Ein MoMa - talk kurz vor Geschäftsschluss

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wowa

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Ein MoMa - talk kurz vor Geschäftsschluss


Mildred war der Junge schon länger aufgefallen. Seit ein paar Nachmittagen saß er vor diesem Picasso `Les Desmoiselles d`Avignon`, nahezu reglos, versunken, meditativ. Links innen trug er ein Stiefelmesser. Heute hatte er die Zeit scheinbar vergessen, auch die Durchsagen nicht gehört. Mildred trat neben ihn und berührte ihn leicht an der Schulter.
„Hey, Mann, Zeit zu gehen, wir schließen.“
Irritiert blickte der Junge auf und seine Rechte zuckte nach links unten.
„Willst du mich schlachten?“ sagte Mildred lächelnd.
Sie war gut sechs Fuß groß, hatte breite Schultern und kräftige Arme. In ihrer Gemeinde in Queens sang sie Alt und war eine markante Erscheinung im Kirchenchor. Mit direkten Fragen hatte sie gute Erfahrungen gemacht.
„Sorry, mam,“ sagte der Junge verlegen, „ist ein Reflex. Kann ich nix gegen machen, sitzt irgendwie drin.“
„Zeig mal,“ Mildred streckte die Hand aus. Der Junge gab ihr das Messer. Eine rasiermesserscharf geschliffene Klinge, gefährlich.
„Schon mal benutzt?“
Der Junge nickte. „Aber ich steche nie zu. Ich ziehe es einmal über den Körper. Das reicht.“
„Okay,“ Mildred gab ihm das Messer zurück, „und das Bild? Warum sitzt du hier seit drei Tagen?“
„Ich weiß auch nicht,“ der Junge schüttelte den Kopf, „es hat etwas magisches, dabei ist der Stil uneinheitlich. Die drei äußeren Figuren sind völlig anders strukturiert als die beiden Akte im Zentrum. Trotzdem wirkt die Komposition homogen.“
„Find ich auch,“ sagte Mildred, „die beiden mittleren Figuren sind noch von der altspanischen Plastik beeinflusst. Die drei äußeren jedoch mit ihren eckigen Flächen markieren den Übergang zum Kubismus. Da hat sich Picasso übrigens wesentlich von der afrikanischen Kunst inspirieren lassen.“
„Ich würde gern mal die Rückseite sehen,“ sagte der Junge.
„Die Rückseite?“
„Ja, ich hab mal gelesen, Picasso hatte die Angewohnheit, auf der Rückseite einen Entwurf zu machen, ziemlich detailliert, den er dann auf der Vorderseite realisierte.“
„Ja, stimmt, gehört habe ich das auch schon,“ Mildred nickte, „aber wir können jetzt nicht einfach das Bild abnehmen und uns die Rückseite angucken. Was meinst du, was dann hier los wäre.“
„Klar, alles elektronisch gesichert. Außerdem viel zu groß, das Teil,“ sagte der Junge.
„Aber warte mal,“ Mildred fiel etwas ein, „nächste Woche, wenn das MoMa geschlossen ist, geht das Bild nach Europa, - leihweise,“ fügte sie beschwichtigend hinzu, „und ich führe die Aufsicht. Ich nehme dich als meinen Sohn mit rein.“
„Das geht?“ fragte der Junge skeptisch.
„Das geht,“ Mildred fand die Idee immer besser, „mein Chef mag mich und für die Weißen sehen wir sowieso alle gleich aus. Die fehlende Ähnlichkeit spielt da keine Rolle.“
„Okay,“ der Junge war sichtlich erfreut.
„Also dann,“ Mildred gab ihm die Hand, „bis nächste Woche. Wir treffen uns morgens um zehn vor dem Haupteingang. Sei pünktlich. Und lass das Messer zu Hause.“
 
Hallo Wowa,
Zwei Seelen, ach, wohnen in beider Brust. Richtig gut. Mit wenigen Wörtern die Charaktere des Jungen und der Frau bildhaft gemacht. Knapp und schnörkellos geschrieben.
Ich empfinde den Text als Mahnung zur Vorsicht davor, dem ersten Eindruck zu trauen. Und auch als Hoffnungsschimmer für alle von Geburt her Benachteiligten.
Eine kleine Erbse: Du schreibst, man wolle sich "nächste Woche" treffen und nennst dann eine Uhrzeit. Der Junge kann glauben, es sei der erste Tag der Schließung gemeint. Ganz klar ist das aber nicht. Ich hätte nachgefragt.

Verweigerst du absichtlich einer neuen Kommaregel den Gehorsam? Verstehen könnt´ ich´s. Hinter abschließenden Anführungszeichen ein Komma setzen zu müssen, selbst wenn davor schon ein Frage- oder Ausrufungszeichen steht, ist auch für mich eine ästhetische und zudem überflüssige Herausforderung. Aber der Duden will es so.
Viele Grüße
Jörg
 

Hagen

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Hallo Wowa,
Zunächst mal ein Lob für Deine Geschichte.
Du verstehst es Kontraste zu setzen, Bravo!

Aber was ist das überhaupt für ein 'Laden'?
Es gehört meiner Ansicht nach unbedingt an den Anfang.
Ansonsten trete ich den 'Gelben Hühnern' solidarisch in die Seite, und hoffe, dass Du noch etwas an den Details arbeitest, die Geschihte hat's verdient!

Klär mich bitte auf, was ein 'MoMa' ist.
Ich fürchte, ein derartiger Titel wird manchen Leser abschrecken.

Wir lesen uns!

Herzlichst
Yours Hagen


allerdings:
__________________
„Wer bessern will, macht oft das Gute schlimmer.“
Ausspruch aus William Shakespeares Tragödie König Lear (I, 4); im englischen Original heißt es:
„Striving to better, oft we mar what’s well.“
 

wowa

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Hallo, Hagen, Hallo, gelbe Hühner!
Danke für euer Feed-back.
Gelbe Hühner, deine Kritik ist korrekt. Ich dachte, das MoMa habe wie europäische Museen einen Ruhetag, den beide Prot. kennen. Stimmt nicht. Das MoMa ist an 7 Tagen geöffnet. Ich werde das ändern und den Treffpunkt genauer definieren.
Hagen, das MoMa ist das `Museum of Modern Art` in New York und der Picasso, von dem die Rede ist, hängt tatsächlich da. Wer die Abkürzung nicht kennt, kann den Begriff auch googeln, das MoMa hat einen hübschen Internet-Auftritt.
Die neue Kommaregel ist mir tatsächlich nicht geläufig, muß ich mich noch mit beschäftigen.
Alles Gute
Wowa
 

wowa

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Ein MoMa - talk kurz vor Geschäftsschluss


Mildred war der Junge schon länger aufgefallen. Seit ein paar Nachmittagen saß er vor diesem Picasso `Les Desmoiselles d`Avignon`, nahezu reglos, versunken, meditativ. Links innen trug er ein Stiefelmesser. Heute hatte er die Zeit scheinbar vergessen, auch die Durchsagen nicht gehört. Mildred trat neben ihn und berührte ihn leicht an der Schulter.
„Hey, Mann, Zeit zu gehen, wir schließen.“
Irritiert blickte der Junge auf und seine Rechte zuckte nach links unten.
„Willst du mich schlachten?“ sagte Mildred lächelnd.
Sie war gut sechs Fuß groß, hatte breite Schultern und kräftige Arme. In ihrer Gemeinde in Queens sang sie Alt und war eine markante Erscheinung im Kirchenchor. Mit direkten Fragen hatte sie gute Erfahrungen gemacht.
„Sorry, mam,“ sagte der Junge verlegen, „ist ein Reflex. Kann ich nix gegen machen, sitzt irgendwie drin.“
„Zeig mal,“ Mildred streckte die Hand aus. Der Junge gab ihr das Messer. Eine rasiermesserscharf geschliffene Klinge, gefährlich.
„Schon mal benutzt?“
Der Junge nickte. „Aber ich steche nie zu. Ich ziehe es einmal über den Körper. Das reicht.“
„Okay,“ Mildred gab ihm das Messer zurück, „und das Bild? Warum sitzt du hier seit drei Tagen?“
„Ich weiß auch nicht,“ der Junge schüttelte den Kopf, „es hat etwas magisches, dabei ist der Stil uneinheitlich. Die drei äußeren Figuren sind völlig anders strukturiert als die beiden Akte im Zentrum. Trotzdem wirkt die Komposition homogen.“
„Find ich auch,“ sagte Mildred, „die beiden mittleren Figuren sind noch von der altspanischen Plastik beeinflusst. Die drei äußeren jedoch mit ihren eckigen Flächen markieren den Übergang zum Kubismus. Da hat sich Picasso übrigens wesentlich von der afrikanischen Kunst inspirieren lassen.“
„Ich würde gern mal die Rückseite sehen,“ sagte der Junge.
„Die Rückseite?“
„Ja, ich hab mal gelesen, Picasso hatte die Angewohnheit, auf der Rückseite einen Entwurf zu machen, ziemlich detailliert, den er dann auf der Vorderseite realisierte.“
„Ja, stimmt, gehört habe ich das auch schon,“ Mildred nickte, „aber wir können jetzt nicht einfach das Bild abnehmen und uns die Rückseite angucken. Was meinst du, was dann hier los wäre.“
„Klar, alles elektronisch gesichert. Außerdem viel zu groß, das Teil,“ sagte der Junge.
„Aber warte mal,“ Mildred fiel etwas ein, "nächste Woche," sie senkte unwillkürlich die Stimme, "nächsten Mittwoch ist das MoMa geschlossen!"
"Wirklich? Oh, mein Gott!" sagte der Junge geschockt.
"Das Bild wird abgehängt und nach Europa verschifft,- leihweise,“ fügte sie beschwichtigend hinzu, „und ich führe die Aufsicht. Ich nehme dich als meinen Sohn mit rein.“
„Das geht?“ fragte der Junge skeptisch.
„Das geht,“ Mildred fand die Idee immer besser, „mein Chef mag mich und für die Weißen sehen wir sowieso alle gleich aus. Die fehlende Ähnlichkeit spielt da keine Rolle.“
„Okay,“ der Junge war sichtlich erfreut.
„Also dann,“ Mildred gab ihm die Hand, „bis nächste Woche. Wir treffen uns morgens um zehn vor dem Haupteingang. Sei pünktlich. Und lass das Messer zu Hause.“
 

wowa

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Ein MoMa - talk kurz vor Geschäftsschluss (1)


Mildred war der Junge schon länger aufgefallen. Seit ein paar Nachmittagen saß er vor diesem Picasso `Les Desmoiselles d`Avignon`, nahezu reglos, versunken, meditativ. Links innen trug er ein Stiefelmesser. Heute hatte er die Zeit scheinbar vergessen, auch die Durchsagen nicht gehört. Mildred trat neben ihn und berührte ihn leicht an der Schulter.
„Hey, Mann, Zeit zu gehen, wir schließen.“
Irritiert blickte der Junge auf und seine Rechte zuckte nach links unten.
„Willst du mich schlachten?“ sagte Mildred lächelnd.
Sie war gut sechs Fuß groß, hatte breite Schultern und kräftige Arme. In ihrer Gemeinde in Queens sang sie Alt und war eine markante Erscheinung im Kirchenchor. Mit direkten Fragen hatte sie gute Erfahrungen gemacht.
„Sorry, mam,“ sagte der Junge verlegen, „ist ein Reflex. Kann ich nix gegen machen, sitzt irgendwie drin.“
„Zeig mal,“ Mildred streckte die Hand aus. Der Junge gab ihr das Messer. Eine rasiermesserscharf geschliffene Klinge, gefährlich.
„Schon mal benutzt?“
Der Junge nickte. „Aber ich steche nie zu. Ich ziehe es einmal über den Körper. Das reicht.“
„Okay,“ Mildred gab ihm das Messer zurück, „und das Bild? Warum sitzt du hier seit drei Tagen?“
„Ich weiß auch nicht,“ der Junge schüttelte den Kopf, „es hat etwas magisches, dabei ist der Stil uneinheitlich. Die drei äußeren Figuren sind völlig anders strukturiert als die beiden Akte im Zentrum. Trotzdem wirkt die Komposition homogen.“
„Find ich auch,“ sagte Mildred, „die beiden mittleren Figuren sind noch von der altspanischen Plastik beeinflusst. Die drei äußeren jedoch mit ihren eckigen Flächen markieren den Übergang zum Kubismus. Da hat sich Picasso übrigens wesentlich von der afrikanischen Kunst inspirieren lassen.“
„Ich würde gern mal die Rückseite sehen,“ sagte der Junge.
„Die Rückseite?“
„Ja, ich hab mal gelesen, Picasso hatte die Angewohnheit, auf der Rückseite einen Entwurf zu machen, ziemlich detailliert, den er dann auf der Vorderseite realisierte.“
„Ja, stimmt, gehört habe ich das auch schon,“ Mildred nickte, „aber wir können jetzt nicht einfach das Bild abnehmen und uns die Rückseite angucken. Was meinst du, was dann hier los wäre.“
„Klar, alles elektronisch gesichert. Außerdem viel zu groß, das Teil,“ sagte der Junge.
„Aber warte mal,“ Mildred fiel etwas ein, "nächste Woche," sie senkte unwillkürlich die Stimme, "nächsten Mittwoch ist das MoMa geschlossen!"
"Wirklich? Oh, mein Gott!" sagte der Junge geschockt.
"Das Bild wird abgehängt und nach Europa verschifft,- leihweise,“ fügte sie beschwichtigend hinzu, „und ich führe die Aufsicht. Ich nehme dich als meinen Sohn mit rein.“
„Das geht?“ fragte der Junge skeptisch.
„Das geht,“ Mildred fand die Idee immer besser, „mein Chef mag mich und für die Weißen sehen wir sowieso alle gleich aus. Die fehlende Ähnlichkeit spielt da keine Rolle.“
„Okay,“ der Junge war sichtlich erfreut.
„Also dann,“ Mildred gab ihm die Hand, „bis nächste Woche. Wir treffen uns morgens um zehn vor dem Haupteingang. Sei pünktlich. Und lass das Messer zu Hause.“

(1) MoMa - Museum of modern art, New York
 



 
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