Ein Sommer lang

Ludowika

Mitglied
Einen Sommer lang

Vor einer Bank am Waldrand bleibt Konrad stehen. Sein graues Haar ist naß vom Regenschauer, der ihn auf einem Spaziergang mit seinem Hund überrascht hat. Die letzten Tropfen schüttelt er vom Mantel und zieht aus einem Beutel ein großes Taschentuch hervor, mit dem er auf der Bank einen Platz trockenreibt. Hier ruht er aus und läßt Erin-nerungen zu.
Arco, ein Neufundländer mit mattschwarzem Fell, kennt die Bank, legt sich daneben und schaut seinen Herrn an.
Wie schön wäre es, wenn ich Marlene noch einmal in den Arm nehmen könnte, denkt Konrad. Vor einem Jahr saß sie noch hier neben mir. Unsere Zukunft war voller Hoffnung und Pläne. Und nun bin ich alleine. Verstohlen wischt er mit dem Handrücken ein paar Tränen fort.
Arco sieht ihn weiter aus tiefsitzenden, dunkelbraunen Augen an und legt den Kopf auf Konrads Beine, der ihm über den Rücken streicht und langsam Frieden findet. So sitzt er da, malt Figuren in den Sand, stopft die Pfeife und bläst Kringel in die Luft, sieht den davoneilenden Wolken nach und schickt ihnen seine Wünsche und Träume hinterher.
Tief in Gedanken versunken, bemerkt Konrad den kleinen Waldbewohner nicht gleich. Aber der Hund hat ihn gesehen. Er sitzt kerzengerade und beobachtet die Sprünge des zotte-ligen Wesens, das aus großen Perlaugen zu ihnen herschaut.
„Nanu, wer bist du denn?“ fragt Konrad leise, um das Tierchen nicht zu erschrecken. „Mal sehen, ob ich etwas für dich habe.“ Er greift in die Hosentasche, bringt ein Stück trockenes Brot zum Vorschein und bricht es in zwei Teile. Blitzschnell springt das Eichhörnchen dazu, schnappt nach dem angebotenen Leckerbissen und flitzt den nächsten Baumstamm hinauf. Arco will hinterherlaufen, doch Konrad hält ihn zurück. „Komm her, für dich habe ich auch ein Stück.“ Schade, denkt Konrad, daß die schönen Augenblicke immer so schnell vergehen. Er steht auf, knöpft seinen Mantel zu und spaziert mit Arco an der Leine nach Hause.
Eine dichte Ligusterhecke trennt das Grundstück, auf dem sie leben, vom angrenzenden Wald. Arcos Lieblingsbeschäftigung ist Buddeln. So auch an diesem Tag. Während der Sand in hohem Bogen unter seinen Pfoten fortfliegt, hüpft etwas ins Loch. Erschrocken springt der Hund zurück, um aus sicherer Entfernung den Eindringling zu beäugen. Es ist ein kleines braunes Etwas, das ihm bekannt vorkommt, und er läuft freudig zu ihm hin. Das Eich-hörnchen vom Waldspaziergang bleibt ruhig vor ihm sitzen und schaut ihn neugierig an. Er will es nach Hundemanier beschnuppern, aber das läßt es nicht zu. Schnell springt es auf den nächsten Baum und verschwindet wieder.
Jeden Tag, wenn Konrad mit Arco in den Wald geht, begegnet ihnen Zottel, so haben sie den kleinen Waldgeist genannt. Er wartet schon, läuft mit ihnen nach Hause und hält ganz still, wenn Arco ihn mit seiner Zunge beleckt. Der alte Mann hat seine Freude an dieser ungewöhnlichen Tierfreundschaft. Als Zottel auch nachts nicht mehr in den Wald will, sucht Konrad nach einem geeigneten Platz für den Gast. Von einem uralten Baum ragt ein dicker Zweig bis in seinen Garten hinein. Dort wird das Tierchen bleiben wol-len, überlegt er und füllt ein morsches Astloch mit abgenagten Zweigen, Moos und Gras aus. Das Eichhörnchen springt neugierig ins gemachte Nest. Der Hundeplatz gefällt ihm jedoch besser. Neben den Nüssen von Konrad schmeckt ihm auch das Futter aus Arcos Napf sehr gut. So leben sie einen Sommer lang zusammen.
Bis zu dem Herbstmorgen, an dem Arco Zottel wie gewohnt ablecken will. Das Nachtlager ist leer. Arco schnuppert den ganzen Garten ab. Doch Zottel ist fort.
Konrad tut alles, um den Hund abzulenken. Sie machen weite Spaziergänge durch den Wald, in der Hoffnung, Zottel zu begegnen. Und immer wieder warten sie an ihrer Bank.Nun muß der Mann seinen Hund trösten, der immer stiller wird. Er liegt vor seiner Hundehütte und trauert der Sommerliebe nach oder sucht den Garten nach Zottels Spuren ab. Verge-bens. Oft bleibt er vor dem Astloch stehen und sieht hinein. Zottel bleibt unsichtbar.
Inzwischen haben sich die Bäume herbstlich bunt gefärbt. Viele Blätter bedecken den Boden und verlocken Arco, sie in altgewohnter Weise aufzuwirbeln und mit ihnen zu spielen. Plötzlich hört er mitten im Spiel ein bekanntes Geräusch. Er springt zur Seite und zittert vor Freude, denn vor ihm sitzt Zottel, die ihren Nachwuchs mitgebracht hat. Stolz wedelt sie mit ihrem dicken buschigen Schwanz und führt Arco ihre Kinder vor. Drei muntere Wollknäuel hüpfen um sie herum. Arco sieht nur Zottel und will ihr Fell beschnuppern. Aber die alte Vertrautheit ist fort. Zottel flitzt mit ihren Jungen blitzschnell bis in die Baum-spitzen und beobachtet von dort den Hund. Ein verdutzter Arco bleibt zurück. Als nichts mehr vom Eichhörnchen und seinen Jungen zu sehen ist, wird er wütend, bellt laut und springt am Baumstamm hoch. Ungläubig schaut er immer wieder nach oben, legt sich vor den Baum und wartet geduldig auf Zottel. Konrad versucht ihn abzulenken, streicht ihm liebevoll übers Fell, bis Arco das Warten auf-gibt.
Er tröstet ihn: „Zottel ist nun mal ein Waldtier, das die Bäume liebt und gerne in den Ästen herumtollt. Du bist ein Hund, liebst deine Hütte und den Garten und gehörst zu mir.“ Während Konrad noch mit dem Hund redet, dreht dieser sich um, rast wild durch das Laub, bellt und läuft heim. Konrad schüttelt ungläubig den Kopf. „Da glaube ich meinen Hund zu kennen,“ murmelt er und folgt ihm nachdenklich. Arco liegt in seiner Hundehütte, kaut genüßlich an einem Knochen und begrüßt schwanzwedelnd seinen Herrn. Kurze Zeit später folgt er ihm ins Haus.
Zwei Freunde schauen sich an.
 



 
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