du damit einverstanden?“ Sahra nickte mit dem Kopf: „Papa, in meinem Zimmer kannst du aber nicht schlafen und in Omas auch nicht.“ „Seitdem du ins Krankenhaus gekommen bist schlafe ich schon hier, im Schlafzimmer, gleich neben dir.“ klärte Kevin seine Tochter auf. „Nein, da kannst du doch auch nicht schlafen. Das ist doch das Bett von meiner Mami...“ Tränen kullerten Sahra über das Gesicht. „Sahra, im Schlafzimmer stehen doch 2 Betten, ganz dicht nebeneinander. Deshalb sieht das aus wie ein ganz großes Bett. Aber die Mami ist doch jetzt ein Engel und Engel schlafen nur im Himmelbett in den Wolken.“ Ungläubig sah Sahra erst ihren Vater an und dann ihre Großmutter: „Oma, stimmt das?“ Maren hatte sich bis jetzt aus der Unterhaltung zwischen den beiden herausgehalten. Jetzt allerdings pflichtete sie Kevin bei: „Dein Papa hat Recht. Außerdem hat er schon früher ganz lange mir deiner Mutti hier zusammen gewohnt - da warst du noch gar nicht geboren. Und als du noch ein Baby warst, hat der Papa hier auch noch gewohnt. Der Papa und die Mama haben beide zusammen im Schlafzimmer in dem großen Bett geschlafen.“ „Und dann sind die Menschen in einem anderen Land krank geworden und Papa musste sie da gesund machen.“ ergänzte Sahra Marens Ausführungen. „Papa, bleibst du jetzt für immer hier? Du darfst auch neben mir im Schlafzimmer schlafen...“ Kevin schloss seine Tochter in die Arme: „Ja mein Schatz, ich lasse dich nie wieder alleine.“

Kevin ging in sein Arbeitszimmer. Er öffnete das Fenster. Sein Blick ging hinauf zu den vorbeiziehenden Wolken. Er spürte den Wind in seinem Gesicht - es fühlte sich an, wie ein sanftes Streicheln. Regen tropfte zu Boden. Ein Regentropfen fiel auf Kevins Lippen - er war wie ein Kuss. Kevin flüsterte: „Anette, jetzt weiß ich endlich wohin ich wirklich gehöre. Ich liebe dich noch immer und ich werde dich wohl auch immer lieben, aber der wichtigste Mensch ist für mich jetzt unsere Tochter Sahra - doch der Preis, den wir beide dafür zahlen mussten, ist viel zu hoch. Ich muss und werde mein Leben wieder in den Griff bekommen, das verspreche ich dir. Anette, eins muss ich dir noch sagen: Ich habe dir längst verziehen.“

Kevin fühlte sich nach all den Jahren endlich frei - frei von allen Sorgen.


--- Auf Wunsch der betroffenen Personen wurden alle Namen und Orte frei erfunden.---​
 
Hallo Heidi

ich habe Deine Erzählung aufmerksam gelesen und finde sie sehr schön.
Um den Leser ‚bei der Stange zu halten‘, würde ich den Text jedoch etwas straffen. Dies gilt vor Allem für die Dialoge. Sie kommen einfach besser an, wenn sie weniger förmlich geschrieben sind.
Nichts für ungut
Willi Corsten
 



 
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