Ein Requiem

Horstingo

Mitglied
Die alte Eiche auf dem Kirchplatz
(Ein Requiem)
Mein lieber, treuer Freund, der Du mir seit frühester Kindheit täglich begegnetest. Wenn ich frühmorgens mein Haus verließ, markiertest Du fast genau die Hälfte meines Schulweges. Niemals hätte ich an Dir vorbeigehen können, ohne daß meine Hand Dich zum Gruß berührte. Auch am Mittag eilte ich zu Dir, um Dir zu sagen, daß die Schule endlich vorüber ist. Manchmal glaubte ich, daß auch Du aufatmetest.
Obwohl die deutsche Sprache sagt, daß Du feminin bist, so warst Du doch mein Freund, nicht meine Freundin. Die Beziehungen zu meinen Freundinnen hatten einen anderen Charakter. Sie waren triebhaft-einseitig und deswegen oberflächlich, flach und unharmonisch. Es waren keine Freundschaften. Auch die Liebe zu meiner Ehefrau und zu meinen Kindern unterscheidet sich sehr von dem Verhält­nis, das ich zu Dir hatte und immer noch habe. Freund­schaft und Liebe liegen eng beieinander und sind doch weit voneinander entfernt. Freundschaften zu meinen Geschlechtsgenossen waren Kameradschaften und Sport­freundschaften. Manchmal auch Durchausfreundschaften, Kollegialitäten, die Wettbewerbe oder Überlegenheitsbe­werbe waren, bei denen ich dann und wann auch unterlag. Bei Dir verlor ich nie. Ich gewann.
Geschäftsfreundschaften sind Wertfreundschaften ohne Wert. Eine Freundschaft ist wertfrei, gleichzeitig jedoch ist ihr Wert unschätzbar. Freundschaft duldet keinen Widerspruch, obwohl sie davon lebt. Freundschaf­ten zwischen Menschen, auch zwischenmenschliche Bezie­hungen genannt, sind oft wechselhaft und wenig bestän­dig. Sie unterliegen vielfältigen Veränderungen, denen sie nicht widerstehen können. Sie sind dann nur ver­meintliche Freundschaften. Man kann mit ihnen nicht rechnen. Sie sind oft unberechenbar und enttäuschend. Wo das Element des Vertrauens fehlt kann keine Freund­schaft entstehen. Zu Dir konnte ich Vertrauen haben. Du warst stetig. Unsere Freundschaft war unerschütterlich, weil Du unerschütterlich warst. Nur einmal wurdest Du erschüt­tert, von der Natur, obwohl Du ein Teil davon warst. Sie hat nach Deinem Leben getrachtet und Dich beinahe getötet. Wir, Deine Freunde, pflegten Deine Wunde. Ein Balsam aus Erde ließ Dich gesunden. Wir umgaben Dich mit einem Fundament aus Stein, was Dich sicher einen­gte, Dir aber Halt gab, denn Du solltest leben. Obwohl Du schon über 200 Jahre alt warst, ließen wir Dich nicht gehen. Wir brauchten Dich. Du spendetest uns Schatten. Du warst eine Stütze voller Lebenskraft und das Tagebuch unserer Namen. Du warst Zeuge für Verspre­chen und Geständnisse, für Wahrheit und Lüge. Unter Dir und an Dir wurden Bünde geschlossen und gelöst. Du kanntest unsere Freude und Trauer. Dir vertrauten wir unsere Geheimnisse an.
Mein Verhältnis zu Dir, war so, wie ich es gerne zu meinem Vater oder zu einem Patenonkel gehabt hätte. An Dich konnte ich mich anlehnen. Du schenktest mir Trost und neue Energie.
Du warst nicht nur die Zierde des Kirchplatzes und des nahen Gotteshauses. Du warst auch ein Symbol für Be­ständigkeit, Treue und Glauben.
Den vorchristlichen Germanen warst Du, die Eiche, heilig. Du bist entstanden, als das Kirchengebäude entstand. Das Herz muß Dir geblutet haben, als Du spürtest, daß Du den Christenmenschen im Wege warst. Du wurdest der Ehre Gottes geopfert, sagten sie. Die Christenmenschen, die Frevler, opferten Dich. Sie töteten Dich auf die gleiche Weise, wie Heiden ihrem Götzen ein Blutopfer brachten, bevor sie einen Tempel bauten. So opferten Dich die Christenmenschen, um auf Deinem Platz ihr Gemeindehaus zu errichten.
Mein guter, treuer Freund, der Du unsere Kindheit und Jugend warst, der Du uns kanntest, wie uns keiner kannte. Du warst einer von uns, der uns genommen wurde. Mit Deinem Tod ist ein Teil von uns gestorben.
 



 
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