Ein Nachmittag mit Fliegen

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gareth

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Ein Nachmittag mit Fliegen
(überarbeitet am 13.05.04)

Wir waren zu dritt. Werner, Guido und ich, acht Jahre alt. Wir saßen und knieten abwechselnd auf den granitenen Randsteinen der schmalen, asphaltierten Gehsteige. Die frühsommerliche Nachmittagssonne hatte sie angenehm erwärmt. Es war still um uns. Die kleinen Geschäfte, Bäcker, Metzger und Lebensmittelladen, hatten noch nicht wieder geöffnet. Aus einigen offenen Fenstern drang leises Klappern von Geschirr und man konnte einzelne Worte von Unterhaltungen hören. Von den nahe gelegenen Handwerksbetrieben hörte man Hämmern und von weit her das leise und verhallte Kreischen einer Kreissäge. Ich liebte alle diese kleinen, friedlichen Geräusche. Sie gehörten für mich zu jedem dieser Nachmittage nach der Schule, so lange ich mich zurückerinnern konnte.

Wir waren auf Fliegenfang. Jeder auf seine Weise. Werner in seiner typischen, kraftvollen Art. Alle Muskeln angespannt, notwendig oder nicht. Guido ehrgeizig, aber eher linkisch, mit bekannt niedrigen Fangquoten. Ich eher der geduldige Typ, der Misserfolge als Teil des Systems in Kauf nimmt. An der Ecke vor der Metzgerei verteilt, suchten wir aufmerksam, mit sehr langsamen Bewegungen die Gehsteige ab. Unsere Gasse war eine der kleinen Altstadtgassen, nicht viel länger als hundert Meter und höchstens vier Meter breit, von einer Häuserwand zur anderen. Dem einen Ende der Gasse gegenüber stieß man auf das Schiff unserer Kirche. Das andere Ende bildete eine Querstraße mit einer durchgehenden, hohen Sandsteinmauer auf der gegenüber liegenden Seite. Dort würde unser Tun seinen Abschluss finden.

Man soll nicht annehmen, es sei einfach, Fliegen zu fangen. Sie zu töten ist leicht. Aber es geht darum, sie in die Hand zu bekommen. Als Erwachsene wissen wir meist zu erklären, wie es gemacht werden muss, können es aber nicht. Kinder fangen sie. Jedenfalls wir als Kinder haben sie gefangen. Die Jagd ging normaler Weise so lange, bis jeder von uns eine Fliege in der geschlossenen Faust hatte. Lebend, körperlich unversehrt und frei beweglich. Das Verletzen oder gar Zerdrücken der Gefangenen galt als unprofessionelle Stümperei und war verpönt.

Werner hatte die erste. Aber man sah, dass er sich nicht ganz sicher war. Er hielt seine Hand ans Ohr. Schüttelte sie. Lauschte dann wieder und schüttelte den Kopf. Er hätte nun seine Hand öffnen können. Aber, zu keiner Geste des Großmuts bereit, nicht willens, seinem Opfer eine Chance einzuräumen, schmetterte er sie auf den Boden. Er war überrascht, dass da wirklich eine Fliege war. Sie drehte sich verletzt und halb betäubt auf dem Asphalt und er zertrat sie.

Guido hatte als nächster Erfolg. Aber auch er spürte nichts in seiner Faust und schüttelte sie. Nach einer Weile lockerte er den Griff und öffnete dann langsam die Hand. Zwischen seinen Fingern klemmte die zerdrückte Fliege. Für einen Moment verzerrte sich seine Miene in Angst und Ekel und er schüttelte sie mit ausgestrecktem Arm und mit gespreizten Fingern von der Hand, das Gesicht abgewandt.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich meine fing. Sie hatte sich genau vor mir auf einem der Randsteine des Gehsteigs nieder gelassen, ohne in mir eine Gefahr zu sehen. Sie saß erst still in der Sonne, dann rieb sie sich zuerst in aller Ruhe die Vorderbeine, kratzte sich unter erheblichen Drehungen des Kopfes im Genick und putzte sich dann mit routinierten, kraftvollen Bewegungen ihre Flügel, die sie dabei verdrehte und erstaunlich weit nach oben bog. Ich saß reglos vor ihr, meine Hand nicht weiter als zwanzig Zentimeter von ihr entfernt. Gegenlicht und Gegenwind. Sie fühlte sich sicher. Und unter anderen Umständen wäre sie das auch gewesen. Sie konnte nicht wissen, dass ich heute mit Werner und Guido zusammen war.
Ich überraschte sie. Sie tobte in der engen Höhle meiner Hand herum und versuchte mit allen Mitteln zu entkommen. Ich spürte das Schwirren ihrer winzigen, sanften und doch festen Hautflügel an meiner Handfläche. Vorsichtig hob ich den Daumen an und im gleichen Augenblick drängte sie sich, klein und dunkel, mit einer erstaunlichen Kraft und einem enormen Durchsetzungswillen schnell durch die engste Lücke ans Licht.
Ich erwischte sie zwischen Daumen und Zeigefinger an beiden Flügeln. Nach kurzer Gegenwehr hielt sie ihre Beine still. Sie fand sich rasch ab und wir erhoben uns, um sie ihrem Schicksal zuzuführen.

Wir erreichten die Mauer. Es wurde nicht gesprochen. Es war uns sehr genau bekannt, wo der kleine Hohlraum zwischen den Mauersteinen war. Es bedurfte keiner Suche. Ich schob die Fliege in die Höhle hinein. Einige Zentimeter im Inneren begannen die Spinnweben. Unregelmäßige, wilde Gespinste waren überall gewebt. Von der Decke schräg zu den Wänden und auch von Wand zu Wand. Als ich die Fliege, mit den Beinen voran, langsam in die zunehmende Dunkelheit schob, begann sie wieder zu strampeln. Ich drückte sie in eines der Netze. Ihre Beine verstrickten sich und ich ließ sie los.
Werner und Guido drängten an mich heran. Unsere Gesichter berührten sich fast. Wir warteten gespannt und starrten ins Innere der kleinen, dunklen Höhle. Die Fliege versuchte immer wieder in verzweifelten, summenden Anfällen, ihre Beine aus den Fäden frei zu bekommen. Dann sagte Werner leise: "Da kommt er". Aus der Dunkelheit kam rasch ein Weberknecht hervor, der bei uns 'der Schneider' hieß. Er bestand fast nur aus Beinen. Mit seinem winzigen, hellen, rundlichen Leib und ungeheuer langen, fadendünnen Beinen stakste und wippte er auf die Fliege zu und packte sie. Jetzt wehrte sie sich noch einmal; raste verzweifelt gegen die Fesseln an. Der Weberknecht arbeitete unbeirrt. Blitzschnell hatte er sie gefesselt und in sein Gespinst eingerollt. Und dann ließ er die Bewegungslose liegen, wandte sich um und verschwand wieder in der Tiefe seiner Höhle.
Aus der Fliege war ein armseliges, weißliches Paket geworden. Wir starrten es an. Es lag da jetzt still in dem klebrigen, schmutzigen Fadengewirr. "Ist sie tot?" fragte Guido. "Kaum", sagte Werner, "von was?" Wir wussten es nicht. Das Bündel lag unbeweglich. Ich starrte es an; spürte mein Herz schlagen. Heiße Reue steig in mir auf. Ich versuchte, mir nicht vorzustellen, wie die Todgeweihte ihre abnehmenden Kräfte immer und immer wieder, ohne jede Wirkung gegen die Fesseln stemmte, mit dem wilden Sehnen nach Sonne und Freiheit in ihrem winzigen Fliegenherzen. "Verzeih mir", flüsterte ich. Sie rührte sich nicht. Werner sah mich von der Seite an. Ich wandte mich ab. "Mistvieh", sagte ich.

Wir gingen Fußball spielen und vergaßen die Fliege. Auch ich. Doch nicht für immer.
 
lieber gareth

ich wertete eine 6 und der text dazu ist wörtlich zu nehmen "das werk hat etwas, mit etwas zusätzlicher mühe, könnte es gut werden".
das "wir" gibt es entschieden zu oft nacheinander und im ersten absatz, nehme ich beim lesen abstand, weil von "man" die rede ist.
die jungenhafte nachmittagsstimmung hast du gut rüber gebracht und auch die spannung des fliegenfangens.
am ende hätte ich persönlich gern noch etwas mehr gehabt. warum hast du sie nicht für immer vergessen, wann fiel sie dir wieder ein? sollte dies deiner ansicht nach schon in der geschichte sein, ist es zu unsichtbar. es fehlt also ein wenig konsequenz am schluss.
ein wenig mehr bindewörter würden dem text nicht schaden.
schreibfehler hab ich auch ein paar endeckt:
- lebensmittelläden statt Lebensmittelladen
- kraftvollen Art statt karftvollen Art
 

gareth

Mitglied
Liebe Freifrau,

danke für die Beschäftigung mit der Geschichte. Ich werde Deine Hinweis ernst nehmen und versuchen, den Text zu überarbeiten. Das -wir- scheint mir jetzt auch allzu häufig zu sein. Was die Konsequenz am Schluss betrifft, war ich überzeugt, dass sie auch in der knappen Darstellung deutlich sei. Aber auch das werde ich nochmals durchdenken. Den einen Schreibfehler kann ich sofort tilgen, aber was die Lebensmittelläden betrifft, so ist es nur ein einziger gewesen :eek:)

Liebe Grüße
 

gareth

Mitglied
mir eigentlich auch, Freifrau,

es ist jetzt wieder ein gewöhnliches Fliegenherz :eek:)
Danke fürs erneute Lesen.
Und freundliche Grüße
 



 
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